von Zlatko Percinic
Die Vereinigten Staaten von Amerika steckten in den 1960er und 1970er Jahren in einer tiefen sozialen und religiösen Krise. Von dem angeblich "goldenen Zeitalter" der 1950er entfernte sich Amerika immer mehr. Das zeigt sich auch in der Verbrechensstatistik: während es 1960 bei einer Bevölkerung mit 179.323.175 Einwohnern insgesamt 3.384.200 registrierte Fälle eines Verbrechens gab (davon 288.460 gewalttätige Fälle; 9.110 Morde und 17.190 Vergewaltigungen), waren es 1979 bei einer Bevölkerungszahl von 220.099.000 Menschen, insgesamt 12.249.500 registrierte Verbrechen (davon 1.208.030 gewalttätige Fälle; 21.460 Morde und 76.390 Vergewaltigungen).
Anders ausgedrückt, ist bei einem Bevölkerungszuwachs von 40.775.825 (+ 22,7 Prozent), die Verbrechensrate um fast 262 Prozent gestiegen, die Mordrate um 135,6 Prozent und die Zahl der Vergewaltigungen um 344,4 Prozent geradezu explodiert!
US-Präsident Lyndon Johnson sprach nach den Rassenunruhen von 1967 in Detroit von einem "Zusammenbruch von Recht und Ordnung", weshalb er 5.000 Soldaten zusätzlich in die Autostadt entsandte, um den bereits 8.000 Mann der Nationalgarde von Michigan bei der Niederschlagung der Proteste unter die Arme zu greifen. Diese Unruhen waren ein Schlag ins Gesicht von Johnson, der bei seinem Wahlkampf drei Jahre zuvor einen "Krieg gegen die Armut" und die Bildung einer neuen "Großen Gesellschaft" versprach. Sein Reformprogramm, das im Grunde an den New Deal von Roosevelt und Fair Deal von Truman anknüpfen wollte, pumpte zwar viel Geld in den sozialen Ausbau und in den Umweltschutz, flog ihm dann aber in Detroit praktisch dennoch "um die Ohren".
Johnsons Reformen entsprangen allerdings nicht unbedingt einer Vision, sondern waren viel mehr eine Reaktion auf den einsetzenden Zerfall von Werten, die die USA einst hochlobten. Dies machte er bei einer Rede in Dayton/Ohio während den Halbzeitwahlen von 1966 deutlich:
Was Erfolg bedeutet, ist eine Frage, mit der sich diese Generation von amerikanischen Jugendlichen auseinandersetzen muss. Weil eine Demokratie nicht ohne eine Philosophie überleben kann. Und Demokratie kann nicht ohne einen Zweck fortgeführt werden. Und wenn mehr als die Hälfte der Menschen jung sind, muss eine Demokratie ihre Jugend fragen: Was ist eure Philosophie? Demokratie muss ihre Jugend fragen: Was ist euer Sinn des Lebens?
Genau dieser Frage widmete sich ein Professor für Politische Philosophie an der University of Chicago: Leo Strauss. Im hessischen Kirchhain geboren, verließ Strauss noch vor der Machtübernahme der Nazis Deutschland, floh zuerst nach Paris und 1938 weiter nach New York. Sechs Jahre später erhielt er bereits die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
Für Leo Strauss stand fest, dass die Aufklärung und der Liberalismus nichts Gutes bringen, sondern stattdessen zu einer zerstörerischen Kraft für die Gesellschaft werden würden. Seine Studenten in Chicago lehrte er, dass das, was als Vorbild einer liberalen Gesellschaft in einer Demokratie galt, die Samen der eigenen Zerstörung in sich trage.
Der einzige Weg aus dieser vermeintlichen Misere sei, so glaubte Strauss, dass die Politiker mächtige und inspirierende Mythen erschaffen sollten, an die die Menschen glauben könnten. Diese Mythen mögen vielleicht nicht wahr sein, aber für den Zusammenhalt der Gesellschaft seien sie absolut unumgänglich. Der Philosophie-Professor glaubte, dass es für die Politiker der USA nur zwei Möglichkeiten gäbe, solch einen Mythos zu erschaffen: Religion und Nation. Da die Religion aufgrund der eigenen Geschichte und der verfassungsmäßigen Verankerung der Trennung von Staat und Kirche (noch) nicht so recht in Frage kam, blieb also nur die Nation übrig.
