Von Sergei Karaganow
Die extrem gefährliche Welt der kommenden zwei Jahrzehnte erfordert eine Korrektur der russischen Außen- und Verteidigungspolitik. Sie sollte auf dem Konzept der "Festung Russland" beruhen, die keine Autarkie, sondern größtmögliche Autonomie, Souveränität, Sicherheit, Unabhängigkeit und Konzentration auf die innere Entwicklung darstellt.
Europa – einst das strahlende Vorbild für uns und viele andere Nationen – bewegt sich rasch auf die geopolitische Bedeutungslosigkeit und (ich hoffe, dass ich mich irre) auf den Verfall zu. Der immer noch reiche europäische Markt ist es wert, dass man ihn nutzt, doch der Hauptvektor in Bezug auf den europäischen Subkontinent ist die moralische und politische Entkopplung Russlands von Europa. Nachdem sie zuerst ihre Seele – das Christentum – verloren haben, verlieren sie nun auch die Früchte des Zeitalters der Aufklärung – den Rationalismus. Hinzu kommt, dass die Eurokratie selbst auf Geheiß von außen Russland die Zurückweisung aufdrückt. Wir sollten ihr danken.
Der Bruch mit Europa ist für viele Russen keine leichte Angelegenheit. Aber er muss so schnell wie möglich vollzogen werden. Natürlich sollte die Trennung nicht zum Prinzip werden und nicht völlig sein. Doch das Gerede von der Wiedererrichtung eines europäischen Sicherheitssystems ist eine gefährliche Schimäre. Systeme der Zusammenarbeit und der Sicherheit sollten von nun an im Rahmen des Kontinents der Zukunft – Großeurasien – aufgebaut werden, wobei die europäischen Länder dazu eingeladen werden sollten, die Interesse daran haben und auch für uns von Interesse sind.
Die Politik der "Festung Russland" erfordert ein Höchstmaß an Nichteinmischung in die Konflikte, die während des bereits einsetzenden "geostrategischen Erdbebens" ausbrechen werden. Wir können von Glück sagen, dass wir uns nicht in die nächsten armenisch-aserbaidschanischen und israelisch-palästinensischen Konflikte eingemischt haben. Natürlich dürfen wir den Fehler wie in der Ukraine nicht wiederholen, wenn in Nachbarländern antirussische Eliten an die Macht kommen oder diese Länder von außen destabilisiert werden.
Als wir in der Ukraine präventiv (wenn auch verspätet) aktive Militäraktionen gegen den Westen einleiteten, rechneten wir nach alten Vorstellungen nicht damit, dass der Feind einen großen Krieg entfesseln würde. Und wir haben nicht von Anfang an auf aktive nukleare Abschreckung und Einschüchterung gesetzt. Auch heute zögern wir noch. Damit ebnen wir nicht nur den Weg für den Tod von Hunderttausenden und Millionen, wenn wir die Verluste durch die starke Verschlechterung der Lebensqualität der Menschen in der Ukraine, Zehntausende unserer Männer, berücksichtigen, sondern wir erweisen damit auch der ganzen Welt einen Bärendienst. Der Aggressor, der de facto der Westen ist, bleibt ungestraft. Somit wird der Weg für neue Aggressionen geebnet.
Wir haben die Grundlagen der Abschreckungsstrategie vergessen. Die Seite mit dem größeren konventionellen, menschlichen und wirtschaftlichen Potenzial profitiert davon, wenn die Rolle der nuklearen Abschreckung reduziert wird, und umgekehrt. Der verstärkte Rückgriff auf die nukleare Abschreckung und das beschleunigte Voranschreiten auf der Eskalationsleiter sollen den Westen davon überzeugen, dass er im Falle des militärischen Konflikts in der Ukraine drei Optionen hat. Die erste ist, sich in Würde zurückzuziehen. Die zweite ist, besiegt zu werden, zu fliehen (wie aus Afghanistan) und eine Welle von bewaffneten, auch extremistischen, Flüchtlingen aufzunehmen. Oder – drittens – das Gleiche wie bei zweitens zu bekommen, aber nur mit Atomschlägen auf seinem Territorium und dem damit einhergehenden Zusammenbruch der Gesellschaften.
Es ist Teil der russischen Tradition, europäischen Invasoren eine vernichtende Niederlage zuzufügen und sich dann auf eine neue Ordnung zu einigen.
