Von Rainer Rupp
Am 7. Oktober ist die Zeitbombe, die seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten in Gaza zuletzt immer lauter tickte, mit einem die Welt erschütternden Fanal explodiert. In einer offensichtlich über viele Monate sorgfältig geübten Operation sind Tausende von bewaffneten Kämpfern der Hamas, des Islamischen Dschihad und anderer, kleiner Widerstandsorganisationen aus dem von israelischen Besatzungstruppen hermetisch eingegrenzten Gazastreifen ausgebrochen. In den nachfolgenden Tagen haben – je nach Sicht der Dinge – die Terroristen oder Freiheitskämpfer den unvorbereiteten Besatzer seit Bestehen der israelischen Armee die größten Verluste an Soldaten und Material zugefügt.
Übrigens, nur die USA, Kanada, Australien sowie die Länder der Europäischen Union und Ägypten haben Hamas als "terroristische Organisation" klassifiziert, mit allen juristischen Konsequenzen. Die Länder im Rest der Welt, vor allem im Globale Süden, haben ihre eigenen Erfahrungen mit den westlichen Kolonisten und Ausbeutern gemacht. Sie können in der Regel weitaus besser zwischen Terroristen und Freiheitskämpfern unterscheiden. Und wenn die Südafrikaner Israel als Apartheid-Staat verurteilen, dann wissen sie, wovon sie sprechen. Und da können die Nachkommen der Kolonialherren in den Redaktionsstuben in London, Paris, Brüssel, Amsterdam und Berlin noch so vehement den Israelis einen Persilschein ausstellen.
Gaza-Stadt ist ein riesiges Lager im winzigen Gazastreifen, in dem israelisches Militär 2,2 Millionen Palästinenser konzentriert haben und wo sie der Willkür der Besatzer ausgeliefert sind. Viele Kinder sind inzwischen zu Erwachsenen geworden und haben von der Welt noch nichts außer Gaza gesehen. Familien mit Kindern, alte und junge Menschen müssen dort oft wie Tiere zusammengepfercht leben. Und als gefährliche Tiere, deren Leben wertlos ist, werden sie ganz offiziell von den Ministern und Vertretern der neuen, religiös-rassistischen Netanjahu-Regierung behandelt. Diese haben geschworen als Vergeltung für die "Operation Al-Aksa-Flut" der Hamas am 7. Oktober, die laut israelischen Quellen auf israelischer Seite an die 1.400 tote Soldaten und Zivilisten gefordert hat, alt-testamentarische Rache über alle Menschen in Gaza zu bringen.
"Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend", sagte der israelische Faschist und Verteidigungsminister Joaw Galant am 9. Oktober und kündigte die Massenvernichtung der Bevölkerung in Gaza an, denn er fügte hinzu: "Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom, keine Nahrung, keinen Treibstoff geben, alles ist geschlossen".
Auch Israels UNO-Botschafter Gilad Erdan konnte sich während einer Dringlichkeitssitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York am 26. Oktober zum Krieg zwischen Israel und der Hamas nicht zurückhalten, die Menschen in Gaza zu enthumanisieren: "Wir kämpfen nicht gegen Menschen – wir kämpfen gegen Monster!", zitierte ihn die Times of Israel.
Auch aus Israel selbst kommt scharfe Kritik gegen das Vorgehen der Armee in Gaza. Die kommt vor allem aus den aufgeklärten und/oder säkularen Kreisen der jüdischen Bevölkerung, die vor dem 7. Oktober Monate lang in Massen-Demonstrationen gegen die religiös-rassistischen Mitglieder der Netanjahu-Regierung protestiert hatten. Derweil sind bereits Teile von Gaza-Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Laut Berichten von UN-Helfern und anderen ausländischen Beobachtern vor Ort in Gaza hat die israelische Armee mit Stand vom 28. Oktober bereits an die 9.000 Einwohner von Gaza getötet, davon geschätzt um die 3.000 Kinder. Weitere 1.200 Kinder werden vermisst und ihre Leichen werden unter den riesigen Trümmerhaufen der zerbombten Apartmenthäuser vermutet. Unter den Bergen von Steinen und Schutt kann man sie ohne schwere Baumaschinen, die jedoch nicht vorhandene sind, nicht einmal für ein anständiges Begräbnis bergen, was für die Angehörigen besonders traumatisch ist.
