Von Andrei Rudenko
Gerüchte, dass Russlands Armee bald Charkow befreien werde, kursieren in der ausländischen und pseudorussischen liberalen Presse seit gut einer Woche. Was auch immer daran wahr sein sollte, die Luftangriffe auf die Stadt haben in den jüngsten Tagen tatsächlich zugenommen. So klagte Charkows Bürgermeister Igor Terechow gegenüber dem ukrainischen Nachrichtenportal LIGA.net, dass die Energieversorgung der Region am Ende ist. "Praktisch die ganze kritische Energieinfrastruktur ist bereits zerstört, die private ist ebenfalls zerschlagen", behauptete er. Terechow zufolge bestehe der Grund nicht im Anrücken der russischen Armee, sondern im Einsatz neuer Munitionsarten. Gegenwärtig wird Charkow sowohl mit Flugbomben, als auch mit Raketen, als auch mit Drohnen angegriffen. Dabei wird die ukrainische Luftabwehr immer schwächer, und immer mehr militärische und infrastrukturelle Objekte werden getroffen.
So schalteten Russlands Streitkräfte in der vergangenen Woche die wichtigsten Energiequellen aus: das Wärmekraftwerk Smijow mit einer Leistung von 2.200 Megawatt und das Charkower Heizkraftwerk 5 mit einer Leistung von 540 Megawatt. Das Wärmekraftwerk Smijow ist vollständig zerstört. Um zu verstehen, was dies für die Ukraine bedeutet, sei an dieser Stelle angeführt, dass es nicht nur das Gebiet Charkow, sondern auch die benachbarten Gebiete Poltawa und Sumy mit Energie versorgt hatte. Nach Angaben des ukrainischen Kraftwerkbetreibers Zentrenergo wurden alle Blöcke vernichtet und die Hilfsausrüstung beschädigt. Das Charkower Heizkraftwerk 5 ist Behauptungen des Unternehmensleiters zufolge ebenfalls stark zerstört, die Ausrüstung der Energieblöcke – Turbinen, Generatoren etc. – müsse neu gebaut werden. Ganz zu schweigen von Umspannwerken, die ebenfalls zerstört wurden. Sowohl das Wärmekraftwerk als auch das Heizkraftwerk können prinzipiell wiederaufgebaut werden, doch das wird vermutlich Jahre in Anspruch nehmen.
Zusätzlich behauptete Terechow, dass der Schaden nach vorläufigen Schätzungen ungefähr zehn Milliarden US-Dollar beträgt. Hier scheint er sich verschätzt zu haben: Allein der direkte Schaden wird mehr betragen. Den indirekten Schaden hat noch niemand berechnet: Stilllegung der Industrie, Zusammenbruch von Privatunternehmen, logistische Katastrophe. Ich vermute, dass die Energieverluste der Ostukraine und des Landes insgesamt regelrecht kolossal sind. Nach den Treffern fiel in Charkow für zwei Tage der Strom aus, doch inzwischen wurde eine Strom- und Wasserversorgung nach Zeitplan eingerichtet, mit Abschaltungen für sechs Stunden pro Tag. Die Vernichtung der Leistungskapazitäten wird mit Energie aus anderen Regionen kompensiert. Doch was, wenn Russland die Taktik der Vernichtung der kritischen Infrastruktur auf andere Regionen der Ukraine ausweitet?
Nach dem Stand vom 1. April verbleiben neun von 14 Wärmekraftwerke unter Kiews Kontrolle, die restlichen fünf fielen unter russische Kontrolle. Die bei Charkow am nächsten gelegene Wärmekraftwerke sind das Kraftwerk Saporoschje im gleichnamigen Gebiet mit einer Leistung von 2.850 Megawatt, das Kraftwerk Tripolje im Gebiet Kiew mit 2.256 Megawatt, das Kraftwerk Kurachowo im Gebiet Donezk mit 1.527 Megawatt und das Dnjepr-Kraftwerk im Gebiet Dnjepropetrowsk mit 1.195 Megawatt. Dabei bestehen Gründe zur Annahme, dass die Kraftwerke Saporoschje und Kurachowo sehr bald an Russland fallen könnten. Während sie aber unter ukrainischer Kontrolle stehen, ist die Wahrscheinlichkeit ihrer Zerstörung um ein Vielfaches höher. Dabei ist die Baufestigkeit dieser Objekte nicht bekannt, und manche wurden schon in vergangenen Wochen getroffen.
Natürlich wird Kiew Russland vorwerfen, eine humanitäre Krise zu erzeugen, doch man möchte die Ukrainer fragen: Womit habt ihr gerechnet, als ihr Belgorod angegriffen hattet? Habt ihr die Folgen bedacht, als ukrainische Drohnen das Kernkraftwerk Rostow angriffen? Es scheint, als habe Kiew nicht mit einer Antwort gerechnet, die die Ukraine in eine Starre versetzen würde. Diese Naivität in Verbindung mit Infantilismus ist schon rührend. Und nach der Tragödie in der Crocus City Hall sollte sich die ganze Ukraine auf etwas gefasst machen und verstehen, dass die Zeit des Humanismus der Armee Russlands vorbei ist und dass es von nun an ernst werden könnte.
Übersetzt aus dem Russischen.
Andrei Rudenko arbeitet für die russische staatliche Rundfunkanstalt WGTRK und berichtet seit 2014 über das Kriegsgeschehen im Donbass. Man kann ihm auf seinem Telegram-Kanal folgen.
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