Genau das tat Zar Alexander I. mit Michail Kutusow und Michael de Tolly in den Jahren 1812 bis 1814 – danach gab es die Vereinbarungen des Wiener Kongresses. Dann besiegte Josef Stalin mit Georgi Schukow, Iwan Konew und Konstantin Rokossowski erneut eine paneuropäische Armee (diesmal unter der Führung Adolf Hitlers), und es wurde das Potsdamer Friedensabkommen geschlossen. Ich bin allerdings nicht einverstanden mit den Argumenten, die für ein weiteres Ende einer solchen Aggression sprechen. Denn um einen solchen Vertrag jetzt abzuschließen, müsste man den Weg für russische Truppen mit Atomwaffen frei machen. Und trotzdem große Verluste erleiden. Auch moralische. Schließlich würde es sich um einen Offensivkrieg handeln. Eine glaubwürdige und verlässliche nukleare Abschreckung und ein Sicherheitspuffer auf dem Territorium der Westukraine sollten die Beendigung der Aggression garantieren. Die militärische Sonderoperation muss bis zum Sieg fortgesetzt werden. Der Feind muss wissen, dass die legendäre russische Geduld ein Ende haben wird, wenn er sich nicht zurückzieht. Und der Tod eines jeden russischen Soldaten wird auf der anderen Seite mit Tausenden von Menschenleben bezahlt werden.
Wenn wir die nukleare Abschreckung in Gang setzen, werden wir nicht nur die Aggressoren einschüchtern, sondern auch der gesamten Menschheit einen unschätzbaren Dienst erweisen. Es gibt keinen anderen Ausweg mehr, um weitere Kriege und einen großen thermonuklearen Konflikt zu verhindern.
Die russische Politik sollte öffentlich von der Tatsache ausgehen, dass die NATO ein feindlicher Block ist, der sich durch seine bisherige Politik als aggressiv erwiesen hat und de facto einen Krieg gegen Russland führt. Daher sind jegliche (auch nukleare Präventiv-)Schläge gegen die NATO moralisch und politisch gerechtfertigt. Dies gilt in erster Linie für die Länder, die aktiv an der Unterstützung der Kiewer Junta beteiligt sind. Die alten und vor allem die neuen Mitglieder des Bündnisses sollten sich darüber im Klaren sein, dass ihre Sicherheit nach dem Beitritt zum Block drastisch geschwächt wurde und die herrschenden Kompradoreneliten sie an den Rand von Leben und Tod gebracht haben.
Unsere Liste der Ziele für nukleare Vergeltungsschläge muss angepasst (und auch teilweise veröffentlicht) werden. Wir müssen klarer darüber sprechen, wen wir abschrecken wollen. Es ist nicht sicher, dass für die westliche globalistische Oligarchie die Androhung eines Vergeltungsschlags selbst auf dem Territorium ihrer eigenen Länder eine ausreichende Abschreckung darstellt. Vereinfacht gesagt, kümmert sie sich nicht einmal um das Wohlergehen ihrer eigenen Bürger und lässt sich auch nicht durch Verluste unter ihnen abschrecken.
Vielleicht sollten wir die Orte, an denen sich diese Oligarchie versammelt, als Ziele der ersten Welle, sogar präventiver Vergeltungsschläge, ins Auge fassen? Die globalistische Oligarchie oder der "tiefe Staat" sollten keine Hoffnung haben, dass sie wie Noah und seine fromme Familie und die Tiere auf der Arche gerettet werden würden.
Die Hauptaufgabe besteht darin, die anrollende Welle von Konflikten und somit ein Jahrhundert der Kriege und ihre Eskalation bis zur globalen thermonuklearen Ebene zu verhindern.
Deshalb ist es notwendig, die nukleare Abschreckung unabhängig vom Krieg in der Ukraine auszubauen. Im Anschluss an die bereits unternommenen oder geplanten Schritte wäre es meines Erachtens ratsam, die Atomwaffentests rasch wiederaufzunehmen. Zunächst wäre es ratsam, die Zar-Bombe 2 auf Nowaja Semlja zu testen und dabei den Schaden für die Natur des eigenen Landes und befreundeter Staaten der Weltmehrheit zu minimieren.
