Von Dagmar Henn
Es kursieren unzählige Theorien, wie und warum der Angriff gegen Israel aus dem Gazastreifen gelingen konnte. Aber ehe man sich mit ihnen auseinandersetzt, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, welch ungeheure Tragödie dieser Bruderkrieg darstellt.
Es gibt ein israelische Fernsehserie, "Fauda", die an diesem Punkt erstaunlich ehrlich ist; sie zeigt, wie beide Seiten in eine Geschichte verstrickt sind, die sie nicht loswerden können, obwohl sie im anderen ständig sich selbst begegnen wie in einem Spiegelbild. Es ist die uneingestandene Nähe, die diesen endlosen Krieg so grausam und so tragisch macht.
Diese Vorbemerkung ist nötig, weil jeder Versuch einer Analyse genau diese Qualität des menschlichen Schreckens ausblenden muss, man sie aber dennoch nie aus dem Blick verlieren sollte.
Aber nun zu den Ereignissen. Dieser Angriff war, technisch gesehen, äußerst beindruckend und mit Sicherheit das Produkt von Vorbereitungen, die mindestens Monate, wenn nicht gar Jahre benötigten und die sogar eine echte Innovation beinhalteten: Luftlandetruppen mit motorisierten Paraglidern ... Jedes Detail, das bekannt wird, verstärkt diesen Eindruck noch, wie die Tatsache, dass die Angriffe auf israelische Militärstützpunkte mit den Raketenangriffen so koordiniert waren, dass der von Letzteren ausgelöste Alarm und die dadurch in Gang gesetzte Routine für den Angriff am Boden genutzt werden konnten. Das ist eine Vorgehensweise, wie man sie von Spezialeinheiten erwarten würde; ein großer qualitativer Sprung.
Diese langfristigen Vorbereitungen sind es vor allem, die Anlass zu der Frage geben, wie sie denn dem israelischen Geheimdienst, der weithin als der weltbeste galt, entgehen konnten. Was bis hin zu Vermutungen geht, dass die ganze Folge von Ereignissen aus Israel selbst gesteuert worden sei. Grund dafür ist, dass die Hamas ursprünglich durch Israel gefördert worden war, um damit die PLO zu schwächen. Allerdings gibt es inzwischen Aussagen wie jene des palästinensischen UN-Vertreters, die erkennen lassen, dass es mitnichten um eine Aktion nur der Hamas geht.
Und man muss zugeben, diese Eskalation kommt für die Neocons im Weißen Haus gerade wie gerufen, um sich unauffällig aus dem gescheiterten Projekt Ukraine zurückziehen zu können, ganz nach der klassischen Methode: Schau, da läuft ein rosa Elefant!
In den USA wiederum agitieren die üblichen Verdächtigen gerade eifrigst gegen den Iran, weil schließlich die Hisbollah mit der Hamas kooperiere und die Hisbollah vom Iran unterstützt werde, weshalb letztlich der Iran hinter einem Angriff der Hamas stecken müsse. Das Wall Street Journal behauptete sogar, der Iran habe diesen Angriff genehmigt.
Ehe man sich damit befasst, wer warum was nicht gesehen oder nicht verstanden oder gebilligt hat, muss man aber wahrnehmen, dass es im Augenblick zwei große Bewegungen gibt, die an diesem Punkt womöglich das erste, vermutlich aber nicht das letzte Mal in dieselbe Richtung gewirkt haben könnten. Auf der einen Seite ein absteigendes Imperium, das derzeit jedes Feuer anfacht, das es erreichen kann, um seinen Abstieg zu stoppen, und auf der anderen Seite die Gegenreaktion, die bereits in Westafrika zu sehen war – ein plötzlicher Aufbruch von Unabhängigkeitsbestrebungen. Momentan bewirken diese beiden Kräfte, die weitgehend unabhängig vom Willen Einzelner sind, eine Verschärfung oder eine Erneuerung vieler Konflikte. Gleichzeitig sind sich nur wenige Akteure tatsächlich dessen bewusst, wie grundlegend die Veränderungen sind, die gerade ablaufen.
