Von Susan Bonath
Auf der Großbaustelle in der Hamburger Hafencity gab es wieder einmal einen schweren Unfall. Nach neuesten Erkenntnissen gibt es vier Tote. Ein weiterer Arbeiter liegt im Krankenhaus. Er ist lebensgefährlich verletzt, wie die Hamburger Morgenpost berichtete. Das Landeskriminalamt ermittelt. Es handelt sich um den zweiten schweren Unfall innerhalb von zwei Monaten an diesem Ort. Wieder sind ausnahmslos Arbeitsmigranten betroffen, was ein klassisches Indiz dafür ist, dass die Unternehmen es mit dem Arbeitsschutz wohl wenig genau nahmen. Baufirmen nutzen die prekäre Lage ost- und südeuropäischer Wanderarbeiter seit Langem aus, und die Politik unterstützt sie dabei.
Hohe Unfallquote auf Hamburgs Baustellen
Das Hamburger Überseequartier ist ein Prestigeprojekt des Senats der Hafenmetropole. Luxusmeilen zum Shoppen und teure Wohnungen für Wohlhabende sollen dort entstehen. Ein Teil ist bereits fertiggestellt, am anderen wird noch gebaut. Die Baustelle ist ein unfallträchtiger Ort. Am 30. Oktober stürzte ein Baugerüst ein, mehrere Arbeiter vielen vom achten oder neunten Stockwerk in einen Fahrstuhlschacht.
Das war nicht der erste schwere Unfall in den letzten Jahren. Erst am 2. September waren ebenfalls vier Arbeiter von einem Baugerüst gestürzt und schwer verletzt in der Klinik gelandet, wie der NDR berichtete. Im Juni dieses Jahres waren Gasflaschen explodiert, rund 100 Bauarbeiter konnten sich knapp retten. 2020 gab es zwei Schwerverletzte durch herabfallende Bauteile.
Insgesamt verzeichnet die Hansestadt Hamburg 14 tödlich verunglückte Arbeiter auf Baustellen allein in diesem Jahr. Fast immer waren Migranten aus dem europäischen Ausland betroffen, die auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen, in Deutschland gelandet waren. Sie sind fast überall anzutreffen, wo schwere oder gefährliche Tätigkeiten verrichtet werden.
Elend der Wanderarbeiter ausgenutzt
Im aktuellen Fall war zunächst die Rede von bulgarischen Arbeitern, jetzt heißt es: Die Betroffenen stammten wohl aus Albanien. In einem Live-Bericht vom Tag des Unfalls brachte der NDR ein Problem vermutlich unbeabsichtigt auf den Punkt: Man habe versucht, mit anderen Bauarbeitern zu sprechen. Doch dies sei nicht möglich gewesen, so die Reporterin. Sie waren der deutschen Sprache nicht mächtig.
Das ist klassisch für Großbaustellen in Deutschland: Ob bei Straßenarbeiten, in Schächten oder auf den Gerüsten in schwindelnder Höhe, man trifft fast ausnahmslos auf nicht deutschsprachige Migranten. Und das hat seinen Grund: Unternehmen nutzen die prekäre Lage von Menschen aus Ländern mit niedrigeren sozialen Standards aus, um Kosten für Löhne, Material und Sicherheit zu sparen.
Damit das beauftragte Unternehmen nicht in den Fokus gerät, läuft das in der Regel so: Es heuert für die verschiedenen Arbeiten Subunternehmen an, die oft auf weitere Sub-Subfirmen zurückgreifen. Die Kette solcher Werkverträge kann lang und verworren sein. Den Auftrag erhält, wer am billigsten arbeitet. Da trifft man nicht selten auf Strukturen am Rande des Legalen.
Das funktioniert gut. Denn in vielen ost- und südeuropäischen Ländern führt Erwerbslosigkeit in die Verelendung. Die sozialen Standards sind gering, viele Menschen, vor allem junge, finden keinen auskömmlichen Job. Vor allem Roma und Sinti haben kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt und leben oft unter erbärmlichen Bedingungen. Darum verdingen sich viele notgedrungen EU-weit als Wanderarbeiter.
Vergangenes Jahr berichtete der Deutschlandfunk, dass es vielen dieser Wanderarbeiter kaum gelinge, ihrem Elend zu entfliehen. Geschickt umgingen Firmen auch in Deutschland gesetzliche Mindeststandards. Viele Arbeiter duldeten dies nicht nur aus Mangel an Sprachkenntnissen, sondern aus Angst, jegliches Einkommen zu verlieren. Auf Sozialleistungen haben sie meist keinen Anspruch.
Der Verein PECO-Institut, der Betroffene aus Osteuropa berät, schätzt allein die Anzahl rumänischer Arbeitsmigranten auf deutschen Baustellen auf 50.000. Sie arbeiteten häufig ohne Tarifverträge und hausten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Firmen verweigerten ihnen nicht selten Urlaub und Lohnfortzahlung bei Krankheit. Unbezahlte Überstunden, aber auch Schwarzarbeit, seien die Regel.
Oft fehle es an Sicherheitsstandards, eigentlich benötigte Technik werde durch Schwerstarbeit ersetzt. Die Strukturen seien zum Teil mafiös, wird berichtet. Viele Arbeitsverhältnisse glichen moderner Sklaverei, resümierte der SWR 2022. Die Probleme sind also seit Langem bekannt. Doch die deutsche Politik schaut weg. Mehr noch: Sie tut alles dafür, dass es bleibt, wie es ist – Ein Paradies für Lohndrücker.
