Von Tom J. Wellbrock
Und ja, es gibt eine Gegenseite. Wir haben es mit zwei grundverschiedenen Fronten zu tun, die in Einklang zu bringen, inzwischen unmöglich erscheint. Bei jedem Gespräch sofort in die Defensive zu gehen, ist aber kontraproduktiv. Wer in eine Debatte einsteigt mit der Feststellung, dass es sich beim Einmarsch der Russen um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handelt, der unverzeihlich ist, reduziert von sich aus die gesamte Geschichte auf die Gegenwart. Da ist der Vorwurf, man betreibe "Whataboutism" nicht einmal mehr nötig.
Es geht um Prozesse
Dieser Krieg, der am 24. Februar 2022 begann, kam nicht aus heiterem Himmel, das muss man wissen. Und all jene, die sich für Friedensverhandlungen einsetzen, wissen das in aller Regel. Doch in den seltensten Fällen sagen sie das auch. Stattdessen setzen sie sich für verbale Abrüstung ein und wollen Lösungen durch Verhandlungen erzielen. Wer aber kurz zuvor noch eingeräumt hat, dass dieser Einmarsch durch nichts zu entschuldigen ist, liefert eine Steilvorlage für die, die entgegnen: "Im Falle eines solchen Angriffskrieges gibt es nichts zu verhandeln, Sie haben das doch gerade selbst gesagt, da gibt es nichts zu entschuldigen. Verhandlungen würden also nur Putin in seiner Haltung bestärken."
Die Tatsache, dass der Unterschied zwischen Verhandlung und Kapitulation immer wieder ganz bewusst verwechselt wird, macht die Sache nicht leichter, und sie ist eine perfide Methode, um Lösungsansätze zu konterkarieren. Was will man von der Gegenseite erwarten, wenn man den Angriffskrieg auf den Zeitraum vom 24.2.2022 bis heute begrenzt und sich damit selbst in die Sackgasse führt, die jede vernünftige Diskussion verbrennt?
Alles, was in der Ukraine seit der deutschen Wiedervereinigung beziehungsweise dem Niedergang der Sowjetunion passiert ist, muss chronologisch genau analysiert und auch kommuniziert werden. Wer das nicht tut, trägt nichts zum Verständnis der Prozesse bei, mit denen wir es zu tun haben.
Das ist zugegebenermaßen sehr schwer, denn jeder Versuch, die Entwicklungen in der Ukraine sachlich zu analysieren, wird mit Parteinahme gleichgesetzt. Doch genaugenommen passiert das auch, wenn man einen Verhandlungswunsch äußert. Wer also die Kraft und die Souveränität besitzt, sich gegen die Fortführung des Krieges durch Waffenlieferungen und Eskalation auszusprechen, steckt ohnehin in der Falle. Dann kann man es auch gleich konsequent betreiben.
Die ganze Geschichte
Die Reduzierung des aktuellen Konflikts auf die Frage, wer der Aggressor ist, verdeckt die Interessenlage dahinter. Wer einen Aggressor "präsentiert" bekommt, ohne dessen Motive zu erfahren, erkennt nur den Aggressor. Und er kommt unweigerlich zum Schluss, dass der tut, was er tut, weil er es kann, einfach so. Auf diese Weise funktioniert die kategorische Einordnung der Russen als "das Böse". Wir machen das nicht bewusst, aber wir bewerten einen Widersacher oder auch Kriminellen anders, wenn wir die Gründe seines Handels kennen oder zumindest zu kennen glauben.
Das öffentliche Bild Russlands dagegen ist geprägt von der Unterstellung, die Ukraine zu überfallen, sei nichts, was einen Grund bräuchte. Der Russe ist halt so, da kann man nichts machen. Eine solche Denkweise erzeugt, weit genug gestreut und wiederholt, das Gefühl in der Bevölkerung, Putin habe die Ukraine überfallen, weil es seinem Naturell entspricht. Hat sich diese Idee etabliert, lässt sich das Szenario eines russischen Angriffs auf Deutschland oder ein anderes Land leicht glaubhaft machen. Überfällt Putin ohne Grund die Ukraine, wird er auch andere Länder grundlos überfallen und vernichten wollen.
Wer sich auch nur an der Oberfläche mit der Entstehung des aktuellen Ukraine-Krieges beschäftigt hat, wird unweigerlich zum Schluss kommen, dass die ihm vorausgehende Geschichte eine ganz erhebliche Bedeutung hat. Man muss das sagen, um dem Märchen des Russen, der "just for fun" die Ukraine überfällt, entgegenzuwirken. Die am besten gemeinten und noch so innig formulierten Wünsche nach Verhandlungen ohne jede Hintergrundinformationen sind inzwischen verbrannt. Es ist zynisch, aber der bloße Wunsch nach Frieden und Verhandlungslösungen überzeugt mittlerweile kaum noch Menschen, die sich auf die Russen "eingeschossen" haben.
Das ist bis zu einem gewissen Punkt sogar verständlich. Warum sollte ich jemandem, der völlig ohne Grund einen anderen angreift, Verhandlungen anbieten? Da sitzt etwa jemand auf einer Bank, liest ein Buch und im nächsten Moment steht ein anderer vor ihm und schlägt ihn mit einem Knüppel windelweich. Man wird wohl eher die Polizei anrufen, im tollkühnsten Fall selbst eingreifen, aber sicher nicht das Gespräch mit dem Täter suchen. Kommt aber heraus, dass der Mann mit dem Buch zuvor die Partnerin des Täters schwer verletzt oder getötet hat, stellt sich die Situation anders dar. Nicht, dass die Attacke auf den lesenden Mann dadurch entschuldbar wäre, das nicht, aber wir haben es nun nicht mehr mit einer Tat zu tun, die uns sinnlos und als Ausdruck einer von Natur aus bösen Figur erscheint. Wir sprechen vielmehr über eine Kette von Ereignissen, die es einzuordnen gilt. Das verändert die Verantwortlichkeiten und die Motivation hinter jeder einzelnen Tat. Es lässt keine der Taten verschwinden, verunmöglicht aber eine kategorische Einordnung von "gut" und "böse".