Der preisgekrönte israelische Journalist und Autor Gideon Levy hat jüngst in der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz, die auch in den USA unter säkularen Juden viele Leser hat, einen Artikel mit der Überschrift veröffentlicht: "Israel kann nicht zwei Millionen Menschen in Gaza einsperren, ohne einen grausamen Preis zu zahlen". In dem hiernach verlinkten Video-Interview mit Amy Godman vom US-Portal "Democracy Now" diskutiert Levy die Reaktion der israelischen Gesellschaft auf den unerwarteten Angriff der Hamas und verurteilt die Netanjahu-Regierung dafür, dass sie nur für weitere Kriege mobilisiert, anstatt den Opfern wirksame Hilfe zu leisten.
"Niemand führt Israel", erklärt Levy, der Israel auch dazu aufruft, seine Blockade des Gazastreifens aufzuheben und zu akzeptieren, dass es "unmöglich ist", mit seiner Militäroperation Hamas auszulöschen". Nach Jahrzehnten der palästinensischen Unterwerfung unter israelischer Herrschaft "kann man zwar die derzeitigen Spitzenleute der Hamas töten, aber man wird nicht die Ideologie der Hamas töten", sagt Levy.
Auch zur Beschreibung der religiös-rassistischen Fanatiker in der aktuellen israelischen Regierung fand Levy ab Minute 3:04 des Videos klare Worte: "Alle Minister um ihn herum (Netanjahu) sind Faschisten, von denen ein Teil, wenn sie in Europa wären, als Neonazis definiert würden. Es sind diese Leute, die alle möglichen schrecklichen Dinge verlangen, die man tun soll."
Die fanatisierten jüdischen Gotteskrieger in der Regierung sind in ihrem Durst nach alt-testamentarischer Rache derzeit nicht zu bremsen. Nach ihrer Lesart ist das Leben von nur einem Juden mehr wert als das Leben von Tausenden Arabern. Zur Durchsetzung ihres angekündigten Genozids in Gaza haben diese wahnsinnigen Schreibtischtäter mit der israelischen Armee das ideale Instrument. Denn die wutschnaubende militärische Führung ist fest entschlossen, sich auch unter Inkaufnahme hoher eigener Opfer für die von Hamas zugefügte Schlappe zu rächen und ganz Gaza im Rahmen einer auch für die eigenen Truppen gefährlichen Bodenoffensive auszulöschen. Die vielen kritischen Stimmen von Juden im In- und Ausland gegen diese Politik verhallen ungehört, während die von Hass getriebenen israelischen Regierungspolitiker durch die Zusicherungen bedingungsloser Solidarität aus den europäischen Ländern nur noch in ihrer Absicht bekräftigt werden. Sogar einen Waffenstillstand lehnen die USA, Deutschland und andere EU-Länder mit Ausnahme Frankreichs ab.
Auch die international bekannte Kollegin von Gideon Levy, die Haaretz-Journalistin Amira Hass, wurde für die Sendung "Democracy Now!" interviewt, wo sie einen sofortigen Waffenstillstand der israelischen Armee forderte. Unter Tränen sagte sie: "Ich möchte hier auch im Namen meiner verstorbenen Eltern sprechen, die den Holocaust überlebt haben, und fragen, wie die Welt tatenlos (in Gaza) zusehen kann, ohne dieses schreckliche Massaker zu stoppen."
Inzwischen ist der Konfliktherd in Gaza metastasiert, im von Israel besetzten Westjordanland und in die Grenzregionen zum Libanon und Syrien. Im Westjordanland, bzw. der Westbank, wird die Lage durch mutwillige Provokationen und bewaffnete Aggressionen von fanatisierten zionistischen Siedlern und Landräubern gegen einheimische Palästinenser immer gefährlicher. Fast 100 Palästinenser wurden bei solchen Zusammenstößen von Siedlern unter dem Schutz der israelischen Polizei und des Militärs getötet. Zugleich hat die israelische Luftwaffe iranische Ziele auf den Flughäfen in Damaskus und Aleppo in Syrien bombardiert und zeitweise lahmgelegt.