Das war die Geburtsstunde der Strauss´schen Lehre einer "einzigartigen amerikanischen Nation", deren Schicksal es sei, gegen die Kräfte des Bösen auf der Welt anzutreten und es auch ultimativ zu besiegen.
Sowohl der Professor als auch seine Studenten sahen sich in ihrer Philosophie letztlich bestätigt, als die Gesellschaft in den 1960er Jahren einen scheinbar irreversiblen Abstieg einschlug. Die Antwort von Präsident Lyndon Johnson auf diese Entwicklung irritierte viele von ihnen. In der BBC-Dokumentation "The Power of Nightmares" ("Die Macht von Albträumen") äußerte sich Irving Kristol, der "Pate des Neokonservatismus" - wie ihn Die Welt charakterisierte - folgendermaßen zu Johnsons Reformen:
Hätten Sie irgendeinen Liberalen 1960 gefragt, ob die Verbrechen steigen würden, Drogenabhängigkeit steigen würde, Illegitimität steigen würde, oder ob sie sinken würden, wenn wir diese Gesetze verabschieden, diese Gesetze, diese Gesetze und diese Gesetze, tatsächlich alle Gesetze erwähnen, die in den 1960er und ´70er verabschiedet wurden. Was würden Sie sagen? Höchstwahrscheinlich hätte jeder gesagt, dass sie sinken würden. Und sie alle hätten falsch gelegen. … Sie hatten ihre Reformen und diese haben zu Konsequenzen geführt, die sie nicht erwartet haben und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Zu den Studenten von Leo Strauss gehörte nebst Francis Fukuyama, Paul Wolfowitz auch Irving Kristols Sohn William, der die Lehren des Chicagoer Professors in Harvard studierte. William Kristol ist Verleger des The Weekly Standard, eines erzkonservativen Magazins. Zusammen mit Robert Kagan, Ehemann von Victoria Nuland, gehört Kristol zu den Gründern des neokonservativen Project for the New American Century (PNAC), deren wichtigstes Werk die Schrift "Rebuilding America´s Defenses: Strategy, Forces and Resources for a New Century" aus dem Jahr 2000 stammt.
Es wird oft behauptet, dass PNAC den Zenit der Macht der Neokonservativen erreichten, die zusammen mit George W. Bush in das Weiße Haus eingezogen waren. Dass ist aber so nicht ganz richtig. Sie feierten bereits viel früher die ersten Erfolge, lange bevor man überhaupt von Neocons sprach.
Der erste Sieg war der Einzug von Donald Rumsfeld und Dick Cheney in das Kabinett als Verteidigungsminister bzw. als Stabschef von US-Präsident Gerald Ford 1974. Was sie sofort als Ziel eines Gegenangriffs auerkoren, war die Annäherung zwischen Washington und Moskau, die Henry Kissinger eingeleitet hatte. Rumsfeld begann umgehend, die Sowjetunion mit Anschuldigungen zu überhäufen und verschärfte den Ton spürbar. Sie versuchten die Sowjetunion als das ultimative Böse der Welt darzustellen und unterstellten Dinge, die selbst bei der CIA für Kopfschütteln sorgten. Melvin Goodman, von 1976 bis 1987 Leiter der Abteilung Sowjetunion der CIA, sagte in der BBC-Dokumentation dazu:
Und Rumsfeld hat diese sehr erbitterte Schlacht gewonnen, die 1975 und 1976 in Washington geführt wurde. ... Jetzt, als Teil der Schlacht, wollten Rumsfeld und andere, Leute wie Paul Wolfowitz, in die CIA einsteigen. Und ihre Mission war es, eine sehr viel strengere Sicht auf die Sowjetunion zu erschaffen, über sowjetische Absichten, sowjetische Ansichten, über die Kriegsführung und über einen Sieg in einem Nuklearkrieg.
Teil dieses manichäischen Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis, war ein geheimer Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion in dem südafrikanischen Staat Angola. Der bisher ranghöchste CIA-Aussteiger mit persönlichen Kenntnissen über diese geheimen Kriege der USA ist John Stockwell. Nach seinen Erfahrungen im Vietnamkrieg fing er an, unbequeme Fragen zu stellen, und wurde prompt zurechtgestutzt. Seine Fragen sprach er nun nicht mehr gegenüber Vorgesetzten aus, aber die Erfahrungen, die er in Asien, Mittelamerika und Afrika machte, überzeugten ihn davon, dass die USA mit diesen Kriegen weder etwas für die nationale Sicherheit noch für sonst irgendetwas Gutes tun.
