von Maria Müller
Der Sieg des politischen Außenseiters Jair Bolsonaro in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen überrascht und erschreckt Linke und Demokraten in Lateinamerika. Ein sich offen faschistisch gebärdender Politiker an der Spitze des größten Landes im Süden des Kontinents zeigt, wie schnell die als überwunden geglaubte Vergangenheit der Militärdiktatur zurückkehren kann. Demokratie und Rechtsstaat erscheinen als fragiles Kartenhaus, das in kurzer Zeit in sich zusammenbrechen kann.
Doch im Grunde ist das Phänomen Bolsonaro durchaus die logische Konsequenz eines Systems, das als Perspektive auf den Sozialdarwinismus hinausläuft. Heute nimmt sich die vom ökonomischen Absturz bedrohte Mittelschicht Brasiliens in einem Konkurrenz- und Überlebenskampf mit den unteren Klassen der Gesellschaft wahr.
"Wir müssen die Sozialpolitik der Arbeitsunwilligen mit unseren Steuern finanzieren", lautet eine der sich ausbreitenden Parolen. Auch ein Teil derjenigen, der sich unter Lula besserstellen konnte, empfindet das so. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten verstärkte die "gesellschaftliche Investition" in Form von kostenloser Bildungs- und Gesundheitspolitik sowie von Sozialprogrammen zwar den Binnenkonsum. Sie trug jedoch nur in beschränktem Ausmaß dazu bei, Produktion und Dienstleistungen an der Basis zu entwickeln.
Dafür mag es subjektive und objektive Gründe geben, nicht zuletzt die gegensätzlich wirkende neoliberale Globalisierungsspirale und ihr Vernichten von Arbeitsplätzen. Wird die Sozialdemokratie vom globalen Neoliberalismus zerrieben? Nicht zu vergessen: Brasilien war vor der Ära Lula das Land der hungernden Millionen, während die reichsten brasilianischen Multimillionäre reicher als diejenigen der USA waren und sind.
Bolsonaro legte in seiner Kampagne keinen direkten Akzent auf eine bessere Zukunft durch wirtschaftliche Erholung. Stattdessen setzen seine Parolen genau an dem Punkt an, an dem sich die Ängste der Mittelschicht und der ebenfalls von ideologischem Machtverlust bedrohten Macho-Männer konzentrieren: Direkt und indirekt ruft er zur Gewalt gegenüber Frauen, Homosexuellen, Indigenen, Afro-Brasilianern und vor allem gegen die Bewohner der Favelas, der Armutszonen rund um die brasilianischen Millionenstädte, auf.
Bolsonaro benutzt die hohe Kriminalitätsrate Brasiliens für seinen autoritären Ruf nach Ordnung. Er will das Land von Dieben und Mördern reinigen, und vor allem von der Drogenmafia. Menschenrechte findet er "scheiße", abknallen und foltern richtig, die Indianer sollen Gras fressen, Vergewaltigung ist ein "Herrenwitz" usw. Die lange Liste seiner Hasspositionen sprengen diesen Artikel.
Der ehemalige Fallschirmspringer und Reserveoffizier bemühte sich im Wahlkampf bislang nicht, Konzepte für die Probleme Brasiliens vorzuschlagen. Er hat auch keine Vorstellungen zum Kampf gegen die Korruption benannt. Sie dient ihm lediglich für seine Attacken gegen die Arbeiterpartei (PT). Er selbst wurde als bisher unbedeutender Parlamentarier nicht in Verbindung gebracht, im Unterschied zum Großteil der Kongressabgeordneten und der staatlichen Verwaltungen Brasiliens. So konnte er sich als Anti-System-Figur präsentieren und kanalisierte die von den Medien systematisch geschürte Wut auf "die Politiker" in Gewaltphantasien. Nicht von ungefähr propagierte er wenige Tage vor den Wahlen, dass die Bürger sich bewaffnen sollten. Einfalltür für ein Bürgerkriegsszenario in Brasilien?
Das Lager der Großunternehmen und des Finanz- und Investitionskapitals hielt Bolsonaro noch bis vor wenigen Wochen vor den Erstwahlen für einen unsicheren Kandidaten. Vor allem, weil sich Bolsonaro nostalgisch mit dem Wirtschaftsdenken der Militärdiktatur (1964-1985) verbunden fühlte, in dem der Staat eine zentrale Rolle spielte. Während seiner 27 Jahre im Parlament (für verschiedene Parteien) hat er mehrfach für die staatlichen Monopole gestimmt und gegen eine Rentenreform der Staatsbediensteten.
Das änderte sich schlagartig, als er einen renommierten Bankfachmann als Wirtschaftsberater an seine Seite stellte. Paulo Guedes, Chef der Investmentfirma "Gozano Investments", studierte an der Universität von Chicago und ist ein leidenschaftlicher Neoliberaler. Er will Petrobras und die Banco de Brasil S.A. privatisieren. Der Banker Guedes soll in einer Regierung Bolsonaro die Rolle eines Superministers einnehmen und Finanzen, Wirtschaft und Handel unter sich vereinen.
