von Wladislaw Sankin
Zu den Mythen der deutschen Außenpolitik gehört die Vorstellung, dass sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel um den Friedensprozess im Ukraine-Konflikt bemüht. Öffentlich zeigt sie sich sehr besorgt über die Lage der Menschen in der Ost-Ukraine und trauert um die Leben der ukrainischen Soldaten (richtig gelesen: nur Soldaten und nur ukrainische). Immer wieder mahnt sie zur Umsetzung des Minsker Abkommens, das sie mit den Präsidenten Russlands, Frankreichs und der Ukraine in der weißrussischen Hauptstadt Minsk im Januar 2015 mit unterzeichnet hatte. Auch in den Medien und von ihren Parteikollegen wird sie als unparteiische Vermittlerin und große Diplomatin dargestellt.
Ein anderer Mythos ist die Vorstellung, dass deutsche Außenpolitik die Einmischungen in die Angelegenheiten anderer Staaten weder duldet noch selbst praktiziert. Solches Fehlverhalten, insbesondere im Zusammenhang mit Wahlen, wird von der deutschen Politik und in tonangebenden deutschen Medien ausschließlich Russland unterstellt (sieht man von der Venezuela-Affäre und den Skandalen um den US-Botschafter Grenell einmal ab). Dieses Prinzip der Nichteinmischung hat die Bundeskanzlerin bei ihrem letzten Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am 1. November 2018 in Kiew noch einmal bekräftigt.
Es ist ja bekannt, dass im nächsten Frühjahr Präsidentschaftswahlen in der Ukraine stattfinden werden. Das ukrainische Volk wird entscheiden, und naturgemäß mische ich mich da nicht ein.
Es war jenes denkwürdige Treffen, bei dem Merkel die ukrainischen Soldaten begrüßte, indem sie ihnen auf Ukrainisch zurief: "Ich Grüße Euch, Krieger." Es schallte zurück: "Ruhm den Helden".
Mit diesen beiden Mythen räumten nun die CDU-Führung und das deutsche regierungsnahe Fernsehen ARD nach dem Wahltag in der Ukraine am 31. März eigenhändig und gründlich auf. So reagierte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Johann David Wadephul, auf den großen Vorsprung des Schauspielers Wladimir Selenskij gegenüber dem derzeitigen Amtsinhaber Petro Poroschenko:
Selenskij muss in den nächsten drei Wochen bis zur Stichwahl konkret darlegen, wofür er inhaltlich steht und welche Politiker-Mannschaft ihn dabei unterstützen soll. Die Ukraine kann es sich im Konflikt mit Russland und in ihrer schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht leisten, auf eine unerfahrene Führung zu setzen. Das würde nur Moskau in die Hände spielen und es ermutigen, seinen Destabilisierungskurs gegenüber der Ukraine zu verstärken. Zudem muss Selenskij klären, wie er sein Ziel, die Oligarchen zu entmachten, erreichen will, ist er doch in seinem Wahlkampf bisher von dem Oligarchen Igor Kolomoiski erheblich unterstützt worden.
Den Kurs der Westbindung der Ukraine sollten die beiden Kandidaten unbedingt fortsetzen, bekräftigte Wadephul die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Rat an beide Stichwahl-Kandidaten.
Diese Unart, im Gutsherrenton Anweisungen an die Präsidentschaftskandidaten eines ständig als "souverän" beschworenen Staates zu geben, gehört anscheinend aus der Sicht des in Deutschland regierenden Parteibündnisses zum Normalsten der Welt. Die ukrainische "Souveränität" zu respektieren, gilt sehr wohl für Russland, die eigene schulmeisterliche Einmischung kommt jedoch als "Unterstützung" immer gut daher. Das Unbehagen über das derzeit noch zu "unkonkrete" Programm von Selenskij ließ jedoch jede diplomatische Zurückhaltung schwinden.
Die ARD-Korrespondentin Ina Ruck verdeutlichte in mehreren Live-Schaltungen aus Kiew dem deutschen Publikum die gemeinsame Position des Westens. So bemängelte Ina Ruck in ihrem Bericht aus der ukrainischen Hauptstadt am Sonntagabend – unter Bezugnahme auf europäische Botschafter in Kiew – die mangelnde politische Erfahrung von Selenskij. Dieser werde von Putin sicherlich "zum Frühstück verspeist".
