Von Dagmar Henn
In 20 Jahren, wenn – falls uns die Neocons in Washington nicht eine atomare Katastrophe bescheren – die Ereignisse des letzten Jahres in den Geschichtsbüchern stehen, wird der Abschnitt über Deutschland große Verwunderung auslösen.
Denn wie kann es sein, dass ein Land ein anderes, das einen terroristischen Angriff auf zentrale Versorgungssysteme geführt hat, als seinen engsten Verbündeten betrachtet, aber erklärt, sich mit einem dritten Land, das keine derartigen Handlungen ausgeführt hat, im Krieg zu befinden?
Jeder einzelne Schritt der letzten Monate, die gegen Russland verhängten Sanktionen, die grenzenlose Unterstützung des ukrainischen Regimes, die propagandistische Aufrüstung, all das erfolgte gegen das nationale Interesse. Und es ist kaum ein schwererer Verstoß vorstellbar, als einen gegen das Land geführten Krieg nicht zu erkennen, sondern stattdessen dabei noch Hilfestellung zu leisten. Das als "nicht souverän" zu bezeichnen, ist freundlich untertrieben. Es ist eher Selbstmord auf Kommando.
Sicher, die gegenwärtige Politikerriege ist hoch narzisstisch, intellektuell überfordert, vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht und aller Wahrscheinlichkeit durch die Bank erpressbar. Aber das allein genügt noch nicht, um dieses Verhalten zu erklären. Selbst der alte Separatist Konrad Adenauer, kein Mensch mit allzu hohen moralischen Maßstäben (im Jahr 1934 hatte ein Vertreter der illegalen KPD versucht, Kontakt mit dem ehemaligen Zentrumspolitiker aufzunehmen, um Möglichkeiten gemeinsamen Widerstands auszuloten, worauf Adenauer antwortete, er habe kein Interesse, man könne mit den Nazis noch gute Geschäfte machen), hätte, schon allein im Interesse seiner Partei, auf einen Angriff wie jenen auf Nord Stream reagiert. Ob es die persönliche Eitelkeit ist, freundliche Worte im Nachruf erwarten zu können, oder das Beharren auf einem Rest Selbstachtung – so tief wären selbst die meisten korrumpierbaren und korrupten Vertreter der Politelite der Westrepublik nie gesunken.
Aber diese völlige Blindheit für das nationale Interesse ist nicht vom Himmel gefallen. Es gab bereits eine Phase, in der es übergangen wurde, auch wenn damals zumindest noch der Mord an Alfred Herrhausen nötig war, um diesen Weg einschlagen zu können. Richtig, es geht um jenen Vorgang, den die einen Wiedervereinigung nennen und die anderen Annexion.
Wie hätte das damals ablaufen müssen, wäre für das daraus entstandene Deutschland das Optimum das Ziel gewesen? Jedenfalls nicht so, dass die gesamte Industrie des Ostens verramscht wird. Nicht so, dass Millionen arbeitslos werden, und nicht so, dass alles, was die DDR erreicht hatte, zerstört wurde.
Da war zum Beispiel das Bildungssystem. 15 Jahre, nachdem man es komplett abgewickelt und durch das westliche System ersetzt hatte, kam PISA, und Finnland, das damals am besten abschnitt, hatte das Bildungssystem der DDR kopiert ... Viele Punkte daraus, beispielsweise die Unterrichtseinheiten in der Produktion, wären heute nützlich: Schüler, die weiterbildende Schulen verlassen, kennen nichts als Schule, und das zentrale Kriterium der Berufswahl ist das Einkommen, nicht, ob die Tätigkeit selbst erfüllt. So gibt es unzählige Verwaltungskräfte oder Akademiker, die womöglich als Brauer oder Schreiner glücklicher wären, aber nie die Gelegenheit hatten, sich selbst so weit zu erkunden, um das festzustellen.
Es ist kein Wunder, dass heute in Deutschland niemand mehr die Barbarei wahrnimmt, die sich darin äußert, dass russische Bücher aus ukrainischen Bibliotheken verbannt werden. Schließlich geschah mit den meisten Büchern der DDR das Gleiche. Sie waren entweder politisch nicht opportun oder die Ausgaben kollidierten mit im Westen gedruckten; auf jeden Fall wurden unzählige Bücher vernichtet (mit besonderer Leidenschaft jene des Militärverlags der DDR).
