Am Mittwoch trifft Kanzlerin Merkel in China ein, um dort wohl die ewig gleichen haltlosen Vorwürfe aufzutischen: China müsse sich an Regeln der Rechtsstaatlichkeit und des fairen Wettbewerbs halten. Dabei ist die Welt von den Vorteilen einer Zusammenarbeit mit China längst überzeugt. Frau Merkel sollte einen für Deutschland eher peinlichen Auftritt vermeiden und sich stattdessen endlich der Seidenstraßen-Initiative anschließen.
von Stephan Ossenkopp
Mindestens einmal im Jahr, so behauptet Kanzlerin Angela Merkel in Ihrem jüngsten Podcast, würde sie China besuchen. Das letzte Mal war es jedoch im Jahr 2016 im Rahmen der regelmäßig seit 2011 stattfindenden deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen und beim ohnehin obligatorischen G20-Gipfel, der in der chinesischen Stadt Hangzhou stattfand. Dieses Jahr sind ebenfalls die vertraglich vereinbarten Regierungskonsultationen der Grund ihres Besuchs, also erneut lediglich ein Pflichttermin.
Ausgerechnet jedoch im Jahr 2017, als 29 Staats- und Regierungschefs und Spitzenvertreter aus 100 Ländern in Peking beim historischen Auftakt des „Belt and Road Forum for International Cooperation“ zusammentrafen, um die Weichen der Welt in eine neue Richtung zu stellen, fehlte sie. Der Form halber schickte sie fast unbemerkt von der Öffentlichkeit die damalige Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries vor. Merkel nahm, so schrieb das Handelsblatt, „lieber Termine zur Unterstützung von CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet im NRW-Wahlkampf wahr“.
Das ist schon mehr als erstaunlich, ging es doch um den offiziellen Start eines Projekts, das laut einer im Jahr 2016 herausgegebenen Analyse von Price Waterhouse Cooper, einer der größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt, 65 Staaten mit mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung miteinander verbindet, und rund 30 Prozent der Weltwirtschaft und einen Bedarf an Infrastrukturinvestitionen von fünf Billionen US-Dollar involviert. Dieses auch „Neue Seidenstraße“ und „Maritime Seidenstraße für das 21. Jahrhundert“ genannte Unterfangen, das der chinesische Staatspräsident Xi Jinping 2013 ins Leben rief, ist damit das weitaus umfangreichste Wirtschaftsaufbauprogramm der Welt, das niemand, erst recht nicht das Industrieland Deutschland, ignorieren kann.
Doch genau das tut das Kanzleramt in Berlin. Der chinesische Außenminister Wang Yi stellte im März 2018 auf seiner Pressekonferenz am Rande der ersten Sitzung des 19. Parteikongresses fest, dass mittlerweile 80 Staaten offiziell mit China an der Neuen Seidenstraße kooperierten. In über 7.200 Infrastruktur- und andere Wirtschaftsprojekte sind bereits weit über 140 Milliarden US-Dollar investiert worden. Das Handelsvolumen zwischen China und 71 „Belt and Road“-Staaten, wie man sie bereits nennt, wächst in rekordverdächtiger Höhe, und zwar bei ziemlich ausgeglichener Bilanz. Nutznießer sind also tatsächlich beide Seiten.
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Diese und andere Fakten werden im Berliner Kanzleramt und im deutschen Außenministerium schlichtweg ausgeblendet. Dies wird sicher der Grund gewesen sein, warum am 19. März Professor Dr. Heinrich von Pierer, ehemaliger Vorstandsvorsitzender und Aufsichtsratschef von Siemens und langjähriger Vorsitzender des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, im Focus einen deutlichen Kommentar an die beiden Adressen richtete:
Bleiben wir weiter in einer mehr passiven Zuschauerrolle und warten ab, wie es weitergeht? Oder definieren wir klar unsere eigenen Interessen und streben frühzeitig eine Partnerschaft, strategische Partnerschaft nennt man das ja wohl heute, mit den Chinesen an? Die Frage ist, was können wir dabei gewinnen, was verlieren? Ist das Risiko, bei diesem Jahrhundertprojekt nicht dabei zu sein nicht grösser als das zweifellos auch vorhandene Risiko einer aktiven Teilnahme? Nehmen wir die Chinesen doch beim Wort!
Der zu der Zeit neu ernannte Außenminister Heiko Maas solle sich dazu bald eine Meinung bilden, und spätestens wenn Frau Merkel nach China reise, würde man wohl Farbe bekennen müssen, schrieb von Pierer. Seine Ermahnung wird vermutlich ins Leere gehen.