Die Korrespondentin erinnerte daran, dass Selenskij auch Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee werden könnte und kommentierte, dass das für einen Polit-Neuling nicht das richtige Amt sei. Die Ukraine "stehe in einem Krieg" und habe ein "schweres Zerwürfnis mit Russland".
Außerdem sei Selenskij amorph und ideologisch nicht festgelegt. Er werde nicht in der Lage sein, Russland "Paroli bieten zu können", legte sie am nächsten Tag nach. Die westlichen Partner seien beunruhigt. Und sie legte nahe, dass vor diesem Hintergrund eigentlich nur Poroschenko, mit dem der Westen nun seit fünf Jahren sehr gut zusammenarbeitete, der geeignete Mann für die Ukraine sei.
Mit dem Sieg des Schauspielers Selenskij in der ersten Wahlrunde änderte sich bei der ARD die Einschätzung der Gesamtlage in der Ukraine schlagartig. Noch zwei Wochen vor den Wahlen lobte man bei der ARD die Vielfalt der Kandidaten und die Offenheit des Wahlausgangs als einen riesengroßen Schritt in Richtung Demokratie.
Das Treffen, auf das sich Ina Ruck berief, fand am 23. Januar in der Vertretung der Europäischen Union (EU) in Kiew statt. Unter Verweis auf diplomatische Quellen schrieben die ukrainischen Medien über das gegenseitige Kennenlernen von Selenskij und Diplomaten aus EU-Staaten noch so:
Es war für ihn eine kalte Dusche. "Se" (mit diesem Kürzel wird er in der Ukraine genannt) war sehr nervös und überhaupt nicht zu einer sachlichen Diskussion bereit. Insbesondere hat die französische Botschafterin Isabelle Dumont ihn mit der Frage konfrontiert, wie er die Probleme im Donbass lösen will. Als er gesagt hat, dass er vorhat, sich mit Putin an einen Tisch zu setzen, fragten die anwesenden Botschafter, ob er nicht Angst hätte, dass die Radikalen danach das Präsidialamt anzünden würden. Die vagen Antworten auf diese und andere Fragen haben alle sehr enttäuscht und sogar entmutigt.
In der Tat, als Präsidentschaftskandidat hat Selenskij bislang nicht viel Konkretes zu seiner Sicht auf den Donbass-Krieg gesagt. Er verzichtete bei seinem Wahlkampf auf bombastische Auftritte und Wahlkampfreisen und beschränkte sich auf Interviews, kurze Instagram-Videos und Hintergrundtreffen. Sein Wahlkampfkonzept besteht eben darin, dass er sich nicht festlegt und auf die "Wünsche der Menschen" hören will. "Die Menschen und ihre Leben sind für mich das Wichtigste", bekräftigte er nochmals während seines kurzen Auftritts am Wahlabend.
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Zu seinen Auftritten im Fernsehen hatte der Wahlkampfstab für Selenskij eine Merkhilfe mit Thesen vorbereitet, die vom ukrainischen Portal strana.ua abfotografiert und veröffentlicht wurde. Den Thesen nach wird der Donbass-Konflikt als Krieg mit Russland bezeichnet und Russland als "Aggressor-Staat". Dementsprechend hören sich auch die Vorschläge an: Verstärkung der ukrainischen Propaganda in "okkupierten Territorien", Erhöhung des diplomatischen Drucks, einschließlich Sanktionen, auf Russland und Erweiterung des Minsk-Formats um Großbritannien und die USA. Nach der "Rückgabe der Territorien", darunter auch der Krim, wird sodann von Russland eine Entschädigung gefordert. Mit diesen Vorschlägen liegt also Selenskij voll im Trend der heutigen offiziellen ukrainischen Positionen.
Auch als Privatmensch und Showmaster steht Selenskij mit Herz und Seele hinter der gewaltsamen Anti-Terror-Operation gegen den antifaschistischen Aufstand im Donbass, den er – wie beschrieben – als einen Krieg gegen Russland missdeutet. So hatte er im August 2014, also zur Zeit der heftigsten Kämpfe im Frontgebiet, einen Auftritt mit seiner Satire-Truppe "95. Stadtviertel" vor dem ukrainischen Militär. "Ruhm der Ukraine! Männer, eine tiefe Verbeugung vor Euch dafür, dass Ihr uns vor diesem Abschaum schützt", sagte er und verbeugte sich tatsächlich. In dieser Zeit betrug die Zahl der zivilen Opfer durch ukrainischen Raketenbeschuss, Luftangriffe inklusive, mehrere hundert Menschen pro Monat. Für diesen Militäreinsatz spendete das Selenskij-Studio damals 1 Million Griwna.