Die Erzählung, die seitdem dominiert, sieht in der BRD das Gute und in der DDR das Schlechte. Aber wenn die BRD so deutlich das strahlende Gute gewesen wäre, warum war es dann überhaupt nötig, schon vorab der Cancel Culture zu frönen? Wäre das Gute nicht ohnehin augenfällig?
Es hätte ein anderes Modell geben können. Es wäre eine Chance gewesen. Die beiden Teile hätten in dem wechselseitigen Respekt zusammenwachsen können, den es im Umgang beispielsweise der Universitäten miteinander in der Zeit davor gegeben hatte; stattdessen wurde die eine Seite durch die andere ausgelöscht und die DDR-Bürger selbst in Hinsicht auf ihre Berufsabschlüsse eben nicht behandelt wie Landsleute, sondern wie Ausländer.
Es war keine rationale Planung, den Prozess möglichst verlustfrei verlaufen zu lassen, sondern eine feindliche Übernahme. Als würde sich ein Jota an der Geschichte ändern, wenn man so tut, als hätte es 40 Jahre DDR nie gegeben. Binnen weniger Monate entwickelte sich im westlichen Teil der Republik eine ideologische Besessenheit, die im Grunde nichts anderes kannte, als es "den Kommunisten richtig zeigen" zu wollen.
Wohlgemerkt, es geht mir nicht um die Frage, ob die DDR das bessere Deutschland war, auch wenn das meine Überzeugung ist. Es geht mir darum, dass selbst nach volkswirtschaftlichen Kriterien, unter dem Gesichtspunkt des mit den vorhandenen Ressourcen erreichbaren maximalen Wohls, der Ablauf verhängnisvoll war. Es war die Entscheidung der Regierung Kohl, die Währungsgrenze so schnell wie möglich aufzuheben.
Und nicht nur der Mord an Herrhausen warf damals Fragen auf; auch der Anschlag auf den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine kam irgendwie gar zu günstig. Lafontaines Wahlkampf wurde dadurch so gut wie beendet; davor hatte er gute Chancen gehabt, Helmut Kohl abzulösen. Nachdem er, ebenso wie Herrhausen, für eine langsamere wirtschaftliche Angleichung stand und vermutlich sogar einen Verfassungsprozess befürwortet hätte, wäre die Entwicklung ohne dieses Attentat ganz anders verlaufen.
Die Nichtanerkennung der Berufsabschlüsse war, volkswirtschaftlich gesehen, ein enormer Schaden. Schließlich hatte ein Teil des dann zusammengeschlossenen Landes beträchtliche Mittel in diese Ausbildungen investiert, die dadurch mindestens zum Teil verloren gingen. Der Umgang mit den staatlichen Wohnungen, die im Gegensatz zu allen anderen ehemals sozialistischen Ländern eben nicht ins Eigentum ihrer Bewohner übergingen, bot zwar Schnäppchen für die Immobilienwirtschaft, legte aber mit den Grundstein für die heutige massive Wohnungslosigkeit. Das Argument der Abwanderung zieht dabei nicht – die war eine Folge des ökonomischen Kahlschlags.
Wenn man hört, was manche vermeintliche Ökonomen heute so von sich geben, und sieht, was sie anrichten (bei der Erarbeitung der Sanktionen beispielsweise), muss man feststellen, dass ein Quantum Marxisten in der ökonomischen Lehre zumindest einen Rest Verstand erhält. Weil sie nicht dem Aberglauben anheimfallen, dass Geld Geld heckt und dass sich ökonomische Stärke an der Größe der Spekulationsblasen bemisst.
Ist die Etablierung der eroberten Gebiete als Niedriglohnregion von volkswirtschaftlichem Nutzen? Nein, das ist sie nicht. Die niedrigeren Einkommen bedeuten nicht nur weniger Kaufkraft, sondern auch weniger Steuereinnahmen, damit weniger öffentliche Investitionen, damit gleichzeitig wieder eine wirtschaftliche Schwächung der gesamten Region ... Und die Entscheidung, aus Verrechnungspositionen im Staatshaushalt der DDR echte Schulden zu machen, nur, damit Banken der Westrepublik diese Schulden übernehmen und damit verdienen konnten, war volkswirtschaftlich geradezu sträflich und zudem noch demokratiefeindlich.