Die politischen Krisen sowohl in den USA wie in Israel sind selbst Teil dieser Dynamik, ebenso wie die Aussöhnung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die nichts mit dem stattgefundenen Angriff zu tun gehabt haben muss, aber alles damit zu tun hat, ob und wie die ganze Situation weiter eskalieren kann.
Der erste Punkt, den man sich vergegenwärtigen muss, wenn man sich fragt, ob und wenn ja warum eine solche Aktion unter der dichtesten Überwachung der Welt vorbereitet werden konnte, ist, dass es zwei Wege gibt, eine hochtechnisierte Überwachung zu besiegen. Der erste ist ein technisches Wettrüsten: mehr Verschlüsselung, Satellitenkommunikation statt Handys etc. Der zweite Weg ist aber Low-Tech. Die beste technische Überwachung von Telefonleitungen nützt nichts, wenn die Kommunikation gar nicht per Telefon erfolgt. Banale alte Verschlüsselungstechniken wie ein Buchcode sind schwerer zu knacken als digitale Schlüssel. Der Aufwand, der getrieben wird, um jede Regung in Gaza zu überwachen, lässt sich überwinden.
Der zweite Punkt wurde von Scott Ritter ausführlich behandelt. Der Mossad, schreibt er, verließ sich sehr auf die Auswertung all der gesammelten Datenmenge durch Künstliche Intelligenz. Dabei sind die Antworten einer KI immer nur so gut wie die Fragen, die der Programmierer im Sinn hatte, und letztlich trifft jede Information auf einen Menschen, der sie bewerten muss, und dessen analytische Fähigkeiten entscheiden über ihr Schicksal. Ritter beschreibt ausführlich, der Mossad habe in der Vergangenheit, als Lehre aus dem Scheitern in der Vorhersage des Angriffs 1967, einen Mitarbeiter gehabt, der der "ungläubige Thomas" genannt worden sei, dessen Aufgabe darin bestanden habe, jede Analyse auf jede denkbare Art in Frage zu stellen und erst freizugeben, wenn er keine Einwände mehr finden konnte.
Das ist nicht die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen. Entscheidend ist, dass es viele Blickwinkel braucht, um sich der Wahrheit nähern zu können. Kann künstliche Intelligenz das ersetzen?
Der dritte Punkt ist die ganz klassische Frage, ob und wie weit vorhandene Informationen tatsächlich dorthin durchdringen, wo sie als Grundlage von Entscheidungen benötigt würden. Menschen neigen dazu, Aussagen, die ihren Überzeugungen widersprechen, zu ignorieren. Und die meisten mögen es, wenn ihnen aus ihrer Umgebung nicht widersprochen wird. Das Ergebnis ist eine grundsätzliche Tendenz, einen einzigen Blickwinkel überall in den Strukturen zu verbreiten, und eine gewaltige Neigung, gerade Informationen von entscheidender Bedeutung, die notwendigerweise vom Erwarteten abweichen, auf der Strecke zwischen Quelle und Entscheidungsebene zu verlieren.
Man muss sich gar nicht die Frage stellen, ob der Mossad versagt hat oder ob irgendwelche Teile der israelischen Regierung eventuell einen Angriff schlicht billigten. Es gibt unzählige Mischungen aus beidem. Man kann sich beispielsweise durchaus vorstellen, dass die Vorbereitungen zwar bemerkt wurden, aber die Dimension – durch die ganz gewöhnliche Erosion, die aus dem Kontakt mit einer vorhandenen Überzeugung resultiert – immer weiter geschrumpft ist, je weiter die Information die Kette hinaufgereicht wurde. Dass also am Ende nicht mehr übrig blieb als die Erwartung eines etwas größeren Raketenangriffs und der dann womöglich tatsächlich als innenpolitisch nützlich erachtet wurde.