Damit stand John Stockwell gegen die Überzeugung von Rumsfeld, Cheney, Kristol und der anderen Neokonservativen. Für sie war zweifelsfrei klar, dass die USA diese offenen und geheimen Kriege gegen die Sowjetunion führen müssten, um die Welt vor dem Bösen zu bewahren. Was die dafür brauchten, war Angst. Und zwar große Angst. Seiner Meinung nach ist es "die Aufgabe der CIA die Welt instabil zu halten, das zu propagieren und das amerikanische Volk zu hassen lehren, damit wir das Establishment so viel Geld für Waffen ausgeben lassen können, wie sie wollen".
Um Präsident Ford davon zu überzeugen, wie gefährlich die Sowjetunion ist und dass der Kreml in Wahrheit nach Wegen sucht, die USA zu vernichten, errichteten Rumsfeld und Cheney ein Untersuchungsgremium mit dem Namen "Team B". Leiter dieses Gremiums war Professor Richard Pipes, ein polnischer Jude, der nach dem Überfall der Nazis auf Polen in die Vereinigten Staaten geflohen war. Er ist der Vater des noch heute einflussreichen Neokonservativen und Islamkritiker Daniel Pipes.
Die Aufgabe von "Team B" war es, CIA-Berichte über die Sowjetunion zu durchforsten, um endlich Beweise über die angebliche sowjetische Bedrohung zu finden, von denen Rumsfeld öffentlich sprach. Doch Pipes und sein Team konnten nichts finden und die Zusammenarbeit mit der CIA wurde immer schwieriger. Sie wurde sogar so schlimm, dass der Geheimdienst dem Team B vorwarf, "in eine Phantasiewelt" abzutauchen. Dr. Anne Cahn leitete die Abteilung "Social Impact" ("soziale Auswirkung") der Rüstungskontroll- und Abrüstungsagentur der US-Regierung, und meinte dazu:
Ich würde sagen, dass das alles Phantasie war. Ich meine, sie (Plan B - Anm.) haben auf die Radare draußen in Krasnojarsk geblickt und sagten, "Das ist eine Laserwaffe", obwohl es in Wirklichkeit nichts dergleichen war. Sie haben sogar ein russisches Militärhandbuch genommen, mit dem korrekt übersetzten Titel "Die Kunst des Siegens". Und als sie es übersetzt und im Team B eingesetzt haben, nannten sie es "Die Kunst des Eroberns". Nun, es gibt einen Unterschied zwischen "erobern" und "siegen". Und wenn man durch sämtliche spezifische Anschuldigungen des Team B über Waffensysteme geht, und man sie Eins zu Eins überprüft, waren sie alle falsch.
Doch die Wahrheit spielte keine Rolle mehr, genauso wie es Leo Strauss vorausgesagt hatte. Um ihre Version der Wahrheit unters Volk zu bringen und so den Druck auf die Bevölkerung mit einer diffusen Angst vor der Sowjetunion zu überziehen, reaktivierte Team B ein seit 1950 stillgelegtes Propagandaprogramm mit dem Namen "The Committee on the Present Danger" ("Komitee zur gegenwärtigen Gefahr"). Diesem Komitee schlossen sich nicht nur Intellektuelle an, sondern auch immer mehr Politiker. Darunter auch ein ehemaliger Hollywood-Schauspieler und Präsidentschaftskandidat, Ronald Reagan.
Die Propaganda dieses "Komitees zur gegenwärtigen Gefahr" veröffentlichte 1978 ein Video mit dem Titel "The Price of Peace and Freedom" ("Der Preis von Frieden und Freiheit"), worin eine Welt gezeigt wurde, in der die USA durch verborgene Kräfte bedroht wird. Das einzige Mittel gegen diese Bedrohung - und somit der Preis für die Freiheit, für die USA wohlgemerkt – wäre es, diese Kräfte niederzuwerfen. Die Neokonservativen hatten es geschafft, eine Fiktion zu erschaffen, in der die Sowjetunion das Zentrum des Bösen darstellt und die USA das einzige Land ist, das die Erde vor diesem Unheil retten und beschützen kann.
