Von Dagmar Henn
Der Spiegel macht es wieder mal besonders direkt, schon im Teaser. Gleich nach der Meldung, dass inzwischen 372.000 Menschen in Deutschland in Notunterkünften für Wohnungslose hausen, kommt die "Entschärfung": "Das liegt laut Statistischem Bundesamt an einer verbesserten Datenmeldung und vielen Geflüchteten aus der Ukraine." Wollen wir wetten, welche Hälfte dieses Satzes eher hängen bleibt? Die "verbesserte Datenmeldung".
Dabei ist es im Grunde ganz simpel. Wenn mehr Menschen da sind, aber nicht mehr Wohnungen, dann müssten entweder jeweils mehr Menschen in die vorhandenen Wohnungen, oder es bleiben welche unbehaust. Nachdem in Deutschland der Wohnraum ungefähr so ungleich verteilt ist wie die Einkommen, von den durchschnittlich 47,7 Quadratmetern oder 2,3 Räumen pro Nase beim ärmeren Teil der Bevölkerung nicht allzu viel ankommt und gerade in den Großstädten nach wie vor viele in überbelegten Wohnungen leben – das sind Wohnungen, in denen es weniger Zimmer als Bewohner gibt oder die Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus (25 qm für die erste Person und 15 für jede weitere) unterschritten werden. Menschen mit geringen Einkommen und viel Wohnfläche sind in Großstädten meist Rentner, die nach wie vor in der Familienwohnung leben, weil das wegen des alten Mietvertrags immer noch günstiger ist als eine kleinere Wohnung, oder sie leben auf dem Land, in ererbtem Wohneigentum.
Aber hier geht es ja um die Menschen, die keine Wohnung haben. Dabei muss man erst einmal hinzufügen: In dieser Zahl von 372.000 sind keine Flüchtlinge in Flüchtlingsheimen. Sobald diese anerkannt sind und prinzipiell die Unterkunft verlassen können, müssen sie sie nämlich auch verlassen. Allerdings haben sie gegenüber den Einheimischen einen Vorteil: die Kommunen sind rechtlich verpflichtet, sie unterzubringen. Das gilt für die deutschen Staatsbürger nicht, weil diese ja theoretisch an einen anderen Ort gehen könnten, wo es eventuell eine Wohnung gibt. Auch wenn die Gegenden, in denen man in Deutschland problemlos eine Wohnung findet, in der Regel von Arbeitsmöglichkeiten weit entfernt sind.
Diese fast 400.000 Menschen, die das statistische Bundesamt zählt, sind nur jene, die in die offiziellen Notunterkünfte aufgenommen wurden. Auch die sind vielerorts überfüllt, und einen Ausweg aus diesem System in eine reguläre Wohnung gibt es nur in Ausnahmefällen. Wir reden hier von Lebensverhältnissen, die über Jahre hinweg anhalten können, und das, was das Bild zeigt, das den Spiegel-Artikel illustriert, ist noch eine günstige Variante. Es gibt auch Containeranlagen, die seit zehn Jahren betrieben werden.
Weder jene, die in diesen Unterkünften keinen Platz mehr finden, noch jene, die längst aufgegeben haben und ganz auf der Straße leben, sind Teil dieser 372.000. Und gerade bei wohnungslosen Frauen gibt es noch eine weitere Gruppe – diejenigen, die irgendwie bei Freunden und Verwandten unterkriechen. Es gibt Untersuchungen, die besagen, dass zwei Drittel der wohnungslosen Frauen statistisch unsichtbar sind. Wie schreibt die Behörde?
"Generell nicht in die Erhebung einbezogen sind Personen, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen und Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben."
130.000 von den in Notunterkünften Untergebrachten sind Ukrainer, meldet das statistische Bundesamt. Dadurch hat sich der Anteil der Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit bei den Untergebrachten auf 80 Prozent erhöht. Die Vermutung liegt nahe, dass sich unter den übrigen 167.000 ausländischen Staatsangehörigen noch viele von jenen finden, die 2015 nach Deutschland gekommen sind. Das heißt aber mitnichten, dass nur jene knapp 70.000 deutschen Staatsangehörigen wohnungslos sind, die in den Unterkünften mitgezählt werden.
Im Gegenteil, die Verpflichtung der Kommunen, beispielsweise anerkannte Asylbewerber unterzubringen, solange ihnen ein Wohnort zugewiesen werden kann, dürfte dafür sorgen, dass der Anteil der deutschen Staatsangehörigen unter den Zurückgewiesenen besonders hoch ist. Das ist nicht das Verschulden der Kommunen; die sind an die Bundesgesetze gebunden und haben auch nur begrenzte Mittel, also meist gar nicht die Möglichkeit, soviele Plätze in Unterkünften zu schaffen, wie es tatsächlich brauchte, von wirklichen Wohnungen ganz zu schweigen. Zu den benannten 372.000 müsste man noch all jene Menschen zählen, die schon seit Jahren dauerhaft auf Campingplätzen hausen.
Neu ist, dass inzwischen verhältnismäßig viele Familien mit Kindern in den Unterkünften hausen müssen. Das liegt gewiss zum Teil daran, dass die Flüchtlinge, gleich welcher Herkunft, in der Regel im Durchschnitt jünger sind als die deutsche Bevölkerung und daher auch eher gerade in der Familienphase. Wenn man mit den Zahlen des statistischen Bundesamtes etwas jongliert, in denen nicht ganz unabsichtlich nicht erwähnt wird, wie viele Kinder unter solchen Bedingungen heranwachsen müssen, kommt man auf mindestens 70.000. Es können aber auch mehr sein, das ist nur die absolute rechnerische Untergrenze: ein Drittel der "Personen in Paarhaushalten mit Kindern" (114.975) und die Hälfte der Alleinerziehenden-Haushalte (61.165). 70.000 Kinder, die mit dem Stigma heranwachsen, in einer Obdachlosenunterkunft zu leben; einer Umgebung, in der es meist keine Spielmöglichkeiten und schon gar keine ruhige Ecke für Hausaufgaben gibt.