Man hat den Eindruck, dass die Regierung in Jerusalem alles tut, um den Krieg auf Iran auszuweiten und die USA mit hineinzuziehen. Die Tatsache, dass auf Befehl des US-Präsidenten Biden vor drei Tagen die US-Luftwaffe ein Lager von Iran-nahestehenden Milizen in Syrien bombardiert hat, scheint anzudeuten, dass auch Washington die Krise in Gaza als Vorwand nutzt, militärisch gegen Iran vorzugehen. Sowohl Israel als auch das Weiße Haus beschuldigen Iran, hinter dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober zu stehen, was Teheran bestreitet. Falls die amerikanischen und israelischen Kriegstreiber Iran mit in den Konflikt ziehen, droht dieser Krieg komplett außer Kontrolle zu geraten und immer mehr Länder mit hineinzuziehen.
Zum Schluss nochmals zurück zu Gaza. Die Entwicklungen – nicht nur in der arabischen Welt – weisen darauf hin, dass Israel diesen Konflikt nicht gewinnen kann, denn dazu ist mehr als nur ein militärischer Sieg notwendig. Militärisch hätte Israel durchaus das Potenzial, die 2,2 Millionen Großstadt Gaza, eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde, dem Erdboden gleichzumachen und Hunderttausende Zivilisten zu ermorden. Aber das wäre kein Sieg. Der brutale, unprovozierte und völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA vor 20 Jahren gegen Irak war ein überragender militärischer Sieg der US-Streitkräfte, der letztlich eine Million Iraker das Leben gekostet hat. Aber politisch und ökonomisch sind die USA in Irak auf ganzer Linie gescheitert. Bis heute gibt es z. B. kein nennenswertes US-Energieunternehmen in Irak.
Ebenso wäre ein militärischer Sieg in Gaza zugleich Israels größte politische Niederlage seit der Gründung des Staates der Juden. Denn bereits jetzt hat das religiös-rassistisch geführte Israel die Unterstützung des Großteils der liberal orientierten US-amerikanischen Juden verloren. Die haben über ihren unbestrittenen Einfluss auf den US-Kongress bisher immer das eiserne Rückgrat für US-Finanz- und Militärhilfen dargestellt. Heute demonstrieren diese Juden mit ihren amerikanischen Freunden in den Straßen amerikanischer Großstädte gegen die Verbrechen der israelischen Regierung in Gaza. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir in Europa.
Bei einem militärischen Sieg in Gaza, was einem Genozid dort gleichkommt, kann Israel mit ziemlicher Sicherheit damit rechnen, diesmal zum Paria-Staat, zum international geächteten Apartheid-Staat zu werden. Denn die Welt hat sich geändert. Der kollektive Westen ist zu geschwächt, um dem großen Rest der Welt weiter das Narrativ von der israelischen Demokratie als Leuchtturm des Humanismus im Mittleren Osten verkaufen zu können. Der gewaltsüchtige, religiöse Zionismus der israelischen Regierung, der von etwas mehr als der Hälfte der Bevölkerung unterstützt wird, wird so schnell nicht vergessen werden.
Unterstützung im Globalen Süden wird Israel vergeblich suchen. Auch die Zusammenarbeit mit arabischen Staaten wie Saudi-Arabien oder Ägypten wird auf Druck der lokalen arabischen Bevölkerung nicht mehr möglich sein. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit islamischen Staaten, vor allem mit der Türkei in Israels Nachbarschaft.
Aber nicht nur der Zufluss von überlebenswichtigen Geldern und Waffen nach Israel wird versiegen, sondern auch der für Israels Überleben nicht weniger wichtige Zustrom von jüdischen Einwanderern. Vielmehr wird Israel eine Auswanderungswelle von gebildeten, säkularen Juden erleben, die nicht länger unter jüdischen Fanatikern leben wollen.
Zugleich wird die Ideologie der Hamas unter den Palästinensern weiterleben, während Israel nach innen und nach außen schwächer wird, ökonomisch, militärisch, wissenschaftlich, technologisch und letztlich auch gesellschaftlich. Wer will dann noch in ein solches Land auswandern, wenn der Swimmingpool der illegalen Siedler nicht mehr durch Spenden oder Steuergelder aus den USA bezahlt wird?
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