Von Robert Bridge
Der US-amerikanische Außenminister Antony Blinken verglich den Angriff der Hamas mit dem schlimmsten Terroranschlag aller Zeiten, der sich je auf dem Boden der USA ereignet hatte. "Wenn man diesen Angriff im Verhältnis zur Größe der israelischen Bevölkerung betrachtet, so entspricht dies zehn Anschlägen wie am 11. September", sagte er am vergangenen Donnerstag. Auch wenn dieser Zahlenvergleich etwas übertrieben scheint, so liegt er dennoch nicht ganz daneben – und der Vergleich trifft nicht nur im Hinblick auf das Ausmaß der Tragödie zu.
Im Bericht der 9/11-Kommission, in dem die Versäumnisse der US-Regierung dokumentiert wurden, um einen solchen Angriff auf die USA vorherzusehen, wurde "ein Mangel an unkonventionellem Vorausdenken" als wichtigster Faktor für das Versagen der US Sicherheitsbehörden aufgeführt. "Das größte Versagen war ein Fehlen von Vorstellungskraft", stellten die Autoren des Berichts fest. "Wir glauben nicht, dass die Staatsführung und der zuständige Beamtenapparat die Schwere der potentiellen Bedrohung verstanden haben."
Es kann durchaus sein, dass die israelische Staatsführung und der dort zuständige Beamtenapparat angesichts eines Gegners, der sich seit ewig der Zerstörung Israels verschrieben hat, dieselbe Art von Torheit begangen haben.
Auch wenn es wahr ist, dass im Nachhinein immer klüger ist und niemand sich vernünftig auf alle potentiellen Gefahren vorbereiten kann, so haben sich doch die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern in der Vergangenheit zunehmend verschärft und ein vulkanartiger Ausbruch der Gewalt in dieser Region war eigentlich längst überfällig. Die Zahl extremistischer Angriffe durch israelische Siedler auf Palästinenser und deren Eigentum im besetzten Westjordanland hat in den letzten Jahren zugenommen. Allein im ersten Halbjahr 2023 registrierten die Vereinten Nationen einen Rekord von 591 derartigen Vorfällen.
Unterdessen erklärte die rechtsnationalistische Regierung von Netanjahu, die jegliche Verhandlungen mit der palästinensischen Führung ablehnt, ihre Absicht, die Zahl der israelischen Siedler im Westjordanland bis zum Jahr 2050 von derzeit 500.000 auf eine Million zu verdoppeln. Auf jeden Fall könnte dies als perfektes Rezept für eine Katastrophe angesehen werden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Palästinenser auch vor dem Überfall auf Israel selbst ganz unschuldig waren. Im Juni beispielsweise erschossen zwei bewaffnete Palästinenser in der Nähe einer jüdischen Siedlung im Westjordanland vier israelische Zivilisten, darunter einen 17-jährigen Jungen. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass diese Attentäter Mitglieder des bewaffneten Flügels der Hamas waren, jener militanten islamischen Gruppierung, die im Jahr 2007 die Kontrolle in Gaza übernahm, nachdem sie ein Jahr zuvor als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen war.
Ein weiterer wichtiger Faktor, der auf einen unvermeidlichen Gewaltausbruch hätte hinweisen können, ist die Kontroverse um die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, nach der die jüngste "Operation al-Aqsa" der Hamas-Terroristen auch benannt wurde. Diese Moschee gilt seit Jahrhunderten als Zankapfel zwischen Juden, Christen und Muslimen und jetzt wird sie zu einem echten Anlass zur Sorge. Im historischen Kontext befindet sich im al-Aqsa-Komplex der berühmte Felsendom als ein islamischer Schrein, erbaut etwa 692 n. Chr. an genau der Stelle, wo seit langem nach jüdischer Tradition der Gründungsfels steht und von dem orthodoxe Juden große Hoffnungen hegen, dort den Dritten Tempels als jüdische Kultstätte errichten zu können.
Im vergangenen April kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen muslimischen Gläubigen und israelischen Sicherheitskräften, als sich mehrere Hundert Palästinenser in der al-Aqsa-Moschee verbarrikadierten, weil sie befürchteten, dass trotz Verbots jüdische Siedler den Tempelberg betreten könnten, um ein rituelles Opfer darzubringen. Schließlich drangen die israelischen Sicherheitskräfte in Kampfausrüstung in die Moschee, wobei 50 Menschen verletzt und Hunderte verhaftet wurden.
Ein anonymer israelischer Regierungsbeamter räumte gegenüber der Times of Israel ein, dass die Sicherheitskräfte bei ihrem Vorgehen gegen die Palästinenser "zu weit gegangen" wären und fügte hinzu, dass dieses Vorgehen "alle Befürchtungen legitimiert habe, dass die al-Aqsa bedroht sei, und damit die Gegner Israels aufgerüttelt habe".