Deutschland braucht die Neue Seidenstraße
„All diejenigen von den chinesischen Investoren, die in letzter Zeit in Deutschland Firmen übernommen haben, sichern hier Arbeitsplätze und ändern an dem Status der Unternehmen nichts,“ sagte die ehemalige Wirtschaftsministerin Zypries im Mai 2017, kurz vor der Abreise zum Belt and Road-Forum nach Peking, und fügte hinzu:
Aber was in China immer wieder imponierend ist, ist die Freude und die Leichtigkeit, mit der bestimmte Dinge ausprobiert werden, mit der man einfach anfängt, zu produzieren und versucht, etwas hinzubekommen.
Natürlich ist es viel mehr als nur das. Mit der von Deng Xiaoping vor 40 Jahren durchgesetzten Öffnungspolitik hat sich ein „Sozialismus mit chinesischen Charakteristika“ durchgesetzt, der hunderte von Millionen von Chinesen aus bitterer Armut befreit und die größte Mittelschicht der Welt geschaffen hat. Chinas eigenes Wirtschaftswunder verändert die historischen Maßstäbe und stellt den Marschallplan weit in den Schatten. Chinas Infrastruktur, Städte, Häfen, Forschungszentren und Industriezonen haben den Westen in puncto Modernität an vielen Orten bereits längst überholt.
Die Belt and Road-Initiative bietet dieses Modell allen Staaten der Weltgemeinschaft nun zur Kooperation an. Das hat für einen gehörigen Stimmungswandel und einen Schub an Optimismus in den Entwicklungs- und Schwellenländern geführt, deren Bedürfnisse von den G7-Staaten und den Finanzinstitutionen nie ernsthaft aufgegriffen worden sind. Zudem haben sich die bislang führenden Industrieländer selbstverschuldet in eine Sackgasse manövriert. Das Finanzsystem ließ sich bislang trotz massiver Interventionen durch Staatshaushalte und Zentralbanken nicht aus der Bankrottzone hieven, die Infrastruktur in zahlreichen westlichen Ballungsräumen erleidet Infarkte, und notwendige neue Großprojekte werden von der EU kaputtreguliert.
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Es scheint, dass es in Brüssel nicht nur Abteilungen für Gurkenkrümmungen und Glühbirnen gibt, sondern auch für sämtliche Käfer- und Fledermausarten, in deren Namen man den Fortschritt zurückschneidet. Wenn man dann noch die Sanktionsspirale gegen Russland, die ideologisch motivierte Energiewende und die drastischen Kürzungen bei den kommunalen Haushalten – Stichwort „schwarze Null“ - hinzurechnet, verstärkt sich der Eindruck, Deutschland und seinesgleichen fahre schnurstracks gegen die Wand. Da wäre es doch auch im Interesse der hiesigen Öffentlichkeit, diese systemischen Fehler zu beheben, das offenbar gescheiterte Paradigma abzulegen, sich auf bewährte Tugenden zu besinnen, sich mit Chinas Wirtschaftssystem stärker zu vernetzen und im Tandem gemeinsame Zukunftsziele zu definieren, von denen die Beseitigung der Armut auf dem Afrikanischen Kontinent und der Bau von stabilisierenden Infrastrukturprojekten im Nahen Osten nur die offensichtlichsten wären.
Auch in Deutschland, wie Frau Zypries zurecht bemerkte, erhalten und schaffen Gemeinschaftsprojekte mit China langfristig Arbeitsplätze. Zudem öffnet man deutschen Unternehmen die Märkte Chinas und der Belt and Road-Staaten, was den Absatz beliebter deutscher Markenprodukte für die kommenden Jahrzehnte garantieren würde. Die Europäische Union untersagte den beim Belt and Road-Forum im Mai 2017 anwesenden Repräsentanten ihrer Mitgliedsstaaten dann jedoch, die Abschlusserklärung zu unterzeichnen. Das Projekt sei nicht auf der Höhe internationaler Standards, hieß es lapidar.
Reziprozität – ein Begriff aus der imperialen Mottenkiste
Mitte April dieses Jahres wurde nachgelegt. Das Handelsblatt zitierte aus einer Erklärung, in welcher 27 von 28 EU-Botschaftern in Peking die Seidenstraßen-Initiative ablehnten. Man fühle sich ungleich behandelt und bereite deswegen eine Gegenposition vor, die im kommenden Juli auf einem EU-China Gipfel präsentiert werden solle. Kanzlerin Merkel kündigte bereits an, bei ihrer jetzigen Reise neben der Entwicklung Chinas auch über die Themen Rechtsstaatlichkeit und über internationale Streitfragen bei Handel, Investitionen und geistigem Eigentum zu sprechen. Es solle um „Reziprozität“ gehen.
