Selenskij opfert seine Mitbürger für eine zweite Amtszeit

Warum verweigert Kiew Friedensverhandlungen mit Russland? Unter anderem wird dies mit dem "Willen des Volkes" begründet. Doch gibt es gute Gründe zu glauben, dass die Bevölkerung etwas ganz anderes will, was einer der engsten von Selenskijs Mitarbeitern jüngst verriet.

Von Nikolai Storoshenko

Es kann passieren, dass auf ersten Blick alltägliche Äußerungen von Politikern manchmal sensationeller sind, als skandalöse Geständnisse. Nehmen wir ein paar Beispiele.

Das erste Beispiel liefert der US-amerikanische Senator Mark Warner. Mit einer fast schon kindlichen Unbekümmertheit spricht er öffentlich davon, dass endlich der Militärhaushalt der USA für einen "guten" Zweck eingesetzt wird, nämlich für die Vernichtung der russischen Armee. Die sei eine Bedrohung, in deren Schatten er angeblich sein ganzes Leben lang verbrachte. Zudem geschehe dies durch die Ukrainer und für einen ganz geringen Preis. "I think we need to continue that", was keiner Übersetzung bedarf.

Ja, es ist skandalös, doch ist es eine Sensation? Als ob wir nicht schon wüssten, dass sie genau so denken.

Und hier ist ein viel langweiligeres Zitat des Sekretärs des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine Alexei Danilow:

"Das ist eine ganz gefährliche Tendenz, wenn Menschen sogar in der westlichen Ukraine von Friedensverhandlungen zu sprechen beginnen."

Betrachten wir es genauer.

Was ist mit Umfragen?

Im Sommer hatte die Zeitung Wsgljad bereits von unserer "Bedrohung durch Frieden" geschrieben. Damals war die Rede von sogenannten Verbündeten der Ukraine, die sie zu einer Fortsetzung der Kämpfe anstacheln wollten, vor allem von Großbritannien, wo diese bedeutsame Phrase seinerzeit formuliert worden war. Heute hören wir buchstäblich das Gleiche aus der Ukraine.

Amüsanterweise erklärte Danilow mit seiner Äußerung über den zaghaften Wunsch vieler Ukrainer, die Kämpfe einzustellen, zahlreiche  Meinungsumfragen zu diesem Thema für nichtig. Und zwar diejenigen, in denen 70, 80 oder gar 90 Prozent der befragten Ukrainer angeblich behaupteten, bis zu einem Endsieg kämpfen zu wollen, dass sie nur an einen Sieg der Ukraine glauben und die Entscheidungen des Regimes von Selenskij in jeder Hinsicht unterstützen. Erst Ende Februar veröffentlichte die Zeitung Ukrainskaja Prawda wieder solche Umfrageergebnisse.

Doch es kann nicht beides gleichzeitig wahr sein. Man kann nicht gleichzeitig bis zum Sieg oder bis zum letzten Ukrainer kämpfen wollen und zugleich nach einer schnellstmöglichen Friedenslösung streben.

Natürlich unterliegt auch die Soziologie in der Ukraine unter Kriegsbedingungen gewissen Einschränkungen, die es verhindern herauszufinden, was die Bevölkerung wirklich denkt. Erstens sind die Menschen seit Langem eingeschüchtert und werden einem Unbekannten nichts sagen, was dem offiziell gebilligten Diskurs nicht entspricht. Zweitens sind Soziologen auch nur Menschen und verstehen sehr gut, welche Zahlen das Regime von ihnen erhalten will und welche sie den Kopf kosten könnten.

Doch es scheint, dass die Soziologen hinter verschlossenen Türen durchaus ein wahrheitsgetreues Bild zeigen könnten. Woher sonst würden solche Reden über gefährliche Tendenzen rühren?

Worin besteht die Gefahr?

Der ehemalige Generalstaatsanwalt der Ukraine Juri Luzenko hatte sich im Jahr 2020 an sein Gespräch mit Selenskij erinnert, in dem der heutige Präsident sich brüstete, quasi einen Blankoscheck für jegliche Entscheidungen zu haben. Schließlich hätte ihn das ganze Land bei den Wahlen unterstützt. Diese These ist sehr umstritten, und selbst Luzenko wies ihn darauf hin, doch sei's drum.