Der Umfang der Vorbereitungen, die für diese Aktion erforderlich waren, macht klar, dass der Angriff auf die al-Aqsa-Moschee durch israelische Siedler, der einige Tage zuvor erfolgt war, nur der Anlass, aber nicht der Auslöser gewesen war. Sprich, die Kapazitäten waren vorhanden und wurden schlicht zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als ein entsprechender Anlass geliefert wurde.
Eines ist klar – wenn Hunderte Siedler eine Moschee stürmen, die das drittwichtigste Heiligtum des Islam ist, dann geschieht das nicht ohne Billigung der israelischen Regierung. Es ist denkbar, dass Benjamin Netanjahu, der sich stark auf die Siedler als Wähler stützt, seine Position stärken wollte und ihm die Konsequenzen egal waren. Allerdings wären sie selbst ihm vermutlich nicht ganz egal gewesen, hätte er den vollen Umfang dieser Folgen zuvor gekannt.
Denkbar, dass innerhalb der israelischen Strukturen die veränderten Beziehungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien noch nicht in der Qualität wahrgenommen werden, die sie haben, selbst wenn die Etablierung eines Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten mehrere Jahrzehnte lang ein entscheidender Kniff gewesen war, um die Region unter Kontrolle zu halten. Es ist weitaus schwerer, die Erosion einer eigenen Machtposition wahrzunehmen, als aus unterlegener Position zu erkennen, wenn sich eine Möglichkeit der Befreiung bietet.
Ja, es übertüncht die Gegensätze, die sich zuletzt innerhalb des westlichen Blocks aufgetan haben, dass gerade "Solidarität mit Israel" gefragt ist. Und wenn man weiß, wie bedenkenlos die Ukraine geopfert wird, könnte dasselbe nun ein weiteres Mal passieren. Demokraten und Republikaner, vor allem auch Donald Trump und Joe Biden sind einer Meinung, die ganze EU steht stramm und flaggt israelisch, ebenso wie die Briten. Wäre das den Neocons ein kleines Gemetzel an israelischen und palästinensischen Zivilisten wert? Ohne Zweifel.
Hat der Iran damit etwas zu tun? Offiziell wurde erklärt, dass das nicht der Fall ist. Wobei das entscheidende Argument außerhalb der westlichen Logik liegt, die davon ausgeht, dass jede Form von Unterstützung letztlich das Ziel hat, auch Kontrolle auszuüben. Nicht alle Länder auf diesem Planeten verhalten sich nach dieser Maxime, und nur, weil die Beteuerungen der USA, die Ukraine entscheide selbst über ihr Schicksal, blank gelogen sind, muss das Gleiche nicht für die iranischen Aussagen gelten, die Hamas entscheide selbst über ihre Strategie.
Die "wildeste" Variante, die ich bisher gehört habe, lautet, dass mit saudischem Geld finanzierte Söldner eingesetzt worden seien. Der Grund für derartige Überlegungen ist das Niveau an militärischer Ausbildung, das bei diesem Angriff gezeigt wurde und das sicher nicht mit gelegentlichem Abfeuern heimischer Raketen zu erreichen ist.
Aber warum nicht eine Nummer kleiner und andersherum? Sprich, dass einige der Teilnehmer als Söldner verschickt wurden, um Kampferfahrung zu sammeln? Auch das würde die Aufgabe lösen, aber zugleich das ermöglichen, was unter den gegebenen Bedingungen ebenfalls essenziell ist. Wie hat Mao das einmal formuliert? Im Volk zu schwimmen wie der Fisch im Meer. Das ist eine der Voraussetzungen dafür, so eine komplexe Handlung überhaupt durchführen zu können, und das geht mit den "Reisenden", aber nicht mit für diesen Einsatz engagierten Söldnern.
Es ist jedenfalls möglich, das Versagen der israelischen Dienste zu erklären, ohne auf eine ganz große Verschwörung zurückgreifen zu müssen. Die größere historische Dynamik, die soziale Ebene der Informationsverarbeitung und eventuell eine kleinere Verschwörung reichen auch. Und dann gibt es natürlich noch Hanlons Rasiermesser: Erkläre nie durch Bösartigkeit, was sich auch durch Dummheit erklären lässt.
