von Michail Chodarjonok (Militär-Analyst, Oberst a.D.)
Im Nordosten viel Neues
Die türkischen Streitkräfte und ihre verbündeten Milizen der sogenannten "Freien Syrischen Armee" haben es auf zwei Gebiete abgesehen: Raʾs al-ʿAin und Tall-Abyad. In Richtung Raʾs al-ʿAin sind sie 10 bis 15 Kilometer weit auf syrisches Gebiet vorgedrungen; auf dem Weg nach Tall-Abyad drangen sie bis in eine Tiefe von etwa 30 km vor. Auf halbem Weg dorthin haben sie auch eine Operationsbasis errichtet. Die türkische Armee will die strategische Autobahn M4 entlang der türkischen Grenze blockieren, die eine lebenswichtige Verbindung zwischen der syrischen "Wirtschaftshauptstadt" Aleppo und dem Verwaltungszentrum Al-Hasaka im Nordosten des Landes darstellt.
Die Türkei setzt dabei Kommandos und Spezialeinheiten, Panzer und Artillerie ein. Die Streitkräfte vor Ort, die alle Teil der Operation "Friedensquelle" sind, umfassen 14.000 Soldaten, 120 Panzer, 230 gepanzerte Kampffahrzeuge sowie 240 Artilleriewaffen.
Die Kampagne Ankaras wird auch von der selbsternannten Freien Syrischen Armee (FSA) unterstützt, die auch an die Spitze der türkischen Offensive gestellt wurde. Damit beläuft sich das Gesamtaufgebot auf rund 25.000 Soldaten und Offiziere. Am wichtigsten ist aber, dass die Bodentruppen von fünf Geschwadern der türkischen Luftwaffe unterstützt werden – mit 12, gar bis zu 18 Einsätzen pro Tag.
Auf den ersten Blick erscheint die Operation "Friedensquelle" angesichts der 700 Kilometer Gesamtlänge, über die sich die syrisch-türkische Grenze erstreckt, relativ unbedeutend. Doch die Offensive findet entlang zweier relativ enger Korridore statt. Wenn sich die Strategie der Türkei auszahlen würde, müssten sich die Kurden nämlich auch aus anderen Regionen im Nordosten Syriens zurückziehen.
Die türkischen Militärplaner werden versuchen, die wichtigsten Verteidigungspositionen der Kurden zu einzukreisen und die dortige Bevölkerung nach Süden sowie nach Osten gen irakische Grenze zu vertreiben. Mehr als 120.000 Zivilisten sind bereits auf der Flucht vor türkischen Truppen und der so genannten "Syrischen Nationalarmee" (einem Teilaufgebot der FSA) getrieben und unterwegs zu den Städten Qamischli und Al-Hasaka.
Bis zu einer halben Million Menschen nördlich des Euphrats könnten in den kommenden Tagen vertrieben werden. Türkische Luftangriffe richten sich zunehmend gegen zivile Einrichtungen, darunter Lager für Binnenflüchtlinge, aber auch Haftanstalten für Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (auch für solche aus den USA und Europa) und Unterkünfte für deren Familien.
Steht ein Massenausbruch von IS-Terroristen bevor?
Vor dem türkischen Feldzug kontrollierten die weitgehend kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte sieben Gefängnisse für IS-Kämpfer und mindestens acht Lager für Binnenvertriebene, von denen etwa die Hälfte Frauen und Kinder von Extremisten beherbergen. Nach Angaben der Vereinten Nationen befanden sich in diesen Gefängnisse und Unterkünften bis zu 110.000 Menschen, die 72 ethnische Gruppen aus 36 Ländern umfassen.
Nun besteht die große Gefahr, dass viele der in Lagern lebenden Zivilisten an Hunger oder grassierenden Krankheiten sterben – und sich obendrein die Terroristen befreien könnten.
Im Rahmen einer Vereinbarung mit den USA kommandierte die kurdische Militärführung seinerzeit ihre kampffähigsten Einheiten zur Bewachung dieser Gefängnisse und Vertriebenenlager ab – und von solchen Einheiten gab es in den Syrischen Demokratischen Kräften nicht allzu viele.
Nach dem Beginn des türkischen Feldzugs und dem Abzug der US-Truppen von der Grenze, der von den Kurden als "Dolchstoß in den Rücken" angesehen wird, warnten die Syrischen Demokratischen Kräfte, dass jene Einheiten, die Ölfelder sowie die irakische Grenze im Süden der Provinz Deir ez-Zor sicherten, ebenso jene Einheiten, deren Aufgabe früher die Bewachung von Haftanstalten und Vertriebenenlagern war, an die Front verlegt würden.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sowohl wegen des Mangels an Sicherheitskräften als auch wegen der türkischen Luftangriffe einige der Häftlinge entkommen konnten. Nachdem ein Luftangriff am 11. Oktober das Gebäude und den Zaun eines Gefängnisses für ehemalige IS-Kämpfer in der Nähe der Stadt Qamischli beschädigte, machten sich fünf (nach anderen Berichten 15) der Häftlinge samt jener Waffen davon, die sie den bei dem Luftangriff getöteten Wachen abgenommen hatten.