Nun sagt das statistische Bundesamt, dass 2022 erst 178.000 Menschen unter diesen Bedingungen lebten. Aber das sind eben nur jene, die einen Zugriff auf die Notunterbringung haben. Es gibt schon lange Schätzungen der Vereine der Wohnungslosenhilfe, die weit höher liegen und schon vor dem Auftauchen der Ukrainer mal von 800.000, mal von einer Million Wohnungslosen in Deutschland schrieben.
Dabei erhöht sich der Druck auf dem Wohnungsmarkt auch noch von oben nach unten: Weil die Baukosten und Kreditzinsen höher sind und damit auch der Bau von Eigenheimen eingebrochen ist, bleiben Leute in Mietwohnungen, die unter anderen Umständen diese Wohnungen freigegeben hätten, was wieder das ohnehin knappe Angebot weiter einschränkt. Dieser Effekt ist ganz unten noch gar nicht angekommen. Welche Folgen dann die Umsetzung des Gebäudeenergiegesetzes mit seinen Zwangsrenovierungen hat, möchte man sich gar nicht ausmalen.
Übrigens, die rechtliche Grundlage dafür, dass Kommunen solche Unterkünfte beschaffen müssen (auch da tummelt sich längst viel privater Erwerbstrieb) sind – neben dem Aufenthaltsgesetz, das nur die anerkannten Asylbewerber betrifft – Sicherheitsgesetze, bei denen es ursprünglich um die Verhütung gefährlicher Krankheiten geht, nicht irgendwelche Sozialgesetze. Das funktioniert aber nicht so ganz. Solche Gemeinschaftsunterkünfte sind hervorragende Brutstätten für Tuberkulose oder übertragbare Hautkrankheiten; aber öffentlich wird das in den wenigsten Fällen. Besonders die privaten Betreiber sorgen meist schlicht dafür, dass sie selbst aus der Haftung sind.
Nun, das große Vorbild der Vereinigten Staaten zeigt, dass man noch weit unempfindlicher gegenüber offen sichtbarem Elend werden kann. Dort hatten nach einer Umfrage der Universität New York schon vor Jahren zehn Prozent der Studenten keine Unterkunft und hausten meistens in ihren Autos. Die Straßen vieler Städte dort sind von Zeltreihen gesäumt, in denen die Aussortierten hausen, ohne jede Aussicht auf Besserung. Und dass darunter dann viele Drogenabhängige sind, ist logische Konsequenz, weil die Lebenssituation im Grunde bei vollem Bewusstsein unerträglich ist.
In den USA vergrößern sich diese Zeltstädte mit jedem Schwung frischer Migranten weiter. Robert Kennedy Jr. hat sich erst vor wenigen Tagen auf den Weg an die mexikanische Grenze gemacht und kam mit der Information zurück, inzwischen kämen Menschen aus aller Herren Länder über diese Grenze, weil die mexikanischen Drogenkartelle international werben würden, einen regelrechten Transportservice vom Flughafen Mexiko City bis zur US-Grenze eingerichtet hätten und an jeder Person, die sie transportierten, mindestens 15.000 US-Dollar verdienten. Die derart Eingeschleusten müssten dann meist noch jahrelang für diese Kartelle arbeiten.
Soll man wirklich glauben, auf der Strecke nach Deutschland wäre es nicht ähnlich? Dass es keine Menschenhändler gibt, die dabei ihren Schnitt machen? Kaum anzunehmen. Man gibt sich nur wenig Mühe, hinter die Betreiber der menschlichen Fracht zu kommen, weil das das seit 2015 gepflegte Bild vom edelmütigen Deutschland stören würde. Aber letztlich wird man schon in den meisten Kommunen fündig, wenn man nach Leuten sucht, die sich dabei eine goldene Nase verdienen.
Und das dürfte leider auch der Grund dafür sein, dass diese Zahlen wohl weiter steigen. Der nötige, aber eigentlich bei entsprechendem Willen (wenn auch mit Vorlauf) durchaus machbare massive Wohnungsbau, der endlich der Schande ein Ende setzen könnte, dass längst auch in Deutschland Zehntausende in Hauseingängen schlafen, würde erst die Mieten und dann die Bodenpreise drücken (weil der Anstieg der Letzteren unmittelbar mit Ersteren verknüpft ist). Und all die Menschen, die schäbige Pensionen betreiben, in die man drei Wohnungslose je Zimmer stopft, oder irgendwelche abgenutzten Containeranlagen für Quadratmeterpreise von 50, 60 Euro und mehr vermieten, könnten keine Gewinne mehr einstreichen. Wer braucht schon einen menschenwürdigen Umgang mit Menschen, wenn es deutlich mehr einbringt, ihn zu unterlassen?
Nein, stattdessen eifert man darum, die Bedingungen noch zu verschärfen, und gerade die Grünen sind dabei wie üblich Vorreiter. Sei es mit dem Einsatz gegen "weitere Flächenversiegelung", was sich nur in weniger Bauland und weniger Baugenehmigungen übersetzt; sei es mit den Heizungsvorgaben. Die 372.000, die das statistische Bundesamt für den 1. Januar 2023 gezählt hat, sind nur das Menetekel. Die Katastrophe kommt noch.
Mehr zum Thema - Jedes fünfte Kind arm? Jedes vierte? Egal, Panzer sind wichtiger