Undurchsichtiges Geflecht aus Subfirmen
Dass es im Hamburger Überseequartier anders sein könnte, ist unwahrscheinlich. Dort baut der multinationale Immobilienkonzern Unibail-Rodamco-Westfield auf 14 Hektar Fläche Geschäfte, Bürogebäude, Hotels, einen unterirdischen Busbahnhof und über 1.000 Wohnungen. Eine Milliarde Euro soll er investiert haben. Dafür muss schon einiges herausspringen.
Der Immobilien- und Investmentkonzern mit Hauptsitz in Frankreich entstand 2007 durch Fusionen mit einem niederländischen und einem australischen Unternehmen. 2014 übernahm er die deutsche mfi-Gruppe in Düsseldorf. In seinem Besitz befinden sich Geschäfts- und Wohngrundstücke in 27 Großstädten in zwölf Ländern auf zwei Kontinenten. Dazu gehören zum Beispiel das Westfield Stratford in London, das Quatre Temps in Paris und das Centro Oberhausen in Nordrhein-Westfalen.
Die jährliche Gewinnmarge von Unibail-Rodamco-Westfield lag in der Vergangenheit bei bis zu 2,5 Milliarden. Im ersten Corona-Jahr brachen die Geschäfte des Konzerns jedoch brachial ein, er schrieb rund sieben Milliarden Euro Verlust. Dies holte er bis heute nicht vollständig auf. 2022 betrug sein offizieller Gewinn 178 Millionen Euro. Was liegt da näher, als ganz besonders an Arbeitskosten zu sparen?
Ein Bericht des Juristen und Rechtsanwalts Detlef Burhoff von 2014 über ein Verfahren gegen ein Sub-Subunternehmen in Hamburg liefert Indizien für die dortige Praxis. Es zeigt sich ein undurchsichtiges Geflecht aus Werkvertragsnehmern mit unklaren Verantwortlichkeiten bei Gesetzesverstößen. Selbst Gerichte und Juristen blicken da kaum noch durch.
Sozialer Ausschluss von EU-Arbeitern
Das ist ein vortreffliches Spielfeld für Ausbeuter und Lohndrücker. Dafür hat die Politik sogar einen passenden gesetzlichen Rahmen im Zuge der Einführung der EU-weiten Arbeitnehmerfreizügigkeit geschaffen: das sogenannte EU-Bürger-Ausschlussgesetz.
Die SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles führte dieses Gesetz Ende 2016 ein. Es besagt: Arbeitsmigranten haben in Deutschland keinen Anspruch auf Grundsicherung und weitere soziale Leistungen, sofern sie nicht mindestens fünf Jahre in Deutschland gearbeitet haben. Zuvor betrug dieser Zeitraum nur ein halbes Jahr. Unter anderem das ließ zweifellos die Obdachlosenzahlen in deutschen Großstädten explodieren.
Druck auf Nahles ausgeübt hatten damals die Unionsparteien, aber auch einige Medien, zum Beispiel vom Springer-Verlag. So hatte die WELT bereits im Frühjahr 2016 eine entsprechende Kampagne mit zahlreichen "Meinungsartikeln" gestartet. In einem davon polemisierte die Springer-"Chefökonomin" Dorothea Siems, Deutschland könne sich "nicht um alle Bedürftigen Europas kümmern".
"Gesetz schafft modernes Sklavenheer"
Ganz anders sah das die Neue Richtervereinigung (NRV). In einer Stellungnahme für den Bundestag im Rahmen der Sachverständigen-Anhörung erklärte der Juristenverband unter anderem:
"Schwerer Schaden droht dem Arbeits- und Sozialrecht. Die Regelung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzeptieren müssen, um hier zu überleben. Dies erhöht den Druck auf diejenigen, die zur Zeit regulären Beschäftigungen im untersten Qualifikations- und Einkommensbereich nachgehen."
Das neue Gesetz lege, so die NRV, die "Axt an das Fundament unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung". Es missachte grundlegend die Menschenwürde. Die Existenz dürfe demnach niemandem aufgrund der Herkunft verweigert werden. Die NRV sprach von "sozialrechtlicher Apartheid", die das gesamte Lohngefüge in Deutschland senke, und weiter:
"Auch wird die Regelung nicht zur Entlastung der kommunalen Finanzen führen. Sie produziert Elend, dessen unvermeidliche Einhegung mindestens so viel kosten wird, wie die eingesparten Sozialleistungen."
In Deutschland wie in Katar
Die sozialen Auswirkungen, die weit über das Aushebeln arbeitsrechtlicher Standards hinaus gehen, sind längst sichtbar in deutschen Städten. Allein ein Besuch am Hamburger Hauptbahnhof spricht Bände. Aber die Politik redet nicht gern darüber, schon gar nicht über ihre eigene Verantwortung, die sie dafür trägt. Man schaut lieber in andere Länder, wie letztes Jahr nach Katar.
Man beklagte das gravierende Arbeitsunrecht, das den ausgebeuteten Wanderarbeitern aus Nepal in dem Wüstenstaat widerfahre: niedrige Löhne für Schwerstarbeit unter unzumutbaren Bedingungen, Hunderte tödliche Unfälle wegen fehlender Sicherheit allein bei den Bauarbeiten für die Fußball-Weltmeisterschaft. Das Land nutze die Armut der Betroffenen gezielt aus, um sie wie Sklaven auszubeuten.
Nur etwas wurde dabei verschwiegen: In Deutschland läuft es kaum anders. Das Baugewerbe ist – neben anderen Branchen – ein eindrückliches Beispiel dafür, in Hamburg wie in der gesamten Bundesrepublik. Das ist die Schattenseite des globalen Kapitalismus. Doch die Politik denkt gar nicht daran, daran etwas zu ändern. Im Gegenteil: Sie schaffte erst prächtige Bedingungen für diese beliebte Art der Ausbeutung.
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