von Felix Duček
So lächerlich der Titel der Veranstaltung zunächst auch anmuten mag: Er passt hervorragend in eine derzeit offenbar laufende Offensive, endlich wieder am deutschen Wesen die Welt genesen zu lassen. Da klingt die Einleitung des Moderators Dietmar Ringel vom Inforadio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) zunächst noch erstaunlich sachlich und moderat. Das war wohl auch Absicht. Er leitet die Aufzeichnung der Gesprächsrunde professionell und führt mit hoffnungsvollen Fragen ein:
Muss Deutschland mehr internationale Verantwortung übernehmen?
Was heißt denn mehr Verantwortung?
Mehr Geld für die Rüstung ausgeben? Sich am Krieg in Syrien beteiligen?
Heißt das, sich in der UNO für Abrüstung einzusetzen?
Heißt das, dafür zu sorgen, dass sich Russland und der Westen nicht weiter entfremden?
So richtig und wichtig diese Fragen zunächst auch klingen, so sehr erstaunt die Auswahl der Beteiligten an deren Erörterung. Wer diskutiert dort über diese wichtigen Fragen mit wem, vor wem und für wen?
Das Bundespresseamt als Echokammer
Die Ernüchterung folgt bei genauerem Hinsehen schnell. Zwar wäre es erfreulich, das Für und Wider dieser Fragen wirklich kontrovers und ganz freimütig zu diskutieren, erst recht an diesem elitären Ort in Berlin-Mitte, dem Bundespresseamt. Doch Entwarnung: Man blieb – vielleicht bis auf den Moderator Dietmar Ringel als Gast, wie später noch anzumerken wäre – erkennbar ganz "unter sich". Denn man ist nicht nur sicher aufgehoben im Bundespresseamt – um keine Störenfriede zuzulassen, nur mit Personen- und Taschenkontrollen –, man ist auch in der illustren Runde der Deutschen Atlantischen Gesellschaft (DAG), mehrheitlich ergrauter Eminenzen, denen das deutsch-amerikanische Verhältnis naturgemäß ganz außerordentlich am Herzen liegt. Der Abend findet also gewissermaßen in einer Echokammer vor einem Kreis eingeladener und angemeldeter Zuhörer statt, auch wenn der letzte Veranstaltungsteil dann ausnahmsweise für den rbb mitgeschnitten wird.
Der Moderator bedankt sich zu Beginn der Rundfunkaufzeichnung zunächst artig bei der Deutschen Atlantischen Gesellschaft als Veranstalter für die Einladung. Diese kommt übrigens sehr oft und sehr gern im Bundespresseamt zusammen und wird von Letzterem institutionell gefördert – sprich finanziert. Und so haben beide sogar die gleiche Postanschrift. Diese Gesellschaft ist ein eingetragener Verein, deren Mitglieder momentan offenbar aus einer Mischung zwischen distinguierter Wut und nostalgischer Trauer über das zerrüttete Verhältnis der Mächte beiderseits des Atlantiks hin- und hergerissen sind. Ganz offiziell hat sie sich mit bundesweit über 150 Veranstaltungen im Jahr zur Aufgabe gemacht, "das Verständnis für die Politik und die Ziele des Atlantikpaktes mit Blick auf aktuelle außen- und sicherheitspolitische Fragestellungen in der Öffentlichkeit zu vertiefen".
Kurzum, die DAG ist ein öffentliches Sprachrohr der NATO, und mit der hier kommentierten Veranstaltung macht sich auch das Format Inforadio Forum des rbb ebenfalls ganz unverschämt zu einem NATO-Sprachrohr. Endlich einmal auch neue, differenzierte Töne aus jenem Bundespresseamt zu vernehmen, wäre zwar an sich sehr interessant gewesen. Allerdings war das bei den geladenen Experten kaum zu erwarten. Auch weil die beiden Schuldigen – mittlerweile auch der zweite, in den USA verortete – landauf, landab und tagtäglich am Pranger stehen, müsse sich also endlich "Old Europe", also besser gesagt der "demokratische Wertewesten", aufraffen. So wird denn übrigens auch dieses Podiumsgespräch auf der Webseite der DAG mit der ultimativen Feststellung – oder Drohung? – beworben: "Deutschlands Außenpolitik ist besser als ihr Ruf."