Ab diesem Zeitpunkt unterstützten die Kapitalelite Brasiliens, aber auch die anglo-evangelischen Sekten zuerst heimlich und dann immer offener den Rechtsextremisten als das kleinere Übel, um zu verhindern, dass die Linke und ihr Kandidat, Fernando Haddad, die Regierung übernimmt. Die bisherige politische Mitte treibt in einem Klima der extremen Polarisierung nach rechtsaußen.
Fernando Haddad, der Kandidat der Arbeiterpartei Lulas, ist Rechtsanwalt, Doktor der Philosophie und Politikwissenschaften sowie Wirtschaftsfachmann. Er war Bürgermeister von São Paulo und in der Regierung von Lula da Silva Erziehungsminister. Haddad gilt als ruhiger, gemäßigter Vertreter einer linken Sozialdemokratie.
An der Macht der Wirtschaft kommt kein Kandidat vorbei
Auch Haddad steht unter dem Druck der Wirtschaftsmacht. Vor dem ersten Wahlgang traf er sich mit den wichtigsten Vertretern des Finanz- und Investitionskapital im Versuch, mit ihnen Zugeständnisse auszuhandeln und ihr Vertrauen zu gewinnen. Er soll "orthodoxe Positionen" in Bezug auf die Inflation, den Wechselkurs und das Defizit im Staatshaushalt vertreten haben. Doch bei bestimmten Themen ist er unnachgiebig. Er will die durch Präsident Temer vernichteten Arbeitsrechte wieder einsetzen und dessen Sparpolitik beenden. Die staatliche Ölfirma Petrobras soll die Finanzgrundlage für eine tiefgreifende Staatsreform in Brasilien bilden.
Doch das reichte nicht, um die Gunst der Oberschicht zu gewinnen. Obwohl die Regierung Lulas nie die geringen Steuern für Höchsteinkommen antastete, kein einziges Unternehmen verstaatlichte, großen Privatunternehmen staatliche Unterstützungen zukommen ließ und nicht verhinderte, dass die Kluft zwischen Reich und Arm immer grösser wurde. Obwohl die Regierungen der Arbeiterpartei trotz alledem 40 Millionen Menschen aus dem Elend holten, glaubt heute ein starker Teil der Brasilianer der Medienhetze, die Linke habe heimliche Pläne, um Brasilien in ein neues Venezuela zu verwandeln.
Haddad forderte nun nach seiner ersten Wahlniederlage eine schriftliche Erklärung von Bolsonaro, das Trommelfeuer von Lügen und Unterstellungen in den sozialen Netzwerken einzustellen. Die Informationen, die von den smartphone-süchtigen Bürgern in jeder freien Minute aufgenommen werden, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, haben Wirkung gezeigt. Die sozialen Netzwerke wirken als mächtigstes Instrument, um das Denken und Fühlen der Bevölkerung zu beeinflussen. Das virtuelle Bild ersetzt die Realität. Bolsonaros Kampagnenexperten arbeiteten erfolgreich mittels kurzer aggressiver Botschaften mit dieser Kommunikationstechnik.
Doch der Aufstieg eines Bolsonaro muss auch im Kontext der Veränderungen in Brasilien gesehen werden, die während der Amtszeit von Dilma Roussef ihren Anfang nahmen. Der plötzliche Einbruch des Ölpreises auf dem Weltmarkt Anfang 2016 brachte den Staatshaushalt und die gesamte Wirtschaft des Giganten Brasilien ins Wanken.
Die als illegal gebrandmarkten Maßnahmen der Staatschefin Dilma Rousseff zur Rettung der öffentlichen Finanzen wurden zwei Tage nach ihrer Amtsenthebung vom Kongress legalisiert: Er verabschiedete das Dilma-Gesetz Nr. 13.332/2016 , das bereits vor dem Impeachment in erster Lesung votiert wurde. Rousseff ist nie wegen Korruption angeklagt worden, obwohl emotionalisierte Medienberichte das suggerierten.
Damals gingen plötzlich Tausende aus den bessergestellten Schichten auf die Straße und gründeten eine neue rechtsgerichtete Bewegung. Sie orientierte sich schnell gegen die Sozialprogramme der PT, gegen die angeblich Arbeitsunwilligen, gegen den Schutz und das Gleichstellen von Minderheiten, kurz: gegen die Eckpfeiler des Programms der PT. Sie wirkte fort in der Hatz auf Lula und unterstützte den Richter Moro bei seiner umstrittenen juristischen Verfolgung des PT-Chefs. Eine militante Rechte begann, breite gesellschaftliche Sektoren zu durchdringen.
Andererseits lehnten die Brasilianer die Politik des De-facto-Präsidenten Michel Temer rundweg ab, was im Widerspruch zum Erfolg Bolsonaros steht, der vor allem bei Angehörigen der Mittel- und Oberschicht sowie bei Brasilianern mit einem höheren Schulabschluss punkten konnte. Temer erhielt 2017/18 laut mehreren Umfragen nur noch fünf bis acht Prozent Zustimmung (!). Doch Bolsonaros Wirtschaftsfachmann, der Banker Paulo Guedes, will Temers Programm noch verschärfen. Man sieht, die hochgeputschten Emotionen lassen selbst diesen Widerspruch in der Wahrnehmung der Wähler verschwinden.
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