Daher spielt auch in der Justiz der Grund einer Tat immer eine Rolle bei der Strafbemessung. Das Motiv Rache erhält eine andere Bedeutung als Verzweiflung, und nicht umsonst wird zwischen Mord, Totschlag, Vorsatz, Notwehr und zahlreichen anderen Faktoren unterschieden. Was auch sollte der Richter ohne diese Informationen tun? Er müsste jeden Fall gleich bewerten und immer die gleiche Strafe aussprechen (oder, je nach Perspektive: den gleichen Freispruch).
Es geht um Interessen
Noch einmal: Die Zeit vor dem 24. Februar 2022 auszublenden und aus der Einordnung des Krieges auszuklammern, führt zu einem unvollständigen Bild, das naturgemäß zu einer unvollständigen Analyse führen muss. In der Öffentlichkeit ist die Beachtung von Details gänzlich verschwunden, daher bewegt sich die Kriegsbefürwortung auch auf einem so niedrigen Niveau. "Der will gar nicht verhandeln", "es geht um die Zerstörung der Ukraine" oder "Putin will ein russisches Reich aufbauen" und ähnliche "Argumente" taugen nicht einmal als Hilfe für jemanden, der noch nie vom Konflikt gehört hat und sich einen ersten Überblick wünscht.
Jeder, der sich für Verhandlungen einsetzt, tut sich daher keinen Gefallen, wenn er sich auf das genannte niedrige Niveau einlässt. Die Argumente sind in 30 Sekunden aufgezählt, die Debatte beendet. Es ist daher auch inzwischen so uninteressant, einer Strack-Zimmermann, einem Hofreiter oder einer Baerbock zu lauschen. Ihnen fehlt entweder das Wissen über die Zusammenhänge oder sie blenden sie gewollt aus. "Von Natur aus böser Russe tötet Menschen" zu sagen ist eben leichter, als die unzähligen Aspekte zu beleuchten, die mit diesem Krieg zusammenhängen. Und einen gewünschten Nebeneffekt gibt es auch noch: Durch die Verkürzung der Erzählung können andere Akteure aus dem Spiel genommen werden.
Unter anderem hat es Sahra Wagenknecht versucht. Sie wies wiederholt auf die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der USA und Europas hin. Ulrike Guérot beschreibt in ihrem aktuellen Buch "Endspiel Europa" die Zusammenhänge, die zum Ukraine-Krieg geführt haben, recht genau. Beide und weitere stehen für diese Analysen im öffentlichen Fokus und in der Kritik. Sie mussten und müssen viel Dreck aushalten, mit dem sie beworfen werden, doch es gibt keine Alternative zu diesem Herangehen, selbst wenn es als "Whataboutism" abgetan oder von der Gegenseite ignoriert wird.
Bei der Ukraine ging es vom ersten Moment an nicht um den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Es ging und geht nicht um Menschenrechte, sondern darum, das Land zu einem Werkzeug der NATO zu machen, um Russland erneut und weiterhin unter Druck zu setzen. Korruption und neofaschistische Einflussnahme sind allen beteiligten Verantwortlichen bekannt. Beides wird im besten Falle ignoriert, im schlimmsten forciert. Man muss eine fast übermenschliche Fähigkeit des Verdrängens an den Tag legen, will man das ernsthaft leugnen.
Wir sind dort angekommen, wo das Schweigen zu den Hintergründen des Ukraine-Krieges einen gefährlichen Punkt erreicht hat. Durch penetrante Wiederholung der Medien glauben viele Menschen inzwischen, Russland habe im Jahr 2014 den Donbass überfallen. Der persönlichkeitsgestörte ehemalige Botschafter der Ukraine sagte beim Einsteigen in ein Auto, dass es die Ukraine gewesen sei, die Deutschland von den Nazis befreit habe. Wahlweise werden auch die USA an diese Stelle gesetzt. Die Taten von Butscha werden den Russen angelastet, obwohl keine Beweise dafür vorliegen. Angeblich hat Russland Georgien angegriffen, nicht umgekehrt, obwohl der Angriff historisch belegt von Georgien ausging. Und noch immer steht der Verdacht im Raum, dass die Russen ihre eigenen Pipelines gesprengt hätten.
Wer sich zu diesen und vielen weiteren Fragen nicht äußert, sich nicht positioniert als jemand, der Fragen hat und Aufklärung fordert, unterstützt die Neuschreibung einer Geschichte, die sich doch ganz anders abgespielt hat. Das ist eines der großen Probleme dieses Krieges: Erstens werden die Gründe für seine Entstehung ausgeblendet, zweitens wird auf der Basis dieses Ausblendens eine neue Geschichte erzählt.
Wer über Verhandlungen sprechen will, darf über die Entstehung des Krieges nicht schweigen. Wer es dennoch tut, wird unfreiwillig Teil einer großangelegten Desinformationskampagne. Und am Ende bleibt die Wahrheit als rudimentäres Teilstück eines Meeres von Lügen, Behauptungen, Erfindungen und der Rechtfertigung, diesen Krieg weiterzuführen, bis endgültig kein Stein mehr auf dem anderen steht.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs "neulandrebellen".
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