Experten unter sich
Schon die Begrüßung und Einführung in den Abend durch das Mitglied der Gesellschaft Seine Exzellenz a. D. Dr. Klaus Scharioth – vor der eigentlich angekündigten Buchbesprechung und anschließenden Podiumsdiskussion – ließ die Marschroute erahnen. Er nutzte seinen zehnminütigen Auftritt zur "Begrüßung" gleich mal zu einem Koreferat vorab, noch bevor es zur Buchbesprechung in Form einer Laudatio für den Buchautor kam. Das ist auch gar kein Wunder bei der langen Karriere von Dr. Scharioth, der bereits sogleich nach seinem Abitur in Essen ein Jahr als Rotary-Stipendiat am College of Idaho in Caldwell studierte. Mit seinem ersten juristischen Staatsexamen nach Studium in Bonn, Freiburg und Genf zog es ihn sogleich wieder in das Land der unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten. Nun, 1975, unter anderem – und später immer wieder – an die Fletcher School of Law and Diplomacy, wo er allein drei Abschlüsse bis hin zum Doktor der Philosophie erwarb. Die Fletcher School of Law and Diplomacy in Medford ist vielleicht nicht jedem so bekannt wie das MIT oder Harvard, befindet sich aber wie diese in Massachusetts. Und man sollte sie kennen, denn sie ist eine Art Kaderschmiede, wie man sie im früheren Ostblock nach 89/90 gern entlarvt hatte.
Das kann man erkennen, wenn man die Namen anderer Absolventen erfährt: Auch der Diplomat Konrad Seitz und Wolfgang Ischinger von der Münchner Sicherheitskonferenz haben dort studiert, ebenso viele spätere Botschafter der Bundesrepublik Deutschland und z.B. der ehemalige griechische Premierminister Kostas Karamanlis. Und – last, but not least – nicht nur lehrt der pensionierte Klaus Scharioth dort heute noch als Professor, der Dekan der Fletcher School ist der ehemalige Admiral der US Navy und von Amts wegen auch hierzulande wohlbekannte James Stavridis, der von 2009 bis 2013 Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) war, also den stets von einem US-General besetzte Posten des Militärischen Oberkommandierenden der NATO in Europa bekleidete. Bereits während dieser Studienzeit begann Dr. Scharioth seine Berufskarriere im Auswärtigen Amt und diente bis zur Pensionierung als Diplomat, u.a. von 2006 bis 2011 als deutscher Botschafter in den USA. Im Übrigen deckten sich seine lobenden und mahnenden Worte über das zu diskutierende Buch weitgehend mit den später für den Rundfunk aufgezeichneten Wertungen der Diskutanten auf dem Podium.
Zunächst aber durfte – vor der Rundfunkaufzeichnung – Dr. Norbert Röttgen mit seiner kritischen Laudatio für das Auditorium noch einige seiner Kernaussagen verdeutlichen und vertiefen, bevor die Podiumsdiskussion begann. Der Aufzeichnung des rbb, die erst eine Dreiviertelstunde später begann, durften am letzten Sonntagvormittag auch interessierte Rundfunkgebührenzahler nachträglich beiwohnen.
Auf dem Podium war Scharioth dann nicht mehr vertreten, dort diskutierten öffentlich Röttgen, Jürgen Trittin und der Buchautor Professor Stefan Fröhlich, moderiert von Dietmar Ringel.
