von Dora Werner
Die Masken sind wieder einmal gefallen: Das US-Magazin Newsweek veröffentlichte jüngst einen großangelegten Artikel unter dem Titel "Der Kampf um das ukrainische Titan" und lässt dabei durch Vertreter des US-Kongresses und der Rüstungsindustrie verlauten, was viele schon lange vermutet haben. Nämlich: dass das ganze Gerede über die Verteidigung der ukrainischen Demokratie und Souveränität heuchlerisch ist – denn in Wirklichkeit ist die US-Regierung an den riesigen Titanreserven des Landes interessiert. Das Magazin schreibt:
"Nun gibt es in den USA und den verbündeten Staaten Bemühungen, die enormen Ressourcen der Ukraine an einem Schlüsselmetall zu identifizieren, zu entwickeln und zu nutzen, das für die Entwicklung der fortschrittlichsten Militärtechnologie des Westens entscheidend ist und das Rückgrat der künftigen Abschreckung gegen Russland und China bilden wird."
"Wenn die Ukraine gewinnt, sind die USA und ihre Verbündeten in der Pole-Position, um eine neue Titanquelle zu erschließen. Gelingt es Russland jedoch, die Vorkommen und Anlagen des Landes zu beschlagnahmen, wird Moskau seinen globalen Einfluss auf eine zunehmend strategische Ressource ausbauen."
So einfach, so ehrlich. Ebenso unverhüllt bedauert Newsweek, dass Russland in den ersten Wochen seiner Militäroperation zwei große Titanvorkommen in der Ostukraine in Besitz genommen hat. Und erzählt arglos, dass "die meisten Kämpfe sich auf die Ost- und Südukraine" konzentrieren, "wo sich Bodenschätze im Wert von Billionen von Dollar befinden".
Titan, ein seltenes Metall, ist ein knapper und unersetzlicher Rohstoff. Ohne ihn sind die Rüstungs-, Schiffbau- und Flugzeugindustrie nicht denkbar. In der Tat sind die meisten fortschrittlichen Technologien ohne Titan kaum vorstellbar. Daher ist Titan sowohl für die USA als auch für die EU zur Entwicklung ihrer Industrien und militärisch-industriellen Komplexe von entscheidender Bedeutung. Aber es gibt ein kleines Problem – beide Großmächte verfügen nur über wenige oder gar keine Titanbestände. Russland und China hingegen schon. Und die Ukraine. Newsweek erläutert:
"Das US-Innenministerium hat Titan als einen von 35 mineralischen Rohstoffen eingestuft, die für die Wirtschaft und die nationale Sicherheit der USA von entscheidender Bedeutung sind. Die USA importieren jedoch immer noch mehr als 90 Prozent ihres Eisenerzes, und das nicht nur aus befreundeten Ländern. Die USA haben keinen Titanschwamm mehr in ihrem nationalen Verteidigungsvorrat, und der letzte inländische Produzent von Titanschwamm hat im Jahr 2020 seinen Betrieb eingestellt.
Die Ukraine ist eines von nur sieben Ländern, die Titanschwamm, die Grundlage für Titanmetall, herstellen. China und Russland – die wichtigsten strategischen Rivalen Amerikas – gehören ebenfalls zu dieser Gruppe. Nach Angaben des U.S. Geological Survey produzierte China im vergangenen Jahr mehr als 231.000 Tonnen Titanschwamm, was 57 Prozent der weltweiten Produktion entspricht. Es folgen Japan mit 17 Prozent und Russland mit 13 Prozent. Kasachstan produzierte fast 18.000 Tonnen und die Ukraine mehr als 4.000 Tonnen. Moskaus Missbrauch von Energieressourcen als Waffe hat in Washington, D.C., und anderen NATO-Hauptstädten die Befürchtung ausgelöst, dass der Kreml eines Tages auch die Titanexporte einfrieren könnte, was die Luft- und Raumfahrt- sowie Rüstungsunternehmen in Bedrängnis bringen würde."
Daher entwickeln sowohl die USA als auch die EU Pläne für einen sicheren und permanenten Zugang zu ukrainischem Titan – oder vielmehr zu dem, das sich noch auf ukrainischem Gebiet befindet. Dabei handelt es sich insbesondere um die von dem Bergbauunternehmen Velta erschlossenen Vorkommen, die sich in der Nähe von Dnjepropetrowsk befinden. Und genau um diese Lagerstätten herum finden derzeit heftige Kämpfe statt.
