Ukraine: Kaum Chancen für Poroschenko auf politisches Überleben

Der amtierende Präsident Petro Poroschenko hat es nur knapp in die zweite Runde geschafft. Es ist unrealistisch, den Rückstand von 15 Prozent gegenüber dem Komiker Wladimir Selenskij bei der Stichwahl aufzuholen. Auch der Spielraum für massive Wahlmanipulation ist beschränkt.

von Wladislaw Sankin

Mit verdutztem Staunen hat die Welt die Geburt eines neuen Politikers am Wahlabend in der Ukraine verfolgt. Schon die ersten Hochrechnungen haben den Sieger aufgezeigt – den Schauspieler und Komiker Wladimir Selenskij.

Als Comedy-Star der Satire-Show "95. Stadtviertel" hat sich der 41-Jährige einen Namen gemacht. Von ihm produzierte Serien sind sowohl in der Ukraine als auch in Russland populär. Wegen der niedrigen Produktionskosten ließ sein Studio sie in der Ukraine für den ganzen russischsprachigen Raum produzieren.

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Seit dem Jahr 2015 spielt Selenskij die Hauptrolle in der ukrainischen TV-Serie "Diener des Volkes", in der er einen Geschichtslehrer verkörpert, der eher zufällig zum Präsidenten gewählt wird. Im Film versucht er, gegen den Filz aus Bürokratie, Korruption und politischen Intrigen vorzugehen. Es ist eine Rolle, die wohl die tiefsten Sehnsüchte der Menschen in der Ukraine nach einem gerechteren und sozialeren Staat widerspiegelt.

Geboren in der südukrainischen, vorwiegend russischsprachigen Industriestadt Kriwoj Rog, redet Selenskij auch im öffentlichen Raum überwiegend russisch und ist bislang im Unterschied zu Poroschenko nicht mit einer martialischen antirussischen Rhetorik aufgefallen, obwohl er die sogenannte Anti-Terror-Operation gegen den antifaschistischen Aufstand im Donbass unterstützt.

Poroschenko, der mit Zorn und Frust auf den riesigen Vorsprung von Selenskij reagierte, warf ihm während seiner Nachwahlrede vor, eine "Marionette des Oligarchen Kolomoiski" zu sein. In seinen Tweets wies Poroschenko darauf hin, dass er in Verhandlungen mit Russland nicht seine Kollegen aus der Humoristen-Zunft vor sich haben werde, sondern Wladimir Putin. Nur er, Poroschenko, könne den Weg der Ukraine in die lichte euroatlantische Zukunft garantieren – weg von Russland.

Doch diese Rhetorik beeindruckt in der Ukraine inzwischen nur eine nationalistisch gesinnte Minderheit. Experten, mit denen RT in der Ukraine gesprochen hat, sagen, dass die Chancen für den Ex-Komiker viel höher stehen als für den amtierenden Präsidenten. Das zeigen auch die Umfragen. Dennoch hat Poroschenko, der mit seinem Umfeld in mehrere Korruptionsskandale verwickelt ist, immer noch die Option, auf seine Amtsressourcen und Manipulationen zurückzugreifen, um an der Macht zu bleiben.

So haben sogar OSZE-Beobachter seinen Wahlkampf in ihrem am 1. April vorgestellten Bericht kritisiert. Er habe die Grenzen zwischen seiner offiziellen Position und der Position als Kandidat verwischt. Punkt 5.4. des Kopenhagener OSZE-Dokuments sieht eine klare Trennung zwischen politischen Kräften und dem Staat vor. Die "politischen Parteien dürften sich mit den staatlichen Organen nicht vermengen".

Laut OSZE griff die ukrainische Staatsmacht auch auf Finanzanreize für die Wähler in Form von Beihilfen, Prämien und Lohnerhöhungen zurück. Zuvor hatte der Vorsitzende der Partei "Oppositionsplattform – Fürs Leben", Juri Bojko, ähnliche Anschuldigungen gegen Poroschenko erhoben. Ihm zufolge zwang die Präsidialverwaltung Mitarbeiter staatlich finanzierter Organisationen unter Androhung der Entlassung dazu, für ihn zu stimmen.

"Diese Menschen befanden sich in einer Situation, in der sie gezwungen waren, entweder für den amtierenden Präsidenten zu stimmen oder von ihrem Arbeitsplatz entlassen zu werden", sagte der Politiker. Er sagte auch, dass Poroschenko Stimmen mittels "banaler Verteilung von Geld" gekauft habe.

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"Selenskij hat bessere Chancen zu gewinnen, weil viel mehr Menschen für ihn gestimmt haben als für Poroschenko", sagte Michail Pogrebinski, Direktor des Kiewer Zentrums für politische Forschung und Konfliktlösung, in einem Gespräch mit RT. Und diese Kluft sei sehr schwer zu überwinden. Viele von denen, die an den Wahlen teilgenommen und eine starke Anti-Poroschenko-Haltung eingenommen haben, würden weiterhin für Selenskij stimmen. In der aktuellen Situation spreche alles für den Sieg Selenskijs, so der Experte.