Denn wenn man wirklich, ernsthaft, der Überzeugung gewesen wäre, man müsse den Bewohnern der DDR Demokratie beibringen – auf kommunaler Ebene geht das am besten. Kommunen, die kein Geld haben, können keine Entscheidungen treffen, weil alle Mittel durch die Pflichtaufgaben gebunden sind; aber wie soll Demokratie erfahren werden, wenn keine Entscheidungen möglich sind? Und wenn es wirklich so gewesen wäre, dass die Bürger des anderen deutschen Staates Jahrzehnte unter einer finsteren Diktatur leiden mussten, wäre dann nicht eine Verfassungsdebatte das ideale Mittel gewesen, um eine gemeinsame politische Kultur entstehen zu lassen?
Im Rückblick muss man sagen, Kohl als Kanzler war vermutlich ein sehr spezifisches Verhängnis. Spezifisch, weil er immer der Mann der chemischen Industrie war; der BASF, um genau zu sein. Die BASF ist einer der IG-Farben-Nachfolgekonzerne, die IG Farben war der Teil der deutschen Industrie, die die Nazis als erster unterstützte, und es muss nicht überraschen, dass womöglich gerade innerhalb dieser Unternehmen der Wunsch nach Rache an der DDR besonders ausgeprägt war.
Aber es gibt noch einen anderen Faktor, der vielleicht erst jetzt klar erkennbar ist. Die chemische Industrie hatte immer eine Besonderheit – sie ist kapitalintensiv, aber nicht personalintensiv, zumindest nicht in der Produktion, und schon immer war ein beträchtlicher Teil ihrer Einnahmen Rente. Patente sind das, womit in dieser Branche Geld gemacht wird. Kurt Gossweiler, ein Historiker, der sich sehr gründlich mit den Beziehungen zwischen den Nazis und der deutschen Industrie befasst hat, beschrieb diese besondere Nähe der Chemie- und Pharmaindustrie, konnte sie aber nicht erklären.
Wenn man heute betrachtet, wie es die Interessen der Rentenökonomie sind, die die Politik des Westens bestimmen, und die zur gegenwärtigen Aggression führen, dann erklärt sich auch, warum das, was nach 1989 geschah, so sehr gegen das nationale Interesse gerichtet war. Das Einnahmemodell der Rentenökonomie kann auf viele Dinge verzichten, die eine auf Realisierung eines Mehrwerts ausgerichtete Produktion benötigt. Funktionierende Eisenbahnen etwa, oder eine einigermaßen stabile Regionalwirtschaft.
Im Normalfall ist es die Aufgabe einer bürgerlichen Regierung, die langfristigen Interessen der gesamten Kapital besitzenden Klasse gegen ihre kurzfristigen durchzusetzen. Dazu hält sich der bürgerliche Staat ein Parlament. Während es das kurzfristige Interesse jedes Firmenbesitzers sein mag, möglichst wenig Steuern zu zahlen, ist es das langfristige, beispielsweise qualifiziertes Personal zu finden, das es sich vernünftigerweise auch leisten kann, in nicht allzu großer Entfernung von der Arbeit zu wohnen. Dafür braucht es ein funktionierendes Bildungssystem und bezahlbare Wohnungen. Beides ist nicht zu haben, wenn sich der Wunsch nach möglichst niedrigen Steuern durchsetzt.
Volkswirtschaftlich sind die Mieten eine Art Verschiebebahnhof. Das, was für die Miete ausgegeben wird, kann nicht konsumiert werden, wodurch die Nachfrage sinkt; andererseits müssen, sofern noch Produktion stattfinden soll, die Löhne entsprechend steigen, wodurch ein Teil des Gewinns aus der Produktion zum Gewinn des Vermieters wird.
Steigende Immobilienpreise, die auf der Erwartung weiter steigender Mieten beruhen, entziehen also immer Geld dem Teil der Ökonomie, in dem produziert und konsumiert wird. Im günstigsten Fall, wenn der hypothetische Vermieter selbst sämtliche Einnahmen in Konsum umsetzt, bleiben sie volkswirtschaftlich neutral; in der Regel, da Eigentum an Mietwohnungen nur bei einem Prozent der Bevölkerung überhaupt zu finden ist, werden die Einnahmen nicht in Konsum umgesetzt, sondern fließen in weitere Arten spekulativer Investitionen und werden somit dem realen Kreislauf von Ware und Geld entzogen.