All dies deutet auf einen gravierenden Mangel an Vorausdenken hin, wenn es darum geht, einen Angriff der Hamas vorherzusehen. Dennoch hätte es zahlreiche physische Signale geben müssen, die keinerlei Vorausdenken erfordert hätten und auf dem Radar des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad hätten aufleuchten müssen. Mit seinem Jahresbudget von drei Milliarden US-Dollar und 7.000 Mitarbeitern ist der Mossad nach der CIA der zweitgrößte Geheimdienst im globalen Westen. Bei solch einer enormen Schlagkraft ist es fast unmöglich zu glauben, dass der israelische Geheimdienst nicht Gaza oder sogar die Hamas zumindest teilweise mittels ihres ausgedehnten Spionagenetzwerks infiltriert hat. Wir müssen uns also fragen: Da die palästinensische Militäroperation mit so vielen Teilnehmern eine langwierige Planung erforderte – warum hat niemand – außer offenbar dem ägyptischen Geheimdienst – Wind von diesem Angriff bekommen? Auch wenn es noch zu früh ist, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen, wird die Likud-Regierung von Netanjahu einiges zu erklären haben, sobald sich der Pulverdampf gelichtet hat.
Und dann ist da noch der langwierige Konflikt in der Ukraine, der die Hamas wahrscheinlich zu der Annahme verleitete, Israel würde allein bleiben, weil westliche Regierungen damit beschäftigt sind, Kiew im Kampf gegen die Russen zu unterstützen. Ein Großteil dieser Unterstützung besteht ja darin, Waffen und Finanzhilfe im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar in die Ukraine zu schicken, bis hin zu einem Punkt, an dem die Munitionsreserven der USA und der NATO sogar auf ein drastisch niedriges Niveau sanken. Und trotz der erklärten Neutralität Israels gegenüber dem ukrainischen Chaos scheint es, dass der Konflikt auch die militärische Bereitschaft Tel Avivs in West-Jerusalem beeinträchtigt hat.
Angenommen, die Kader der Hamas lesen regelmäßig die New York Times, dann hätten sie bereits im Januar erfahren, dass die USA "einen riesigen, aber nicht genau bezifferten Vorrat an amerikanischer Munition in Israel angezapft haben, um den dringenden Bedarf der Ukraine an Artilleriegeschossen im Krieg mit Russland zu decken".
Der Artikel enthüllte weiter, dass das angelegte Waffenlager in Israel "Waffen und Munition für das Pentagon für den Einsatz in Nahost-Konflikten bereitstellt" und Israel "in Notfällen" den Zugriff auf die Vorräte ermöglicht. Da Berichten zufolge bereits mehr als 1.300 Israelis getötet und über 3.300 verwundet wurden und immer noch nicht alle Hamas-Kämpfer aus israelischem Territorium vertrieben werden konnten, handelt es sich hier sicherlich um einen solchen vollwertigen Notfall.
Es scheint sicher zu sein, dass der Angriff der Hamas neben der Symbolik, am 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieg begonnen worden zu sein, auch zu einem Zeitpunkt stattfand, als der durch den Konflikt in der Ukraine verursachte Munitionsmangel die Reaktionsfähigkeit der israelischen Verteidigungskräfte am stärksten beeinträchtigen konnte – insbesondere im Falle eines Kampfes in städtischem Umfeld innerhalb von Gaza. Hier war ein weiteres "Versagen des Vorausdenkens" gegeben – eine echte Gelegenheit für einen Erzfeind, diese Situation auszunutzen, und etwas, das die Israelis am Horizont hätten erkennen müssen.
Eine weitere Sache, die in ganz Israel hätte die Alarmglocken schrillen lassen müssen, ist das rücksichtslose Verhalten der westlichen Hemisphäre in der Ukraine – nämlich das Praktizieren eines militaristischen Abenteurertums in einem Stellvertreterkriegs gegen Russland –, das anderen Militanten auf der ganzen Welt die gefährliche Botschaft übermittelte, dass sie ihre Feinde verwüsten könnten, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen. Trotz all ihrer eklatanten Fehler und Doppelmoral tragen die USA und ihre Verbündeten dazu bei zu verhindern, dass sich viele der eingefrorenen Konflikte auf der Welt in heiße Kriegsgebiete verwandeln, wie es nun in Israel und Gaza der Fall ist.
Es ist an der Zeit, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt ihrem Vorausdenken freien Lauf lassen, um die nächste große globale Katastrophe zu verhindern, wie sie jetzt in Israel und Gaza auszubrechen droht, die durchaus im Dritten Weltkrieg münden könnte.
Übersetzt aus dem Englischen.
Robert Bridge ist ein US-amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Er ist Autor von "Midnight in the American Empire": Mitternacht im amerikanischen Empire: Wie Unternehmen und ihre politischen Diener den amerikanischen Traum zerstören. Man findet ihn auf X unter @Robert_Bridge
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