Das Gefangenenlager für ehemalige IS-Kämpfer in al-Malikiya im nordöstlichen Teil der Provinz al-Hasaka hat bereits eine Meuterei hinter sich: Am 12. Oktober nahmen mehrere Dutzend Häftlinge Geiseln, kaperten Transportfahrzeuge, befreiten gewaltsam ihre Familien aus dem nahegelegenen Lager für Vertriebene – und flohen schließlich.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Ausländer, die in Syrien für den IS gekämpft haben, nun nach Europa zurückkehren werden.
Die Optionen der Kurden
Was den kurdischen Widerstand betrifft, so würde er auf jeden Fall gebrochen werden: Die türkische Armee ist den Kurden im Bereich von schweren Waffen haushoch überlegen; außerdem beherrscht Ankara den Himmel. Offen gesagt: Einige Quellen überschätzen außerdem eindeutig die Kampfkraft der kurdischen Streitkräfte.
Die besten kurdischen Einheiten könnten wahrscheinlich mit den Bataillonen des syrischen Generals Suhail al-Hasan mithalten. Das heißt, die Kurden können gegen einen Gegner ähnlicher Stärke gewinnen. Gegenüber einer modernen Armee, die nach NATO-Standards ausgebildet und mit Jagdflugzeugen, Hubschraubern, Panzern, Artillerie, Aufklärungssystemen und Systemen zur elektronischen Kriegführung ausgerüstet ist, haben die Kurden kaum eine Chance.
Die Türken hatten zwar den russischen Militärattaché in der Botschaft in Ankara über die Operation "Friedensquelle" informiert – das Kommando der russischen Streitkräfte in Syrien wurde hingegen nicht rechtzeitig informiert. Wenigstens jetzt setzen sich jedoch die Seiten ein- bis zweimal täglich per Funk miteinander in Verbindung.
Welche Möglichkeiten stehen den Kurden jetzt noch offen? Ihre einzige Möglichkeit scheint ein Rückzug der SDF von der Grenze zu sein – und ein Niederlegen ihrer Waffen. Die kampffähigsten Einheiten können umstrukturiert und in die reguläre syrische Armee integriert werden.
Denn die einzige Alternative sonst bestünde darin, im Kampf zu sterben. Es scheint, dass den Syrischen Demokratischen Kräfte keine anderen Varianten mehr bleiben. Ihre Überlebenschancen müssen sie unter den Fittichen der syrischen Regierung suchen – das ist die Realität, die die kurdische Führung früher oder später akzeptieren muss. Jetzt scheint sich alles andere gegen die Kurden gewendet zu haben.
Haushoch verpokert
Als die Anti-Terror-Operation gegen den IS begann, gingen das Kommando der russischen Streitkräfte in Syrien sowie einige hochrangige syrische Regierungsbeamten auf die Kurden zu. Zunächst schienen die Kurden Schritte in Richtung einer Zusammenarbeit zu machen, doch bald darauf begaben sie sich unter US-Kontrolle, und alle Gespräche über innerstaatliche Zusammenarbeit verliefen schließlich im Sande. Im Grunde zahlten die USA damals den Kurden durchaus stattliche Summen, damit diese am Boden militärische Operationen gegen den IS durchführten – man kann sogar sagen, dass die Kurden im Großen und Ganzen davon lebten.
Außerdem war auch eine überwältigende Mehrheit der syrischen Politiker absolut gegen eine Zusammenarbeit mit den Kurden in jeglicher Form eingestellt, stellten diese doch schon länger die territoriale Integrität Syriens – gelinde gesagt – in Frage. Seitdem jedoch hat sich die Lage nunmehr drastisch verändert, denn die Kurden fordern nun ihrerseits, dass syrische Streitkräfte in die kurdisch kontrollierten Gebiete entsandt werden sollten. Auch zu den Fragen bezüglich der syrischen territorialen Integrität halten sich die Kurden jetzt sehr zurück.
Übrigens gab es in Syrien bereits während der vorigen türkischen militärischen Operation "Olivenzweig" Versuche, eine Einigung mit den Kurden zu erzielen: Syrische Regierungstruppen wollten das hart umkämpfte Afrin einnehmen – doch die Kurden begannen darum zu feilschen. Am Ende wurde Afrin dann von türkischen Truppen besetzt, die sich auch sofort daran machten, die ethnischen Proportionen in diesem Teil Syriens zu verschieben.
