Von Dagmar Henn
Wenn eines feststeht bei der geplanten Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen, dann, dass es dabei nicht um Litauen geht. Alle drei baltischen Staaten sind zwar ungeheuer von ihrer Bedeutung überzeugt und tönen ständig, wie sehr sie doch von Russland bedroht sind. Aber es gibt nur zwei Gründe, warum Russland nicht schlicht völlig ignorieren kann, was dort geschieht, und die Zwergstaaten einfach ihrem Schicksal überlassen. Der eine ist die nennenswerte russische Minderheit, die in zwei der drei Staaten, Lettland und Estland, nach wie vor keine Bürgerrechte besitzt, und der andere heißt Kaliningrad. Und Letzteres ist nur deshalb ein Thema, weil diese drei Staaten so erbittert darum ringen, noch russlandfeindlicher zu sein als die Ukraine.
Litauen, wo die Bundeswehrbrigade stationiert werden soll, ist noch der demokratischste Teil dieses Trios; allerdings werden auch dort Nazikollaborateure verherrlicht, und über ihre Verbrechen zu reden steht unter Strafe. Aber wenigstens gab es keine litauischen SS-Einheiten. Es ist gewissermaßen Baltikum light.
Litauen ist ungefähr so, als würde man die Bevölkerung Berlins auf der Fläche von Bayern verteilen, 2,9 Millionen Einwohner auf 65.000 Quadratkilometern; es ist also vor allem leeres Land. Was noch dadurch verstärkt wird, dass zwei Drittel der Einwohner in den Städten leben. Nachdem unbewohnte Fläche etwas ist, an dem in Russland keinerlei Mangel besteht, ist die hysterische Furcht vor einer russischen Besetzung, die dort kultiviert wird, schwer nachvollziehbar; wenn das Land nicht in der NATO wäre, würde es schlicht niemanden interessieren. Aber das mag der Schlüssel sein: die Abhängigkeit von Subventionen aus der EU. Sie fließen üppiger, wenn man es schafft, eine strategische Bedeutung zu konstruieren.
Diese allerdings ist und war immer schon nur dann existent, wenn sie sich gegen Russland richtete; im Falle Litauens vor allem gegen Kaliningrad. Man darf annehmen, dass es diese Lage ist, die die NATO animiert, mehr Militär in Litauen aufzustellen. Schließlich hegt man mittlerweile Träume, die ganze Ostsee unter NATO-Kontrolle zu bringen und der russischen baltischen Flotte die Ausfahrt zu sperren. Ein völlig idiotischer Plan, so unnütz wie wahnsinnig, aber so ist sie nun einmal, die NATO.
Die Eile, mit der jetzt zugesichert wurde, dass das deutsche Kontingent ganz sicher nach Litauen kommt, hat aber einen ganz anderen Grund. Der liegt vielmehr darin, dass noch ein anderer Kandidat versuchen könnte, sich in Litauen niederzulassen: Polen hat sich schon dazu bereit erklärt.
"Duda habe ihm ein 'sehr interessantes Angebot' unterbreitet", zitiert die Welt aus einem Interview des litauischen Präsidenten Nausėda. Das ist natürlich eine Kränkung für die Bundeswehr, die seit 2017 die Führung der NATO-Mission in Litauen hat. Und schon steigt die Bereitschaft des deutschen Verteidigungsministers, die vorhandene multinationale Truppe von 1.500 NATO-Soldaten, die bisher dort stationiert ist, um eine ganze Brigade aufzustocken.
Der Grund für den ganzen Aufwand ist der sogenannte Suwalki-Korridor, die etwa 70 Kilometer lange Landgrenze zwischen Polen und Litauen, die Weißrussland von Kaliningrad trennt, und um den die NATO großes Aufhebens macht, weil an dieser Stelle angeblich die Landverbindung zu den baltischen Staaten unterbrochen werden könnte; in Wirklichkeit dürfte es eher um die Möglichkeit gehen, Kaliningrad von jeder Landverbindung abzuschneiden.
Dabei ist der ganze Einsatz in Litauen entweder überflüssig oder suizidär. Solange die NATO keine Provokationen in Richtung Kaliningrad startet, braucht es dort keine zusätzlichen Truppen. Sollte aber eine solche Provokation beginnen und Russland Kaliningrad verteidigen müssen, dann wäre die zu verlegende Brigade nur zusätzliches Kanonenfutter, woran auch eine großzügige Ausstattung mit schwerem Gerät nichts ändern würde.
Witzig an der Geschichte ist nur das Detail, dass Gorbatschow Deutschland angeboten haben soll, Kaliningrad, das ehemals deutsche Königsberg, wieder zurückzugeben. Ein alter Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2010 zitiert den ehemaligen Leiter des politischen Referats der deutschen Botschaft in Moskau, Joachim von Arnim, mit der Antwort auf dieses Angebot:
"Wenn die Sowjetunion Probleme mit der Entwicklung des nördlichen Ostpreußen habe, so sei das ihre Sache."
Nun, die damalige Generation erinnerte sich noch daran, dass eine Exklave, die womöglich nur über den Seeweg versorgt werden kann, nicht nur Freude bringt und ließ das Problem mit Polen und Balten vermutlich mit einer gewissen Schadenfreude in sowjetischen, später russischen Händen.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders bizarr, jetzt deutsche Truppen zu entsenden, um genau das Stück Land zu bedrohen, das man 1990 hätte haben können, aber nicht wollte. Und sich dann ausgerechnet durch polnische Konkurrenz dazu drängen zu lassen, als könne man sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Nachbar, der jetzt schon darauf lauert, sich Galizien zurückzuholen, irgendwann auch Kaliningrad ins Visier nimmt. Die US-Neokons wären sicher davon begeistert.
Intelligent ist es nicht, eine ganze Brigade gewissermaßen zu Geiseln der polnischen Regierung und der Neokons zu machen. Aber intelligente Politik ist in Deutschland schon etwas her.
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