Dass Ronald Reagan die Präsidentschaftswahlen 1980 nach dem gescheiterten Versuch von 1976 gewann, verdankte er nicht zuletzt dem bisherigen Amtsinhaber Jimmy Carter. Ihm wurde Liberalismus unterstellt, und zwar gleichermaßen seitens seiner Unterstützer wie seiner Gegner, die alle in ihm einen Modernisierer und Reformer sahen. Bei Umfragen vor den Wahlen sagten viele, dass Reagan das Land wieder in einen Krieg stürzen würde und man Angst vor seiner konservativen Haltung habe. Diese Angst kam nicht von ungefähr: Mit einer Koalition von Evangelikalen und Neoliberalen positionierte sich Reagan viel weiter rechts als Carter. Am Ende aber war es die Revolution im Iran und die Besetzung der US-Botschaft in Teheran, die Carter in der Wahrnehmung der US-Bevölkerung als Schwächling erscheinen ließen.
Nach der gewonnenen Wahl zeichnete US-Präsident Ronald Reagan ein immer apokalyptischeres Bild der Sowjetunion. Die Welt sei zu einem gefährlichen Ort geworden, das Böse lauere überall und würde von Moskau aus gesteuert. Es ist daher kein Zufall, dass Reagan seine berühmte Rede über das "Reich des Bösen" an der Jahresversammlung der Nationalvereinigung der Evangelikalen am 3. August 1983 in Orlando/Florida hielt. Ein Jahr später wurde Reagan auf seiner Ranch in Kalifornien erwischt, wie er leichtfertig über den Beginn des Dritten Weltkrieges scherzte:
Liebe Landsleute, ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung.
Diese Dämonisierung der Sowjetunion und das mutwillige Heraufbeschwören einer Bedrohungslage für die Vereinigten Staaten von Amerika wurde Anfang 1984 durch den ehemaligen Diplomaten William Averell Harriman scharf attackiert. In der New York Times schrieb er:
Präsident Reagan hatte seine faire Chance, und er kann nicht mehr länger erwarten, dass die Amerikaner seine Politik unterstützen, die unsere Beziehungen zur Sowjetunion gefährlicher machen, als sie es je zu einem Zeitpunkt in der letzten Generation waren. Das ist das grimmige Resultat der Diplomatie der Reagan-Regierung: Sollten die gegenwärtigen Entwicklungen der Nuklearwaffen und der US-Sowjetischen Beziehungeno so weitergehen, könnten wir nicht (nur) das Risiko, sondern die Realität eines nuklearen Krieges erleben.
Aber das war die Stimme eines Einzelnen. Die Propaganda der Neokonservativen hatte einen so durchschlagenden Einfluss auf Millionen von Menschen, gerade auch unter den Evangelikalen, die zuvor keinen wesentlichen Faktor bei Wahlen gespielt hatten. Die Angst vor dem Bösen, die Angst vor einem Nuklearschlag fand auch ihren Eingang durch eine Religion, die sich aus apokalyptischen Bildern nährte und mit Endzeitstimmung auf das Zweite Kommen von Jesus Christus vorbereitete.
James Robison ist ein christlicher Fundamentalist und Televangelist mit einer eigenen Fernsehsendung, die weltweit in Millionen von Haushalten empfangen wird, und 1984 bereits 11,4 Millionen US-Haushalte erreichte. Bei einer Veranstaltung der Republikaner machte er seinen und auch den Standpunkt vieler Millionen von Evangelikalen in den USA klar:
Es macht mich krank und müde von all den Radikalen und Perversen und den Liberale zu hören, und von den Linken und den Kommunisten, die aus ihren Kämmerchen kriechen. Es ist an der Zeit für das Volk Gottes, aus seiner Kammer zu kommen. Kommt heraus aus den Kirchen und verändert Amerika. Wir müssen es tun.
Das war der Moment in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, als der Mythos von einer einzigartigen Nation seine Symbiose mit religiöser Symbolik einging. Von da an spielte die Wahrheit überhaupt gar keine Rolle mehr. Was zählte, war nicht das, was wirklich geschah, sondern das, wie man am besten diese Kräfte des Bösen besiegen könnte. Das vielleicht herausragendste Produkt dieser imaginierten Bedrohungslage war Reagans Plan eines "Star Wars"-Raketenabwehrprogramms. Das "Project Fear" hatte die USA nun fest im Griff und ließ es seitdem nie wieder los.
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