Es gibt also ein objektives volkswirtschaftliches Interesse, den Anstieg von Mieten zu begrenzen. Das einfachste Mittel dazu besteht darin, größere Teile des Wohnungsangebots dem Markt zu entziehen. Es war die Kenntnis dieser volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, die dafür sorgten, dass Werkswohnungen und Sozialwohnungen gebaut wurden; nicht die reine Menschenfreundlichkeit, sondern das Wissen darum, dass das langfristige Interesse selbst der Kapitaleigner eine Kontrolle der Mietsteigerungen erfordert.
Aber 1989 war es wichtiger, die Menschen der DDR für ihre "Abtrünnigkeit" zu strafen. In allen Fragen, in denen es ein nationales Interesse gegeben hätte, eine volkswirtschaftlich vernünftige Lösung, wurde das Gegenteil getan. Die Treuhandanstalt nahm sich nicht umsonst die Plünderungsverfahren der Nazis in den besetzten Ländern zum Vorbild. Das politische Ziel der Unterwerfung stach das langfristige ökonomische wie politische Interesse beider Teile aus. Übrig blieben eine halbverdaute Annexion und ein enormer volkswirtschaftlicher Verlust.
Dieselbe Qualität hatte dann die Agenda 2010, die die aus der Plünderung ererbte Arbeitslosigkeit zur Lohndrückerei nutzte. Denn profitiert haben davon einzig die Eigentümer der exportorientierten Industrie, nicht einmal die Industrie als Ganze, denn alle nicht exportorientierten Teile litten und leiden unter der fehlenden Kaufkraft. Ganz zu schweigen von den Sozialsystemen: Nachdem die laufenden Renten immer aus den laufenden Beiträgen finanziert werden, sind 30 Prozent weniger Lohn 30 Prozent weniger Geld, diese laufenden Renten zu bezahlen. Die gesammelten Rentenkürzungen der letzten Jahrzehnte sind die Verlängerung der Lohndrückerei in die Altersarmut.
Angesichts der volkswirtschaftlichen Schäden, die Hartz IV anrichtete, ist es geradezu ein Wunder, dass unter der Regierung Schröder mit Nord Stream 1 zumindest ein Projekt auf den Weg gebracht wurde, das tatsächlich im nationalen Interesse war, und nicht nur im Interesse einiger weniger Konzerne. Aber das Denken in größeren Zusammenhängen kehrte nicht zurück.
Ein Musterbeispiel ist dafür nach wie vor die Wohnungsfrage. Spätestens 2015 hätte sich die Regierung Merkel Gedanken machen müssen, wie mehr Wohnungen gebaut werden könnten; hätte sie dies getan, wäre sie auf das Problem gestoßen, dass es nicht genug qualifiziertes Personal für die Bauleitungen mehr gibt, um ein größeres Wohnungsbauprogramm überhaupt zu beginnen.
Die Konsequenz daraus hätte dann lauten müssen, durch entsprechende Förderung für dieses Personal zu sorgen; das hätte zumindest mit einigen Jahren Verzögerung ein solches Programm ermöglicht. Seit acht Jahren hat noch nicht einmal das Nachdenken begonnen, und mit den jetzigen Baupreisen wird das ohnehin utopisch, bis die Immobilienblase geplatzt ist.
Das waren jetzt nur einige Beispiele, an welchen Punkten sich die Frage des nationalen Interesses stellt und wann die Fähigkeit, diese Frage zu stellen, verloren gegangen ist. Für jeden, der es noch gewohnt ist, in solchen Zusammenhängen zu denken, ist klar, wie abgrundtief bösartig der Anschlag auf Nord Stream und die Sanktionspolitik ist – Deutschland gegenüber. Und die Frage, wo Freunde und wo Feinde sitzen, würde sich anhand dieser Kriterien von selbst beantworten.
Seit über 30 Jahren ist in Deutschland jedes volkswirtschaftliche Denken aus der Politik verschwunden; die heutigen Regierungsdarsteller wüssten nicht einmal mehr, wie das geht. Aber genau dieses Denken ist die Voraussetzung dafür, nationale Interessen zu erkennen und sie zu verwirklichen. Das Amalgam aus Ahnungslosigkeit, Hybris und Wertegeschwalle, das an seine Stelle getreten ist, ist jedoch der sichere Weg in den Untergang.
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