Der CDU-Abgeordnete Röttgen scheint als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag in den letzten Tagen nicht müde zu werden, öffentlich und zunehmend aggressiv die außenpolitische Führungsschwäche Deutschlands und also insbesondere der deutschen Bundesregierung zu kritisieren. In den letzten Tagen will er offenbar in möglichst vielen Medienformaten in der Art eines Oberlehrers für bessere Außen- wie auch Sicherheitspolitik sowohl dem Außenminister als auch der Bundesverteidigungsministerin Paroli bieten. Und es scheint so, als halte er die Zeit für gekommen, damit auch späte Genugtuung gegenüber Angela Merkel für seinen unvermittelten Rauswurf als Bundesumweltminister im Jahr 2012 – nach seinem Wahldebakel in NRW – zu erlangen. Alte Rechnungen zu begleichen scheint derzeit wieder besonders in Mode zu kommen, wie man auch bei Friedrich Merz den Eindruck hat.
Zweiter Diskutant auf dem Podium war Jürgen Trittin von den Grünen, der als ehemaliger Bundesumweltminister vorgestellt wird. Aha, denkt man für einen Moment: Geht es hier vielleicht also doch auch ums Klima im weiteren Sinne, etwa gar um ein besseres Klima zwischen Deutschland und Russland? Das wäre zwar ganz toll, bleibt aber eine unerfüllte Hoffnung, denn auch Trittin ist hier "nur" als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages zugegen, gewissermaßen als Beisitzer des Ausschussvorsitzenden Röttgen.
Und natürlich durfte auf dem Podium Stefan Fröhlich nicht fehlen, Professor für Internationale Politik und Politische Ökonomie von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Autor des Buches mit dem einen Hauch von Magie verströmenden Titel "Das Ende der Selbstfesselung – Deutsche Außenpolitik in einer Welt ohne Führung".
Das ist zwar nur ein dünnes Bändchen mit 166 Seiten, das bereits am 15. April beim Springer-Verlag erschien und von Amazon mit dem BILD-Bestseller-Emblem beworben wurde, obwohl das Buch es selbst in der Sparte "Außenpolitik" seither nur auf den 136. Rang schaffte. Aber in dem insgesamt eher schmalen Œvre dieses Autors ist das nicht so ungewöhnlich. Auch sein voriges Werk von Anfang 2014: "Die Europäische Union als globaler Akteur" – offenbar ein Studienbuch für "seine" Studenten in Erlangen/Nürnberg – landete in dieser genannten Rubrik bisher nur auf Platz 245. Und für all seine Werke, die bei Amazon noch reichlich verfügbar sind, kann jeder Interessierte noch immer "die erste Rezension schreiben", selbst für die Würdigung Helmut Kohls in der deutlich dickeren Broschüre "Auf den Kanzler kommt es an" aus dem Jahre 2001.
Eine Laudatio als Marschrichtung
Damit die anschließende Diskussion nicht sogleich in eine völlig falsche Richtung abgleitet, hat bereits Röttgen als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag der Podiumsdiskussion sicherheitshalber seine Buchkritik vorangestellt, sodass sowohl den Podiumsdiskutanten als auch den Zuhörern gleich klar ist, welche wunden Punkte oder fragwürdigen Thesen in dem Buch seiner Meinung nach zu diskutieren sind. Er habe das Buch wirklich auch mit Interesse gelesen, wenn auch nicht, wie sein Vorredner Dr. Scharioth betonte, als willkommene Ablenkung im ansonsten drögen Transatlantikflug von Washington zurück nach Europa.
Röttgen steigt sogleich mahnend mit seiner Meinung nach treffenden Zitaten aus dem abschließenden Resümee des Büchleins ein, in dem komprimiert die ganze Dramatik zusammengefasst wird. Dass nämlich in existenzieller Weise heute nicht nur die innere Verfasstheit der westlichen Demokratien auf dem Spiel steht, sondern diese auch noch mit einer Lähmung ihrer Handlungsfähigkeit nach außen untrennbar verbunden sei.
