Putin, LGBT und das Ende des Liberalismus

Kurz vor dem G20-Gipfel gab Putin der Financial Times ein Interview, in dem es auch um LGBT und Liberalismus geht. Beides hängt zusammen, denn mit dem Liberalismus ist auch die Identitätspolitik gescheitert. Beide führen zum Gegenteil der versprochenen Ergebnisse. 

von Gert Ewen Ungar

Es sind spannende anderthalb Stunden. So lange dauert das Interview, das die Financial Times mit Wladimir Putin geführt und jetzt in voller Länge veröffentlicht hat. Mit dem russischen Präsidenten sprachen der Herausgeber der Financial Times, Lionel Barber, und der Leiter des Moskauer Büros, Henry Full. Das Gespräch fand im Kreml in überwiegend offener Atmosphäre statt. Nur wenige Male konfrontierte Barber Putin provokant mit westlichen Desinformationen, die hier für Fakten gehalten werden. Nur gelegentlich versuchte er, Putin in die Falle zu locken. Für den Mainstream, zu dem die Financial Times gehört, ein wirklich erstaunlicher Vorgang, ganz nah an gutem Journalismus. In dieser weitgehend offenen, unvoreingenommenen Atmosphäre zeigt sich der Unterschied Russlands zu den westlichen Regierungen der EU- und NATO-Staaten. Russland ist ein souveränes Land, eine Demokratie, in der Politik ein Instrument ist, eine Balance der unterschiedlichen Interessen auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen zu finden, die für Stabilität und Planbarkeit für alle Akteure sorgt – für Bürger, für die Wirtschaft und die außenpolitischen Partner. Die Politik Russlands ist rational und zielt auf die Mehrung des Wohls des Landes und seiner Bürger. Sie ist nicht irrational sprunghaft wie die Politik des Westens, die sich nur dem Wohl einer kleinen Elite verpflichtet fühlt. 

Diese Stabilität herzustellen geht allerdings nicht mit den Mitteln des Laissez Faire, mit neoliberaler Politik. Es bedurfte einer grundlegenden Abkehr vom Marktradikalismus, der Russland in den 1990er Jahren in den Staatsbankrott und weite Teile der Bevölkerung in Armut und Verelendung geführt hat. Dieser Aspekt des Interviews ist besonders bemerkenswert. 

Es ist wichtig zu verstehen: Wenn irgendwo auf der Welt Menschen in großer Zahl aus der Armut geholt werden, passiert das nicht mit den Mitteln des Liberalismus, obwohl der mit genau diesem Versprechen angetreten ist, Wohlstand für alle zu schaffen. Es passiert nicht mit den Mitteln, die die EU ihren Mitgliedsstaaten aufzwingt. Es passiert gegen diese neoliberale Doktrin. China ist dafür ein Beispiel, dort wurden Millionen aus der Armut geholt. Russland ebenfalls, denn es hat mit der Abkehr vom Marktradikalismus zu neuer Kraft und Stärke gefunden. "Staatskapitalismus" ist dafür das vom Mainstream vorgegebene Wording. Zwei Leviathane in einem Wort, so dass es doppelt grausam klingt: Staat und Kapitalismus. Man könnte es auch eine jeweils auf die Besonderheiten der Nationen adaptierte Form des Keynesianismus nennen, aber das klingt natürlich nicht so sehr nach brutaler Unterdrückung der Massen. Keynesianismus ist im Gegensatz zu "Staatskapitalismus" eher offen für ein begriffliches Umfeld wie "Wirtschaftswunder", "Vollbeschäftigung" und "New Deal". Das freilich will man in Zusammenhang mit China und Russland auf gar keinen Fall. Viel zu positiv.   

Der real existierende Liberalismus umfasst ein ganzes Paket unterschiedlicher politischer Praktiken zur Durchsetzung seiner Ziele. Eine davon ist die Identitätspolitik. Unter dem Banner, gegen Diskriminierung anzutreten, instrumentalisiert sie Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten für den Zweck der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda. 

Putin identifiziert am Ende des Interviews unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in Russland, denen er allen das Recht auf Existenz zuspricht. LGBT, das wird deutlich, sind als russische Bürger in Russland durch den Staat genauso geschützt wie Menschen, die sich auf andere Werte, auf Tradition und Familie berufen. Das klingt so gar nicht nach Homophobie, sondern nach Ausgleich der Interessen durch die Politik. 

Hier zeigt sich das zum Liberalismus alternative Modell. Zum Liberalismus in seiner gegenwärtigen, marktradikalen Form gehört die Identitätspolitik als ein zentraler Baustein in der politischen Praxis. Es ist daher wichtig, sich für einen Moment mit ihr zu beschäftigen, um ihre Grundlagen und vor allem ihre Konsequenzen zu verstehen. 

