"Cancel Culture" lahmt: Russische Oper wird in Deutschland Kulturgut zu Weihnachten

Nur zweieinhalb Monate vor Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine war in Frankfurt am Main eine in Deutschland bislang unbekannte Oper des russischen Komponisten Nikolai Rimski-Korsakow aufgeführt worden. Inzwischen genießt ihre deutsche Inszenierung Kultstatus – ungeachtet des westlichen Zeitgeistes.

Von Wladislaw Sankin

Einige kulturinteressierte Leser können sich sicher noch an unsere Berichterstattung anlässlich der Aufführung der russischen Oper "Die Nacht vor Weihnachten" in der Oper Frankfurt am Main erinnern – etwa hier und hier. Der Autor dieser Zeilen war selbst am 5. Dezember 2021 bei der Premiere zugegen und dokumentierte den Jubel, den das Publikum und die Kritiker dem Komponisten und dem Ensemble der Oper für die Inszenierung entgegenbrachten. Im Artikel war davon die Rede, dass Nikolai Rimski-Korsakow auf europäischen Bühnen wieder in Mode kommt.

Allerdings herrschte zu dieser Zeit schon eine Vorkriegsstimmung in Europa. Russland versuchte mit Verhandlungsangeboten den Vormarsch der USA und der NATO in Osteuropa zu stoppen – diplomatisch, aber ergebnislos. Am 24. Februar 2022 begann Russland seine militärische Sonderoperation in der Ukraine. In Deutschland löste das einen unter Politikern und in vielen Medien Tobsuchtsanfälle aus. Auch die Kulturszene blieb vom kollektiven Wahn nicht verschont. Deutsche Intendanten statuierten ein Exempel an Sport-Funktionären und kündigten mit inquisitorischem Eifer auch die Zusammenarbeit mit russischen Kulturinstanzen. Von russischen Künstlern verlangten sie, sich reumütig zu geben. Beim Nichteingeständnis der Verurteilung Russlands schlug die "Cancel Culture" zu, sprich: der Ausschluss von begehrten Bühnen Europas. Es schlug damit die Stunde der Denunzianten, die insbesondere bei weltbekannten russischen Stars wie Netrebko, Gergijew oder Currentis den Grad von deren Loyalität gegenüber den "westlichen Werten" grammweise errechneten. 

Die Oper in Frankfurt am Main war hier keine Ausnahme: Bis heute bemalt die Institution ihr eigenes Logo in den Farben der ukrainischen Staatsflagge. Bernd Loebe, der langjährige Intendant der Frankfurter Oper und ein bekannter Fürsprecher der Russischen Klassik stellte sich in der ersten Jahreshälfte 2022 noch ernsthaft die Frage, ob russische Werke weiterhin unbeschwert gespielt werden dürften. Er hat sich dann doch für russische Werke entschieden. So blieb auch "Die Nacht vor Weihnachten" vom Canceln verschont. 

Dennoch muss ich gestehen, dass ich damit gerechnet habe, dass das Bühnenbild und die aufwendigen Kostüme dieser ungewöhnlichen Inszenierung bis auf Weiteres eingepackt und tief im Requisiten-Fundus der Oper vergraben werden. Das würde dem Intendanten auch den möglichen Stress mit den russischen Sängern der Hauptpartien ersparen. Außerdem drohte ausgerechnet diesem Werk eine andere Gefahr: die einer aufgesetzten Ukrainisierung. Denn die Handlung spielt ja ausgerechnet auch in einem ukrainischen Dorf des achtzehnten Jahrhunderts, und die Musik ist mit Elementen auch der ukrainischen Folklore geradezu durchzogen. "Die Premiere dieser russischen Oper, die in einem ukrainischen Dorf spielt, fand wenige Wochen vor Ausbruch des Kriegs in Osteuropa statt", merkten Musikkritiker in der Rezension "Russisch Glück" vielsagend an.

Doch das Verbindende in der großartigen Musik des Spätromantikers Rimski-Korsakow hat auch diese möglichen Spaltungsversuche besiegt. Das, was die Frankfurter Oper Anfang Dezember 2021 auf die Bühne brachte, war so überwältigend, dass das Fachmagazin Opernwelt das Stück zur "Aufführung des Jahres" in ganz Deutschland kürte. Ende 2022 gastierte die Oper in einer konzertanten Variante in der Berliner Philharmonie und erntete auch dort Jubel. Und Zuhause spielt die Frankfurter Oper die Aufführung vor ausverkauftem Saal bereits die dritte Saison in Folge in der Rolle eines Weihnachtsklassikers. 

Was im Endeffekt in Deutschland mit diesem sogar in Russland beinahe schon vergessenen Werk passierte, ist genau das Gegenteil vom Canceln. Viel eher übernahm die deutsche Klassikbranche bei "Die Nacht vor Weihnachten" die Funktion der Musik-Archäologie und einer Institution zur Bewahrung von Kulturgut. Inzwischen wurde das Stück auf öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen gestreamt, Ende 2022 erschien eine DVD mit der Videoaufzeichnung der Frankfurter Aufführung und in diesem Jahr kam im Dezember eine Doppel-CD auf den Markt. Damit ist dieser "akustische Meilenstein" (RBB) die zweite Stereo- und dritte offizielle Vertonung der Oper überhaupt – made in Germany/Frankfurt am Main.

Der Siegeszug der Oper beim Fachpublikum wird durch eine wohlwollende Presse in sonst seltener Eintracht befeuert. Laut dem RBB hat die Oper gute Chance, künftig neben "Hänsel und Gretel" von Engelbert Humperdinck und dem obligatorischen "Nussknacker" von Peter Tschaikowski einen gebührenden Platz im Festtags-Universum der Deutschen rund um Weihnachten und zur Jahreswende einzunehmen – allerdings mit einigen Abstrichen: 

"Für Zaungäste könnte das Stück sogar zu gut komponiert sein, um zum Kassenschlager wie 'Hänsel und Gretel' zu werden. Weil so viele Ambitionen drin stecken – große Arien-Polyphonie, schräge Orchestereffekte und überwältigende Massenszenen könnten gerade unbefangene Zuschauer ein bisschen erschlagen", urteilt der Musikjournalist Matthias Käther. Auch für das Küchenradio beim Plätzchenbacken sei das Werk zu verrückt und zuweilen zu schroff.

"Die Nacht vor Weihnachten" ist ein betörend schöner, "verrückter" und eher vorchristlich geprägter musikalischer Gruß an die deutschen Musikliebhaber aus dem zaristischen Russland, komponiert zu Zeiten, als "Großrussen" und "Kleinrussen" (heutige Ukrainer) zu einer großen ostslawischen Einheit des "russischen Volkes" gehörten. Bei Irrwegen der "Cancel Culture" steigt dieser "Gruß" zum leuchtenden Stern auf – im eingetrübten Kulturhimmel – und wird damit zu einer kulturellen Botschaft, die den Weg in die friedliche Zukunft weist.

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