Im Grunde geht es an diesem Abend um einen Rundumschlag an vier Fronten:
* gegen einen undankbaren, die Welt der Führungslosigkeit überlassenden US-Präsidenten,
* für die Wahrung und Fortentwicklung eines Völkergewohnheitsrechtes, das "humanitäre Interventionen" doch endlich anerkennen und rechtfertigen möge, selbst wenn viele Völker dieser Erde derer überdrüssig geworden sind, selbst in den USA und Westeuropa,
* für ein starkes und zunehmend global agierendes "Kerneuropa", trotz immer offener sichtbarer Interessengegensätze innerhalb der EU, und (last, but not least)
* insbesondere für ein wirtschaftlich wie militärisch viel stärkeres Auftreten der deutschen Außenpolitik.
Oder, wie es Röttgen gegen Ende zusammenfasst:
Die Außenpolitik der Europäer zu entdecken, wäre nach meiner Einschätzung ein Beitrag zur Stabilisierung auch der Gesellschaften. Man kann es ja auch einmal positiv sehen, indem europäische Staaten ihren Bürgern zeigen würden: Es macht einen Sinn, warum wir da sind. Wir können nämlich etwas bewirken. Aber das muss man leider sagen, hier muss man konstatieren: Diese Regierungspolitik, diese Regierungen, die das so machen, die gibt es nicht. Und das ist auch in den letzten Monaten nicht besser geworden. Das ist keine Frage, und das ist ein dramatischer Zustand der europäischen Situation, muss ich leider sagen.
Interessant sind bei alledem auch die Begrifflichkeiten. Es wird an dem Abend von allen Akteuren viel über den verloren gegangenen Multilateralismus geredet. Gemeint ist damit aber nicht etwa eine multipolare, nicht der Hegemonie der USA unterworfene Weltordnung, sondern eher eine Nabelschau: das fortgesetzte Bedauern über einen unsäglichen derzeitigen US-Präsidenten, der die willige Gefolgschaft diverser großer und kleiner Verbündeter aus der Vergangenheit oft so unberechenbar wie brüsk in Frage stellt oder gar undankbar abstraft und sanktioniert. Multilateralismus innerhalb der Wertegemeinschaft kommt also abhanden, beiderseits des Atlantiks wie auch innerhalb "Kerneuropas", gemeint ist die EU. Und immer wieder wird scharfe, ja schärfste Kritik an der gegenwärtigen deutschen Außenpolitik geübt, die klare Zeichen der Selbstfesselung aufweise, freilich ohne Namen zu nennen. Die Personaldebatten werden ja mittlerweile für aufmerksame Beobachter schon öffentlich und medial geführt.
Aber der Autor des Buches sagt auch klar:
Nun, das ist natürlich ein Prozess. (…) Was bedeutet eigentlich 'Ende der Selbstfesselung'? Man will natürlich mit so einem Buch provozieren, eine Debatte auslösen. Das war auch meine Intention. Diesem Ende der Selbstfesselung müsste man also insofern immer natürlich ein 'Aber' hinzufügen (…), wo wir vielleicht (…) von einem solchen Ende der Selbstfesselung sprechen können, die ich (…) trotz allem als einen Appell und ein Plädoyer auch betrachte, auch mit Blick auf die Debatte, die wir in diesem Land führen. Also insofern (…), dass es Luft nach oben gibt und dass es Entwicklungspotenzial gibt und dass wir deswegen noch längst nicht am Ende angelangt sind.
Trittin gibt seinen Einstand in der Runde mit einem zünftigen Bonmot, das unfehlbar einfach dankbare Heiterkeit auslöst:
Ich finde, man sollte die Selbstlähmung durch einen inaktiven Außenminister, die wir aktuell erleben, nicht mit Selbstfesselung gleichsetzen.