Dieser "Patriotismus" hatte den Schauspieler allerdings nicht daran gehindert, fast zur gleichen Zeit eine Komödie für den russischen Markt zu drehen. Später schloss er jedoch sein Produktionsbüro in Moskau und brach Kontakte zu Kollegen und Fans in Russland ab. Putin und russische Medienmacher werden in seiner Comedy-Show ständig verhöhnt und ausgelacht. In einem der letzten Sketche ging es um einen – leider – unerfüllbaren Traum einiger Ukrainer, nach welchem auch "Putin vor Gericht in Den Haag" gehörte. Die Wahlstatistiken der Präsidentschaftswahlen vom 31. März zeigen, dass das ukrainische Militär in seinen Kasernen im Einsatzgebiet tatsächlich mit leichter Mehrheit für Selenskij gestimmt hat. Nur unter den Offizieren sammelte Poroschenko einige Stimmen mehr.
Was ist also an Selenskij für die "westlichen Verbündeten" so falsch? Ist er nach alldem nicht kämpferisch genug gegenüber Russland? Schließlich würde er ja auch als Oberbefehlshaber bei den Kampftruppen, die ja – wie er selbst meint – gegen Russland kämpfen, weitgehend akzeptiert. Das Problem besteht darin, dass er noch in der frühen Phase seines Wahlkampfes eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU und in der NATO zumindest für die nächsten Jahre nicht für zwingend gehalten hat. Er sagte, ein Referendum, also ein Bürgerentscheid, müsse die Frage des NATO-Beitritts der Ukraine beantworten. Wie die letzten Umfragen jedoch ergaben, würden derzeit nur 43 Prozent der Bürger den Beitritt zur NATO befürworten.
Wenn Selenskij als Vorsitzender der Partei "Diener des Volkes", wie der Name schon sagt, "aufs Volks" hören wird, dann könnte er irgendwann auf die Idee kommen, die Meinung der Bürger auch zur Beilegung des Donbass-Konfliktes in Betracht zu ziehen. Und diese Meinung ist eindeutig: Der Großteil der Menschen will keinen Krieg. 70 Prozent halten es sogar für möglich, zumindest teilweise die Forderungen der Aufständischen zu erfüllen, 16 Prozent würden gern sogar alle Forderungen erfüllt sehen. Demgegenüber bestehen aber 17 Prozent auf einer gewaltsamen Lösung "bis zum Sieg". Die Forderungen der Aufständischen sind im Minsker Abkommen festgelegt: Sonderstatus mit Autonomierechten, zweite Amtssprache, Lokalwahlen mit eigenen Politikern, Volkspolizei, Amnestie für die Teilnehmer der Kämpfe.
Für seine westlichen Partner, darunter allen voran Deutschland mit CDU und dem öffentlich-rechtlichen Sender ARD, ist eine derartige Flexibilität eines Präsidentschaftskandidaten natürlich inakzeptabel. Deshalb sind sie auch so "beunruhigt". Frieden? Minsker Abkommen? Diplomatie? Demokratie? Nicht-Einmischung? Das alles gilt, solange eigene Machtpolitik nicht gefährdet ist. Das von der deutschen ARD-Korrespondentin Ina Ruck so schmackhaft beschriebene "Zerwürfnis der Ukraine mit Russland" gehört offenbar zu jenen Wunschszenarien der regierenden deutschen Eliten, die es auf jeden Fall zu bewahren gilt. Als im ukrainischen Politikhimmel ein Kandidat aufschimmerte, der nicht so frenetisch wie Poroschenko über die russische Aggression faselte, horchten sie sofort auf.
Am 21. April findet nun in der Ukraine die Stichwahl statt. Mit jedem Tag mehren sich im Westen Publikationen, die Wladimir Selenskij als einen ungeeigneten Kandidaten für die Ukraine darstellen. Wenn er selbst als "Weichei" keinen Anlass zur Kritik gibt, wird nun seine Figur – der fiktive Präsident Wassilij Goloborodko aus der Serie "Diener des Volkes" – unter Beschuss genommen. Für Foreign Policy ist er nun schon zu "prorussisch". In der fiktiven Ukraine, die in der Serie gezeigt wird, gebe es keinen Krieg mit Russland, und dies allein sei doch schon sehr "gefährlich".
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