Dummheit steht derzeit im Überfluss zur Verfügung. Die gesamte Reaktion des Westens ist dumm. Sich bedingungslos hinter eine israelische Regierung zu stellen, deren Verteidigungsminister öffentlich im Fernsehen ein Kriegsverbrechen ankündigt, indem er erklärt, der Gazastreifen werde von Strom, Wasser und Nahrungsversorgung abgeschnitten, ist dumm.
Es ist vor allem dumm, wenn man an die Bevölkerungen denkt. Nicht nur jene im Gazastreifen, die so menschlich behandelt wird wie die Herero und Nama damals von den deutschen Kolonialtruppen. Auch die israelische Bevölkerung. Denn an diesem Punkt hat sich die Lage grundlegend geändert. Es ist nicht der Angriff des palästinensischen Widerstands, der die Existenz Israels bedroht, es ist die Regierung Netanjahu, es ist eine Politik, die, statt endlich zu einem gleichwertigen Umgang mit den Palästinensern zu kommen, immer noch eins draufsetzt und die Unmenschlichkeit verstärkt.
Wenn die Regierung Netanjahu den angekündigten Angriff auf Gaza durchführt, riskiert sie den Untergang ihres Staates. Denn hier kommen die Versöhnung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ins Spiel. Und die Tatsache, dass im Libanon wie in Syrien Truppen stehen, die kampferfahren sind. Und dass die ganze Welt außerhalb des Westens mitbekommen hat, wie er in der Ukraine unterging, und die Munitionsvorräte mitgezählt hat, also genau weiß, dass dieses Ungeheuer gerade beinahe zahnlos ist. Und dass man in den arabischen Ländern die Bilder von den Bombardierungen in Gaza all die Jahre über gesehen hat, immer wieder, die Bilder, die von den westlichen Sendern kaum je gezeigt wurden. Die Demonstrationen, die es in vielen Ländern gab, zeigen, wie gewaltig das Pulverfass ist, auf dem Netanjahu gerade mit Streichhölzern spielt.
Das Ergebnis wären zwei Tragödien, verschwistert wie Zwillinge. Weshalb eigentlich sowohl jene, die aufseiten der Palästinenser, wie auch jene, die aufseiten der Israelis stehen, darauf drängen müssten, endlich aus dem Krieg zu finden, der letztlich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts geführt wird. Was aber leider dieselbe Voraussetzung hätte wie ein Frieden in der Ukraine: dass der kollektive Westen seine Niederlage eingesteht und sich zurückzieht. Denn nicht nur die USA, auch alle anderen westlichen Länder haben selbst die Glaubwürdigkeit als Verhandler mittlerweile verspielt, so dass jede Beteiligung von dieser Seite schädlich wirkt.
Gäbe es ein bisschen Restverstand in diesem kollektiven Westen, würde er statt bedingungsloser Solidarität und Versicherungen, dass sich Israel verteidigen dürfe, aber nicht die Palästinenser, darauf drängen, dass sich beide Seiten an die Genfer Konventionen halten. Er müsste auf die Äußerungen des israelischen Verteidigungsministers reagieren.
Aber die Hybris hat ihn fest im Griff, selbst wenn sich gelegentlich Ansätze von Panik zeigen. Die Aufgabe der Diplomatie wurde völlig vergessen. Die besteht nämlich nicht darin, den Freunden auf die Schulter zu klopfen und den Feinden die Zunge herauszustrecken. Sie besteht darin, mit den Feinden zu sprechen, um aus ihnen neutrale Partner, mit viel Glück und Geschick vielleicht sogar Freunde zu machen.
Das Versagen, das diesen Ereignissen zugrunde liegt, ist keines der Aufklärung, es ist eines der Politik. Aber es ist total.
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