Professor Fröhlich muss man dennoch – trotz aller markigen Provokationen, um Gutes zu bewirken – zugutehalten, dass er bisweilen für den "Wertewesten" unangenehme Wahrheiten brutal eingesteht, vor allem den Gegensatz zwischen ihren "Werten" und dem Völkerrecht. Auch wenn er sogleich aus demselben Grunde postuliert, dass sich das Völkerrecht eben – im Sinne eine Völkergewohnheitsrechts – fortentwickeln muss und auch tatsächlich fortentwickelt:
Das ist immer interpretierbar, und Völkerrecht ist auch bekanntermaßen – es gibt das Völkergewohnheitsrecht – vielleicht auch dehnbar. (…) Und die humanitäre Intervention und die Schutzverantwortungsklausel aus dem Jahr 2005 der Vereinten Nationen, die wir mit unterschrieben haben, die wir unterstützen, ist genauso ein Beispiel dafür, für eine Ausweitung, eine Interpretation für das Völkergewohnheitsrecht, die das Völkerrecht per se, wie wir es in der UN-Charta kennen, im Grunde genommen aufweicht.
Um dann aber an anderer Stelle unumwunden einzugestehen:
Stichwort Kosovo: kein UN-Mandat, das war eine NATO Intervention, die 'ex post', wenn Sie so wollen, vielleicht von den Vereinten Nationen dann wieder legitimiert worden ist. Aber das war eine Intervention, und deswegen ist die humanitäre Intervention – da sind wir wieder bei dem Stichwort – eine Erfindung des Westens. Tony Blair hat die Idee einer humanitären Intervention aufgebracht, im Vorfeld des Kosovokrieges. Und die Amerikaner haben sich das sehr gern zu eigen gemacht, als eine Erfindung des Westens unter Führung der Vereinigten Staaten.
Nach seinem Brüller eingangs kommen dazu von Trittin nun offenbar noch sehr ernst gemeinte transatlantische Bekundungen, etwa diese:
Eine große Mehrheit der Europäer hat das anders gesehen und das entsprechend umgesetzt, übrigens auf dem Wege der verstärkten Zusammenarbeit, trotz des spanischen Widerstandes an dieser Stelle. (…) Ich habe mir als Mitglied einer Regierung, die diesen Kosovokrieg mit zu verantworten hatte – das war der Beginn unserer Tätigkeit – diese Gleichsetzung meines damaligen Bundeskanzlers, das sei so ähnlich gewesen wie auf der Krim, nie zu eigen gemacht. (…) Trotzdem muss man an dieser Stelle das Problem in aller Schärfe benennen. Wenn angefangen wird, die Anwendung militärischer Gewalt von den beiden Regeln, die das Völkerrecht dafür gibt, nämlich das Recht auf Selbstverteidigung oder durch die Mandatierung – das ist nicht irgendeine UN-Resolution – durch den Sicherheitsrat, wenn man dieses aushebelt, dann ist man auf einer Rutschbahn, von der man nicht weiß, wo sie endet.
Das kann der Moderator so nicht unkommentiert im Raum stehen lassen, er fragt nach:
Es ist mehrfach der Kosovo erwähnt worden, und da muss man natürlich sagen: Wenn Russland versucht, sein Handeln auf der Krim zu rechtfertigen, fällt immer wieder das Stichwort Kosovo. Das war eine Abtrennung von Serbien, ohne dass man in Belgrad nachfragt. Und die Russen sagen: Ja, was der Westen kann, das können wir auch.
An dieser Stelle erläutert Röttgen noch einmal eindringlich altbekannte Weisheiten westlicher Diplomatie:
Also, jeder weiß, dass es sich bei der Krim um eine Annexion durch Russland eines, eines, eines Teils der Ukraine gehandelt hat, (…) während wir es bei dem Kosovo mit einer humanitären Notlage zu tun hatten und der blockierte Sicherheitsrat – das ist ja typisch in diesen Fällen – ist eben Teil des politischen Problems, weil eine Unterstützungsmacht – in diesem Falle Russland – auch Vetomacht im Sicherheitsrat ist und darum als Teil seines politischen Handelns die völkerrechtliche Legitimation vereitelt. Dann ist die Frage: Akzeptiere ich die Blockade des UN-Sicherheitsrates mit der Folge, dass nichts passiert und das Abschlachten weitergeht, oder handelt die internationale Gemeinschaft in Fortentwicklung des Völkerrechts?