Die unehrenhafte "Abreise" der US-Amerikaner
Die US-Streitkräfte, die das Gebiet von Manbidsch in aller Eile verlassen haben, hinterließen keine befestigten Zonen. In diesem Gebiet verfügten sie nur über provisorische befestigte Strukturen und alle ihre Flugplätze über lediglich unbefestigte Start- und Landebahnen. Dies kann als symbolisch für die Ergebnisse der militärischen Präsenz der USA angesehen werden: Wenn wir uns ansehen, was die USA in der Region erreicht haben, kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass es ihnen nicht gelungen ist, eine konstruktive Agenda für den Nahen Osten vorzulegen. Alle ihre dahingehenden Bemühungen – sofern man von solchen überhaupt sprechen kann – brachten Nullkommanichts.
Zu den im Nordosten Syriens eingesetzten US-Streitkräften gehörten die Marineinfanterie sowie Sondereinheiten. Insgesamt war die Präsenz der USA jedoch mit nicht mehr als 150 bis 200 Soldaten und Offizieren praktisch vernachlässigbar. Rechnet man den Rest der Angehörigen der westlichen Koalition hinzu, so steigt das Gesamtaufgebot auf rund 2.500 Mann. Nun wurde der Befehl zum Abzug der US-Truppen aus der Region erteilt; Abzugs- und Zeitpläne wurden vorbereitet. Was bisher nach wie vor unklar bleibt, ist der genaue Stichtag, an dem dieser Abzug komplett abgeschlossen sein soll.
Türkisches Endspiel
Was kommt als nächstes? Wann werden die Türken Nordostsyrien verlassen? Bisher haben sie ihre Präsenz in Syrien in al-Bab, Afrin und Idlib – ebenso wie natürlich in Nordzypern – aufrechterhalten. Was die syrischen Grenzregionen zur Türkei betrifft, die von türkischen Truppen besetzt sind, so wird die lokale Bevölkerung aktiv "türkisiert": Es werden Zweigstellen türkischer Universitäten eröffnet, türkische Banken beginnen in Syrien ihre Tätigkeit und in den Schulen werden die Kinder auf Türkisch unterrichtet.
Es scheint, dass die Operation "Friedensquelle" abgeschlossen sein wird, sobald die türkische Armee die strategische Autobahn M4 unter ihrer Kontrolle hat. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass innerhalb von Monaten nach Operationsende auch noch eine mehrere Meter hohe Betonmauer entlang dieser Verkehrsader errichtet wird.
Seit Beginn des türkischen Einfalls in den Nordosten Syriens hat sich die allgemeine Situation im Land deutlich verschlechtert. IS-Schläferzellen wurden in fast allen syrischen Provinzen aktiv – insbesondere im Süden des Landes.
Doch in Nordsyrien geht es genauso turbulent zu: So kontrollieren in der Provinz Idlib die Türken nur einen kleinen Teil der Streitkräfte. Bis zu 20 oder 30 Artillerieangriffe pro Tag führen Terroristen dort gegen die syrischen Regierungstruppen durch. Darüber hinaus zogen die Türken einen bedeutenden Teil der Ankara gegenüber besonders treu ergebenen Truppen aus der Deeskalationszone Idlib ab – und verlegten sie nach Nordostsyrien, um gegen die Kurden zu kämpfen. Von einem weitgehenden Kontrollverlust durch die Türken in Idlib zu sprechen, wäre in diesem Moment kaum übertrieben.
Kuriositäten des Krieges
Weiterhin ist an der Lage in Idlib merkwürdig, dass sich der neunte Beobachtungsposten der Türkei in der Provinz in einem derzeit von Assads Truppen kontrollierten Gebiet befindet. Dies ist eine Folge militärischer Aktivitäten, bei denen terroristische Gruppen im südlichen Idlib, die sich hauptsächlich um Chan Schaichun konzentrierten, besiegt sind und somit zum Rückzug in den zentralen Teil der Provinz gezwungen wurden.
Von diesen Gebieten aus feuerten die Terroristen mit Mehrfachraketensystemen und starteten Kamikaze-Drohnen auf den russischen Militärflugplatz Hmeimim, um russische Flugzeuge auf dem Flugplatz zu zerstören.
Die Terroristen wurden also nun eliminiert oder zum Rückzug gezwungen. Was den neunten Beobachtungsposten angeht, so erhalten die dort stationierten türkischen Streitkräfte jetzt Lebensmittel, frisches Wasser und Medikamente – von den Russen in Hmeimim! Ebenfalls kurios: Beim Passieren dieses Beobachtungspostens empfangen russische Truppen nun auf ihren Mobiltelefonen die Nachricht "Willkommen in der Türkei".
Insgesamt benimmt sich die Türkei in Syrien wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Den Scherbenhaufen als Ganzes abschätzen zu wollen, wäre allerdings jetzt wohl noch verfrüht.
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