Historisch war Identitätspolitik Teil der emanzipatorischen Bewegung, der Frauenbewegung, der Schwulenbewegung. Sie war ursprünglich links und mit der Verteilungsfrage verbunden. In der Aids-Krise ging es um ganz konkrete Forderungen: Mehr Personal für die Kliniken, bessere medizinische Versorgung, mehr Geld für die Forschung. 

In linken Bewegungen ging es immer auch um Minderheitenrechte, schließlich verstanden sich linke Bewegungen als solidarische Bewegungen, die nicht ausschließlich Partikularinteressen verfolgten. Entsprechend ging es bei der Diskussion um Aids und HIV auch um die Epidemie in Afrika und Drogenabhängige, die sich selbst politisch nicht repräsentieren konnten. 

Mit dem Ende der Sowjetunion verschoben sich die Gewichtungen. Im Westen glaubt man an das Ende der Geschichte und eine ewig anhaltende Prosperität durch weltweiten Handel im Rahmen der Globalisierung, an der alle teilhaben. Die Verteilungsfrage tritt zu diesem Zeitpunkt in den Hintergrund. In diesem historischen Umfeld verschiebt Identitätspolitik ebenfalls den Akzent der Fragestellung. Sie fragt nicht mehr nach den ökonomischen Verhältnissen. Identitätspolitik wird nun zur Sprachkritik. Mit der Benennung, mit der sprachlichen Repräsentation, mit dem öffentlichen Auftritt ist dem emanzipatorischen Akt Genüge getan. Es geht nicht mehr um diskriminierende sozio-ökonomische Verhältnisse, sondern um diskriminierende Sprache und Sprachpraktiken, um Sichtbarkeit. Die Ikone der Bewegung Judith Butler steht mit ihrem Buch "Das Unbehagen der Geschlechter" paradigmatisch für diesen Wandel. Mit der Preisgabe des Themas der Verteilungsgerechtigkeit wird Identitätspolitik aber auch neoliberal anschlussfähig. Die Flanke hin zu rechter, reaktionärer Ökonomik ist nun offen.

Auch Silke van Dyk kommt in ihrer für die Bundeszentrale für politische Bildung abgefassten Verteidigungsschrift, die dem Titel nach Identitätspolitik gegen ihre Kritiker verteidigen möchte, nicht umhin, genau diesen Umstand zu bestätigen. Identitätspolitik wurde nach rechts gewendet, von einem Bestandteil linker Kritik an den bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu einem Instrument der Aufspaltung und Teilung von Gesellschaft in Gruppen und Untergruppen – Identitätspolitik steht inzwischen für Entsolidarisierung und Fragmentierung von Gesellschaft und nicht für die Überwindung von Gegensätzen und einem solidarischen Zusammenwachsen. Sie steht für die Durchsetzung von Partikularinteressen gegenüber einer oftmals sehr holzschnittartig skizzierten Mehrheitsgesellschaft, die hetero-normativ und patriarchal sein soll – was immer das auch heißen mag. 

So bleiben, während der eine Teil die gesellschaftliche Anerkennung seiner sexuellen Identität feiert und die Anerkennung immer weiterer, höchst fragwürdiger Identitäten fordert, die häufigsten Formen der Diskriminierung ungenannt, weil die um ihre ökonomische Kritikfähigkeit gebrachte Identitätspolitik dazu gar nicht mehr über das notwendige Vokabular verfügt. Fragwürdig sind die postulierten Identitäten deswegen, weil der Begriff der Identität gegen andere Begriffe unscharf gehalten wird; gegenüber dem der Mode beispielsweise. Was heute mit dem Anspruch eine voll ausgeprägte Identität zu sein auftritt, ist oftmals offensichtlich nur eine Mode, die in einigen Jahren abgelöst sein wird.

Was aber durch Identitätspolitik ungesagt bleibt, sind die massiven und allgegenwärtigen sozio-ökonomischen Diskriminierungen. Die in Deutschland massiv vorhandene Diskriminierung durch die Herkunft ist mit den Mitteln der Identitätspolitik nicht zu benennen. Wenn es in der jetzigen Pride-Season all diese bunten und schrillen CSDs in zahlreichen deutschen Städten gibt, bleibt ein gesellschaftlich wichtiges Thema immer außen vor: Armut, soziale Diskriminierung und die Aufspaltung der westlichen Gesellschaften durch sie. Dagegen präsentieren sich höchst fragwürdige Konzerne wie Bayer, der für seine Steuervermeidungsstrategien berüchtigte Möbelkonzern IKEA, die Deutsche Bank und zahllose andere auf den Prides als der sexuellen Vielfalt verpflichtet und nutzen sie als Werbemöglichkeit. Ob die Deutsche Bank sich auch in ihrer Geschäftsstelle in Saudi-Arabien mit dieser Offenheit brüstet und dort für queere Emanzipation und gesellschaftliche Buntheit eintritt? Man darf es bezweifeln. Genau diese Allianzen mit Akteuren, die durch ihre Aktivitäten Gesellschaft massiv schädigen, sind es, welche die aktuelle LGBT-Bewegung auch so fragwürdig machen.  