Was ist der nächste Schritt?

Ein Vertreter des Blocks von Petro Poroschenko sagte gegenüber RT, dass die Gefolgschaft des ukrainischen Präsidenten nun mit anderen Kandidaten verhandelt, damit sie den Amtsinhaber vor der zweiten Runde unterstützen würden.

Petro Poroschenko ist wütend über die Ergebnisse der ersten Runde der Abstimmung. Wie konnten die Leute für Wladimir Selenskij stimmen? Er wird das Land an Putin übergeben", so der Sprecher.  

Doch es gibt bei den regierenden Eliten in der Ukraine auch andere Ansichten. "Unabhängig davon, wer die zweite Runde gewinnt – Wladimir Selenskij oder Petro Poroschenko –, werden sich die Beziehungen zu Russland kaum verbessern", so eine Quelle von der Volksfront-Partei, der auch der einflussreiche Innenminister Arsen Awakow angehört. Awakow reiste wenige Wochen vor der Wahl in die USA und ließ sich dort Unterstützung zusichern. Innenpolitisch gilt er als selbständiger Spieler und Poroschenkos Rivale.

In der Tat hat Selenskij am Wahlabend versucht, Poroschenko in puncto antirussische Rhetorik in einem spontanen Einfall zu überbieten. So sagte er plötzlich, dass er sich mit Wladimir Putin nur unter der Bedingung treffen würde, dass er der Ukraine neben der Rückgabe des Donbass und der Krim obendrauf noch Entschädigung zahlen würde.

In Russland wurde dies eher als ungeschickte Flegelei wahrgenommen. So glaubt der Politologe Juri Bondarenko, Selenskij werde "ein vollkommen gesunder und adäquater Politiker" sein.

Wenn er die zweite Runde gewinnt, wird die gesamte antirussische Rhetorik in den ersten Wochen verschwinden", sagte der Experte.

In Hinblick auf die Äußerungen von Selenskij erklärte der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, am 1. April, Moskau wolle in der Ukraine nicht die Partei des Krieges sehen, sondern eine Partei, die eine reale, schrittweise Regulierung der Situation im Südosten des Landes anstrebt.

Gleichzeitig wies er darauf hin, dass das Thema Krim "ein für alle Mal" abgeschlossen sei. "Außerdem sind die Worte 'Besetzung' oder 'Annexion' auf die Krim völlig unanwendbar – weder de facto noch de jure." Er stellte auch fest, dass die russische Seite kein ukrainisches Territorium einnimmt. Die selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk seien von Kiew abgestoßen worden und alles, was in der Region geschieht, sei eine Folge der Politik der derzeitigen Führung der Ukraine, so Peskow.

Reif für den Machtwechsel? 

Die Wahlen haben gezeigt, dass die Stimmung im Land kippt. Etwa 70 Prozent der Ukrainer gaben bei den Umfragen an, unter keinen Umständen Poroschenko wählen zu wollen. Nur 9 Prozent der Ukrainer haben Vertrauen in die eigene Regierung – die niedrigste Vertrauensquote weltweit. Viele Bürger und Beobachter wissen, dass es Manipulationen geben kann und sind wachsam, was die Möglichkeit für eine große Wahlfälschung vonseiten des in die Enge getriebenen Präsidenten für einen Sieg bei der Stichwahl erschwert. 

Die erste Runde der Wahlen hat gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Ukrainer einen Machtwechsel wünscht. Dies ist wahrscheinlich die wichtigste Schlussfolgerung, die aus dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen gezogen werden kann", sagte der Präsidentschaftskandidat Juri Bojko.

Bojko hat 11,55 Prozent Stimmen bekommen – das viertbeste Resultat. Seine Reise nach Moskau, wo er sich mit dem russischen Premier Dmitri Medwedew getroffen hatte, hat seine Position im Südosten des Landes offenbar gestärkt. Zusammen mit den Stimmen des anderen russlandfreundlichen Kandidaten Alexander Wilkul (4,3 Prozent) würde er Poroschenko sogar im Rennen um den zweiten Platz Konkurrenz machen können. 

Update 22 Uhr Kiewer Zeit am 1. April:
Nach der Bearbeitung von 95 Prozent der Wahlzettel liegt Wladimir Selenskij nach wie vor mit 30,24 Prozent der Stimmen vorn. Den zweiten Platz belegt der amtierende Präsident Petro Poroschenko mit 15,94 Prozent, den dritten Platz Julia Timoschenko mit 13,4 Prozent. Auf dem vierten Platz ist Juri Bojko mit 11,57 Prozent.