Statistische Daten belegen, dass die Informationen von Newsweek korrekt sind. So veröffentlichte die ukrainische Internetressource GMK Center im September des Jahres 2022 Daten, wonach die Hauptabnehmer ukrainischer Titanerze im Zeitraum von Januar bis August 2022 die Tschechische Republik (48,1 Prozent im Geldwert), die USA (13,5 Prozent) und Rumänien (7,5 Prozent) waren. Medienberichten zufolge wird die Tschechische Republik im September dieses Jahres eine Anlage zur Verarbeitung ukrainischen Titans in Betrieb nehmen, das dann in andere EU-Länder und die USA geliefert wird. Das erklärt vieles.
Eine anonyme Quelle aus der amerikanischen Rüstungsindustrie erklärte außerdem gegenüber Newsweek, dass Titan "eine zentrale Schwachstelle" der USA sei:
"Wir sprechen von unserer Fähigkeit, mehr Flugzeuge zu produzieren, wir sprechen von unserer Fähigkeit, Munition zu produzieren. Sie alle sind auf Titan angewiesen, und wir haben zugelassen, bei diesen Dingen von ausländischen Lieferanten abhängig zu werden. Russland war bisher einer der Hauptlieferanten."
Deshalb konzentrieren sich die USA und die EU jetzt auf die ukrainischen Bodenschätze – egal, wie viele Menschenleben das kosten wird.
Die Angaben fügen sich reibungslos ins Gesamtbild der bisherigen westlichen Strategie: Sowohl hinsichtlich der obsessiven, unrealistischen Versuche, Russland zum Rückzug seiner Truppen auf die Ausgangslinien vom Anfang des Jahres 2022 zu bewegen (sprich: die Titanvorkommen für die USA freizumachen); als auch hinsichtlich der Tatsache, dass die NATO mit der Entsendung von Panzern in die Ukraine eine Eskalation des Atomkonflikts riskiert (sprich: hofft, dass Russland nicht heftig reagiert und von den ukrainischen Titanerzen noch zurückgedrängt werden kann).
In der Opernversion des "Faust" von Charles Gounod singt Mephistopheles in der Arie "Rondo vom goldenen Kalb" darüber, wie die Menschen um des Goldenen Kalbs, des Profits willen, in den Krieg ziehen, gegenseitig ihr Blut vergießen und für verachtenswertes Metall sterben. Ins Russische wurde die Arie im 19. Jahrhundert so übersetzt, dass sie einen dramatischeren Text erhielt als das französische Original – und der Refrain über das Sterben für Metall gehört seitdem zum russischen Sprachgebrauch:
"Menschen sterben für Metall, der Satan regiert den Ball!"
Diese Redewendung, leicht umgeschrieben, könnte vielleicht auch die Schlagzeile für das Ukraine-Abenteuer der Vereinigten Staaten sein: "Menschen sterben für Titan".
Unterdessen spitzt sich der Kampf zwischen den ukrainischen Oligarcheneliten um die verbleibenden Titanvorkommen zu. So berichteten Medien Ende des Jahres 2022, dass der ukrainische Titan-Oligarch Andrei Brodski, Eigentümer des Unternehmens Velta, sich wegen der laufenden Durchsuchungen in seinem Unternehmen, die "destabilisierend wirken", an den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij gewandt habe. In dem Appell, den der Oligarch auch auf seinen Social-Media-Konten postete – und in dem er seine Follower aufforderte, ihn zu verbreiten, um "die Kaperei der Behörden zu verhindern" –, betonte Brodski, dass sowohl er als auch seine Mitarbeiter stets eine "proukrainische Haltung" eingenommen und die ukrainischen Streitkräfte unterstützt hätten. "Seit dem Jahr 2014 hat Velta trotz eindringlicher Bitten russischer Unternehmen keine Waren mehr nach Russland geliefert", schrieb der Oligarch und forderte ein persönliches Treffen mit Selenskij.
Wie es aussieht, dürfte in den kommenden Wochen und Monaten ein harter Kampf um Titan in der Ukraine bevorstehen. Oder im Duktus des Westens: ein harter Kampf um Demokratie und Völkerrecht.
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