Was mit diesem scheinbar harmlosen Begriff gemeint ist, hat der Spiegel diese Woche deutlicher ausgedrückt. “Was der andere darf, darf ich auch – und umgekehrt.“ Das Magazin zitiert ausgiebig aus einer Studie der Denkfabrik Merics (Mercator Institute of China Studies), mit der man die politischen Argumente in ein wissenschaftliches Gewand einhüllen will. „Der Mangel an Reziprozität verletzt Prinzipien der Fairness, auf die die ökonomische Nachkriegsordnung aufgebaut war“. Deutschland solle China mehr entgegensetzen und den Druck erhöhen.
Auf ausführlichen acht Seiten liefert der Spiegel-Artikel eine groteske Kulisse aus Vorurteilen: Bedrohung, Ausverkauf, ausgeliefert sein, Know-how abschöpfen, trojanisches Pferd, Beuteschema. Das Kalkül: wenn ich den Deutschen nur gehörig Angst damit mache, China wolle durch Firmenübernahmen im Technologiesektor Wissen abgreifen, um damit Deutschland im Bereich entwickelter Produktionstechniken hinwegzufegen, dann werden sie keine eigenmächtigen Schritte im eigenen Interesse unternehmen und mit China ein für beide Seiten Vorteile bringendes Abkommen schließen.
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Das Argument der Reziprozität und der Gleichbehandlung ist nur Blendwerk aus der Trickkiste des Imperialismus - im wahrsten Sinne des Wortes, denn sogenannte „Reziprozitätsverträge“ schloss das British Empire mit seinen Kolonien ab. Die Verfechter einer solchen Vorgehensweise, vor allem Adam Smith und John Locke, benutzten die Reziprozitätsdoktrin als Rechtfertigung der britischen Freihandelsideologie. Das britisch-imperiale „Mutterland“ lieferte die Waren, die exklusiv in technisch überlegenen englischen Manufakturen hergestellt werden konnten, und die Kolonie erhielt bestimmte Vorzüge beim Handelsverkehr, durfte jedoch keine eigenen konkurrenzfähigen Manufakturen aufbauen. Das System Adam Smiths sollte als Weg zur Überlegenheit eines Weltsystems über alle Nationen dienen, zu einer Art globalem Empire – etwas, das die von Smith inspirierte neoliberale Elite heute Globalisierung nennt.
Das historische Gegenmodell dazu war das von Friedrich List und Henry C. Carey entwickelte System der Politischen Ökonomie, das die Entwicklung der Produktivkräfte aller Nationen in den Vordergrund stellt. Die Gemeinschaft der Staaten der Welt stellt darin nicht lediglich eine Gruppe von Sklaven eines privat gemanagten Monopols in Handel und Finanzen dar, sondern im Gegenteil eine möglichst harmonische Gemeinschaft souveräner und zur Vervollkommnung der Kräfte strebenden Einheiten. Die EU stellt in der heutigen Welt leider das supranationale Privatmonopol dar, die Belt and Road-Staaten unter Führung Chinas dagegen die auf Höherentwicklung gerichtete Gemeinschaft der Menschheit.
Diese beiden voneinander grundverschiedenen Paradigmen können natürlich nicht ohne Auseinandersetzungen gleichzeitig existieren, aber das Problem der EU ist, dass die Neue Seidenstraße für die Mehrheit der Nationen das wesentlich attraktivere Modell geworden ist und potenziell einen notwendigen Quantensprung in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte bedeutet. Daran werden die zahllosen Medienkampagnen und Verteufelungsversuche gegenüber China nicht das geringste ändern. Sollten die wahnsinnigsten unter den Geopolitikern und Neoimperialisten eine kriegerische „Lösung“ dieser Fragen ernsthaft in Betracht ziehen, wie sie es in vergangenen Jahrhunderten getan haben, dann werden auch sie zu den Verlierern gehören.
Es läge doch näher, dass die verständigeren Kreise, gerade in Deutschland, die Vorteile der Belt and Road-Initiative in der Öffentlichkeit endlich frei von Vorurteilen zur Diskussion stellen, wie es in zahlreichen anderen Staaten der EU längst geschieht, allerdings sehr zum Unbehagen der Brüsseler Elite. Es wäre zwar ein Wunder, sollte Angela Merkel bei Ihrem Besuch in China spontan die konfrontative EU-Terminologie verwerfen und für Deutschland ein Belt and Road-Abkommen schließen, aber ganz unmöglich ist das in Zeiten eines historischen Umbruchs auch wieder nicht.
Der Autor ist Mitglied des internationalen Schiller-Instituts und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Berater.
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