Putin und diejenigen, die ihn beraten, haben offenkundig die Problematik verstanden. Die Unwucht, die der Fokus auf Identitätspolitik als einzig zulässigem Indikator für Fortschritt in einer Gesellschaft bewirkt, bringt die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht und lässt den Zusammenhalt erodieren. Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diffamierung bis hin zu physischer Gewalt nehmen durch Identitätspolitik zu und nicht ab, denn sie befördert die Konfrontation und die Exklusion. Das Ziel, Diskriminierung abzubauen, verfehlt die Identitätspolitik. Sie besitzt dazu nicht die Mittel, denn sie ist methodisch verkürzt, alles Dialektische bleibt ihr fremd.

Fortschritt im Sinne einer Zunahme von Freiheit, das verstehen die Verfechter der Identitätspolitik nicht, kann es immer nur gemeinsam geben. Freiheit bedeutet in diesem Zusammenhang natürlich auch Freiheit verbunden mit ökonomischer Sicherheit. 

So wird das Interview mit Putin von seinem Ende her verstehbar. Wenn er über Ökonomie spricht, so spricht er über einen starken Staat, der die freien Kräfte des Marktes einhegt und versucht, die unterschiedlichen Interessen der Marktteilnehmer gegeneinander auszugleichen. Wenn er über LGBT spricht, spricht er über einen starkten Staat, der die Interessen der unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen gegeneinander abwägt und ausgleicht. 

Russland hat das geschafft, was neoliberale Denker und ihre Apologeten absolut verhindern wollten: Das Primat der Politik ist zurück in Europa. Es braucht das Primat der Politik, und es ist der souveräne, demokratische Nationalstaat, der die Interessen aller Akteure miteinander ausgleicht. Es gibt zum Nationalstaat aktuell keine Alternative, wenn es um den Schutz des Individuums vor zerstörerischen Marktkräften und ebenso zerstörerischen Partikularinteressen von Einzelgruppen geht. Alle anderen Modelle, insbesondere das westlich-liberale, bedeuten eine Zunahme der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit und der Unfreiheit. Politik, das hat Russland offenkundig deutlich besser verstanden als die EU, Politik macht die Regeln des Zusammenlebens, nicht die Ideologie des freien Marktes und nicht ihr angeschlossene Ideologien wie die Identitätspolitik, die Gesellschaft in Marktteilnehmer im Buhlen um Aufmerksamkeit für ihre Belange aufteilt. 

Stabilität ist der entscheidende Faktor. Gesellschaften dürfen weder der Ökonomie freier Märkte noch durch Bevorzugung von Minderheiten, die es verstehen, die Aufmerksamkeitsökonomie besser zu bedienen als andere, in Unwucht gebracht werden. Für den Verstoß gegen dieses Grundprinzip politischen Handelns steht aktuell die EU. Sie ist gleichsam der wahr gewordene Traum marktradikaler Ideologen wie Friedrich August von Hayek. 

Stabilität, auch das geht aus dem Interview Putins hervor, bedeutet nicht Stillstand. Es bedeutet, dass Freiheit und Wohlstand für alle zunimmt. Nicht für einzelne Gruppen auf Kosten anderer. Es ist Aufgabe der Politik, diesen Prozess zu gestalten. Identitätspolitik in ihrer aktuellen Manifestation ist ein geistesgeschichtlicher Rückschritt. Es gilt, sie zu überwinden. 

Putin hat recht, wenn er sagt, der Liberalismus sei als staatstragende Ideologie obsolet, denn der Liberalismus ist an seinen eigenen Versprechen gescheitert. Er führte weder zu Prosperität für alle, noch hat die allgemeine Freiheit zugenommen. Im Gegenteil nimmt in westlichen Gesellschaften die Freiheit ab. Identitätspolitik ist das Mittel, darüber hinwegzutäuschen, indem sie den Blick vom Großen weg auf Details lenkt, die sie zum allgemeinen Maßstab erhebt, wodurch sie gleichzeitig die Spaltung weiter vorantreibt. 

So wird das Vorhandensein von Gay Prides zum Beispiel als Maßstab für die "Homophobie" einer Nation gemacht. Dies ist ein inverser Whataboutism, denn es fehlt der Blick fürs Ganze: Von Gesellschaften, die kein liberales Modell pflegen, werden wir aktuell wirtschaftlich abgehängt und – zumindest was Russland angeht – auch in Bezug auf bürgerliche Freiheiten überholt, die hier bei uns zunehmend eingeschränkt und zurückgebaut werden.

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