Den Schlussakkord darf auf das vom Moderator zugeworfene Stichwort "Russland" natürlich noch einmal Röttgen setzen, der sich diesmal als "echter" Russlandversteher zu erkennen gibt:
Das ist so ein Stereotyp, dass wir sagen: Ja, man muss nur – sozusagen so – man muss nur richtig mit denen reden, mit den Russen, dann … Und ihr versteht deren Seele ja und so … Und ihr seid so verwandt, und dann könnt ihr das. Das ist eine naive Verklärung der Situation, die leider besteht. (…) Das Problem ist, dass das Problem in Russland liegt, und das Kernproblem ist ein Modernisierungsproblem Russlands. (…) Das ist das zentrale Problem, darum kann Russland – weil es dieses innere Problem hat – nicht dulden, dass sich z.B. dieses enge Nachbarland Ukraine dem System des Westens anschließt (…) und dadurch wirtschaftlich erfolgreich wird. Weil Russland als Einziges zurückbleibt. Und wie man mit diesen inneren Problemen Russlands, der mangelnden Modernisierungsfähigkeit umgeht, darauf hat leider noch nicht mal Putin eine Lösung gefunden. Er hat jetzt eine Zwischenlösung: Weil er in der Defensive war, hat er sich zu dieser aggressiven Politik entschieden. Das ist aber keine nachhaltige Politik. Und wir haben auch noch keine Antwort, wir haben auch … Es gibt leider noch keine Lösung: Wie gehen wir mit der Schwäche Russlands um, die Putin jetzt vorübergehend als eine Politik der Stärke kaschiert?
Das zeugt von ungemein tiefer Sachkenntnis Röttgens: Der Westen hat gar kein Problem mit der Stärke Russlands, sondern vielmehr mit seiner furchterregenden Schwäche. Daher also diese erschreckende Aggressivität Russlands innerhalb seiner eigenen Grenzen gegen die NATO – und auch gegen jegliches Erblühen der Ukraine seit dem Maidan, geborgen im Schoße "Kerneuropas"!
Nur leider muss Röttgen bei dem anderen großen Gegenspieler der "freien Welt" ein noch größeres Problem für den Westen konstatieren, gepaart mit einem hörbaren Bedauern über die zweifelsfreien wirtschaftlichen Erfolge der Volksrepublik China, von denen auch Deutschland allzu gerne profitiert und weiter profitieren möchte:
Russland schafft es nicht – in einem bezeichnenden Gegensatz zu China –, die Macht des Regimes der Elite dadurch zu sichern, dass es das Land wirtschaftlich modernisiert. Das ist ja sozusagen der Clou der Kommunistischen Partei (Anm.: in China): Wir haben das Sagen, wir haben das Monopol, aber euch geht es jedes Jahr besser. Und in Russland ist genau andersherum: Wer anfängt, das Land zu modernisieren, verliert die Macht.
Moderator Ringel vom rbb scheint also übrigens keineswegs abgeneigt, den versammelten Transatlantikern jederzeit derart passende Stichworte zuzuspielen. Daher ist zu vermuten, dass das Engagement dieses Formates eines von allen Bürgern finanzierten öffentlich-rechtlichen Senders zur Verbreitung von Meinungen eines NATO-Sprachrohrs keineswegs ein Fehlgriff, sondern pure Absicht war: um die öffentliche Meinung auch in diesem Falle wieder zugunsten des "Wertewestens" zu manipulieren. Auch wenn der Moderator seinen beruflichen Werdegang 1984 im Rundfunk der DDR begonnen hatte, fühlt wenigstens er sich heute offenbar im "Wertewesten" sehr gut angekommen und angenommen.
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