Früher oder später wird die offizielle russische Nichtverbreitungspolitik für Atomwaffen geändert werden müssen. Die bisherige Politik war nützlich: Sie verringerte die Risiken des unbefugten Einsatzes von Atomwaffen und des Nuklearterrorismus. Aber sie war ungerecht gegenüber vielen nichtwestlichen Staaten und funktioniert schon lange nicht mehr. Historisch und philosophisch gesehen hat die weltweite Atomwaffenverbreitung den Frieden gefördert. Es ist erschreckend, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn die UdSSR und dann China keine Atomwaffen besessen hätten. Nachdem Indien Atomwaffentests durchgeführt hatte, wurde es in seinen Beziehungen zu einem mächtigeren China deutlich ruhiger. Der indisch-pakistanische Konflikt schwelt zwar nach wie vor, aber seitdem beide Länder über Atomwaffen verfügen, hat sich das Ausmaß der Zusammenstöße verringert.
Eine begrenzte Verbreitung von Atomwaffen kann sich auch als nützliches Hindernis für die Entwicklung und den Einsatz von Biowaffen erweisen. Die Erhöhung des Niveaus der nuklearen Bedrohung kann auch eine Abschreckung für die Militarisierung von Technologien der künstlichen Intelligenz sein. Vor allem aber sind Atomwaffen, einschließlich ihrer Weiterverbreitung, notwendig, um die Funktionen der nuklearen Abschreckung wiederherzustellen, die heute nicht mehr funktionieren – nicht nur, um größere konventionelle Kriege zu verhindern, sondern auch, um ein konventionelles Wettrüsten zu verhindern. Ein nichtnuklearer Krieg kann nicht gewonnen werden, wenn der potenzielle Gegner über Atomwaffen verfügt und insbesondere in der Lage ist, diese einzusetzen.
Die verstärkte Nutzung der nuklearen Abschreckung ist bereits notwendig, um die verblendeten europäischen "Staatsführer" abzukühlen, die von der Unvermeidbarkeit eines Zusammenstoßes zwischen Russland und der NATO sprechen und zu militärischen Vorbereitungen aufrufen. Diese Schwätzer und ihre Zuhörer müssen daran erinnert werden, dass im Falle eines Krieges zwischen Russland und der NATO in Europa von den vielen europäischen Mitgliedsländern in den ersten Tagen nach dem Ausbruch des Konflikts nur wenig übrig bleiben würde.
Natürlich birgt die Weiterverbreitung von Atomwaffen auch Risiken. Aber im Zusammenhang mit der begonnenen globalen Unordnung und Umverteilung sind sie viel geringer als die Risiken, die durch die Schwächung der nuklearen Abschreckung entstehen.
Die polyzentrische und beständige Weltordnung der Zukunft wird ohne nuklearen Multilateralismus nicht möglich sein.
Sicherlich sollten einige Länder dauerhaft und entschieden daran gehindert werden, auch nur annähernd in den Besitz eines Atomwaffenarsenals zu gelangen. Deutschland, das zwei Weltkriege und einen Völkermord ausgelöst hat, muss zu einem legitimen Ziel eines Präventivschlags werden und einfach ausgelöscht werden, wenn es nach der Atombombe greift. Heute allerdings, nachdem es seine ungeheuerliche Geschichte vergessen hat, provoziert es als revanchistischer Staat und europäischer Hauptsponsor des Krieges in der Ukraine regelrecht dazu, diese Strafe zu vollstrecken. Alle europäischen Länder, die sich an Hitlers Überfall auf die UdSSR beteiligt haben, sollten ein ähnliches Schicksal fürchten.
Einige der dargelegten Vorschläge werden eine Welle der Kritik hervorrufen, ebenso wie einst die Artikel zur nuklearen Abschreckung vom letzten Jahr. Sie haben sich jedoch sowohl für die nationale (russische) als auch die globale strategische Gemeinschaft als äußerst nützlich erwiesen und haben diese aus dem lethargischen Schlaf des "strategischen Parasitismus" geholt.
Wenn wir die nächsten zwei Jahrzehnte überleben und ein weiteres Jahrhundert des Krieges vermeiden, wie es das 20. Jahrhundert, insbesondere die erste Hälfte, war, werden unsere Kinder und Enkelkinder in einer bunten, multikulturellen und viel gerechteren Welt leben.
Dies ist ein Auszug aus einem Artikel von Sergei Karaganow, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 8. März 2024. Die vollständige Fassung des Artikels wird in der Zeitschrift Rossija w globalnoi politike (Russland in der internationalen Politik) erscheinen.
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