Denn heute verfügt Selenskij erst recht über einen solchen Blankoscheck, der inzwischen komplizierter und bedeutsamer geworden ist. Da wären die Ängste der einfachen Ukrainer, die von der Regierung geschickt anstachelt werden, und eine beispiellose Unterstützung durch den Westen sowie Aufsehen erregende Aktionen, die von der ukrainischen Regierung von Zeit zu Zeit ihren Wählern vorgeführt werden: Anschläge gegen bekannte Objekte wie die Krimbrücke oder den russischen Kreuzer "Moskau".

Politische Gegner könnten Selenskij mit großer Mühe sogar Korruption vorwerfen. Auch der jüngste Beschaffungsskandal im Verteidigungsministerium endete jedoch im Nichts. Selenskij hat nicht einmal den Verteidigungsminister Resnikow entlassen, auch wenn es der naheliegendste und ein bewährter Schritt wäre, der von vielen erwartet wurde. Denn der Zar ist gut, nur die Bojaren sind schlecht.

Der Westen und die Ukrainer verzeihen Selenskij viel mehr, als sie jedem anderen ukrainischen Präsidenten verziehen hätten. Selbst die Unzufriedenheit über die Mobilmachung richtet sich vorerst gegen die "schlechten" Mitarbeiter der Musterungsbehörden und gegen lokale Exzesse. Und das ist viel besser als 74 Prozent der Stimmen nicht erst im zweiten, sondern sogar im ersten Wahlgang.

Doch das Problem ist, dass diese Schurkereien bis zum Abschluss eines Friedens oder eines Waffenstillstands fortgesetzt werden. Erst dann werden nach und nach die alten Rechnungen zum Begleichen hervorgeholt werden.

Besonders unangenehm wird es, wenn noch vor den nächsten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine im April 2024 ein Frieden oder Waffenstillstand geschlossen wird. Selenskijs Gegner sammeln schon ihre Kräfte und kompromittierende Beweise. Daher ist die einzig akzeptable Wahltaktik für Selenskijs Team, durch die Wahlen eine Bestätigung des "militärischen Blankoschecks" einzuholen. Um nämlich selbst im Falle eines Friedensschlusses gegenüber der Opposition behaupten zu können, schließlich vom ganzen Land gewählt worden zu sein.

Außerdem ist da noch die regionale Bindung, denn selbst in der Westukraine spricht man schon von Friedensverhandlungen. Das Szenario von Selenskijs Team ist eine Wiederholung des Tricks von Leonid Kutschma. Er wurde zum Präsidenten mit Unterstützung des Südostens der Ukraine und als Kandidat der westlichen und zentralen Ukraine für eine zweite Amtszeit gewählt. Heute besteht ein zusätzlicher Vorteil dieser Strategie darin, dass die Wähler aus anderen Regionen in den Westen und das Zentrum des Landes migriert sind. Und wenn selbst dort jetzt vom Frieden gesprochen wird, verheißt das nicht Gutes für Selenskij.

Übrigens erklärte der Pressesprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow im Hinblick auf Danilows Enthüllungen, dass er in der Ukraine nichts Ermutigendes erkennen könne. Und das steht keinesfalls im Widerspruch zu den Worten von Danilow.

Danilow ist durch und durch ein Mann Selenskijs. Mit seinen Äußerungen zeigt er, dass die Regierung bereits an eine zweite Amtszeit denkt. Das bedeutet, dass Selenskij mit seinem Team in allen militärischen Fragen so unerbittlich wie nur möglich die "Falken" spielen wird – und sei es nur deshalb, um den Gegnern nicht die Möglichkeit zu geben, sie in dieser Frage zu überholen.

Einst kandidierte Petro Poroschenko als solch ein "Falke". Und was wurde ihm damals zum Verhängnis? Richtig, gerade diese gefährlichen Tendenzen, die Forderungen nach Frieden in der Zivilgesellschaft, was Selenskij damals ausnutzte. Selenskijs Gefolge erinnert sich gut an das Schicksal des Vorgängers und will nicht nach dem gleichen Szenario verlieren, indem man den Gegnern die Chance gibt, sich am Thema eines Friedensabkommens zu profilieren.

Aus politisch-taktischer Sicht sind diese Bestrebungen nachvollziehbar. Doch alles hat seinen Preis. In diesem Fall besteht dieser Preis in Abertausenden von Menschenleben, die nur dafür geopfert werden, Selenskij eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.

Übersetzt aus dem Russischen, zuerst erschienen bei Wsgljad

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