Der depressive Westen darf es wenigstens an Silvester wieder krachen lassen

Jedes Jahr, wenn es auf Neujahr zugeht, beschäftigt man sich damit, was vom kommenden Jahr oder, allgemeiner, der Zukunft erwartet wird. Nicht nur geopolitisch ist die Welt gespalten – auch Stimmung und Erwartungen unterscheiden sich gewaltig.

Von Dagmar Henn

Immerhin darf das neue Jahr diesmal wieder mit Feuerwerk begrüßt werden. Eine Sitte übrigens, die mit der Erfindung des Schwarzpulvers aus China nach Europa kam; aber die Gewohnheit, durch Lärm böse Geister zu verjagen und damit die Zukunft günstiger zu gestalten, gab es schon davor.

Dieses Jahr fragt man sich, ob der Lärm genügt. Wenn es nur die Inflation wäre – die Hälfte der Deutschen erwartet, dass sie im kommenden Jahr weiter steigt. Zwei Drittel sind gestresst von der unsicheren Zukunft, und sogar unter den Jüngeren im Alter bis 34 würde eine Mehrheit von 56 Prozent lieber in der Vergangenheit leben.

Was nicht wirklich verwundert, bei schlechter Beheizung und beginnender Rezession. Aber schon davor war die Stimmung nicht wirklich gut, und es sind noch ganz andere Sorgen, die den Einheimischen die Laune vermiesen: 87 Prozent macht die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich Angst, 83 Prozent fürchten, keine bezahlbare Wohnung zu finden; im Alter wird die Einsamkeit inzwischen von 80 Prozent als ebenso bedrohlich gesehen wie Armut, und mehr Aggression und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft fürchten 79 Prozent. Es sind sich also mindestens 4 von fünf Deutschen einig, dass die Lage mies ist und noch mieser werden dürfte. Wobei sich diese Zahl sicher nicht ganz zufällig damit deckt, dass seit längerer Zeit Wohlstandsgewinne nur an das obere Fünftel der Gesellschaft gehen.

Vielleicht wurden ja deshalb die Feuerwerksverbote im vergangenen Jahr mit solchem Gleichmut hingenommen. Ob das neue Jahr gefeiert oder eher verdrängt wird, hat sehr viel mit Zuversicht zu tun, und zwischen Untergangspredigten und real selbstzerstörerischer Politik scheint davon nicht viel übrig. Und welche junge Frau wollte heute noch die Sitte pflegen, eine Apfelschale über die Schulter zu werfen, um daraus dann den Anfangsbuchstaben des Namens des künftigen Liebsten zu erkennen, wenn sie mindestens noch eine weitere Apfelschale für das Geschlecht bräuchte?

Nun, nicht überall ist die Sicht so düster. In Russland antworteten jüngst auf die Frage, ob die Gesellschaft die meisten Probleme lösen könne, 58 Prozent mit "ja". Auch wird sowohl für die eigene Generation als auch für die kommende ein besseres Leben erwartet, und die Zahl derer mit einer positiven Sicht auf die Zukunft ist seit Anfang diesen Jahres sogar gestiegen.

Die Regierung spielt dabei eine positive Rolle, 54 Prozent sind überzeugt, dass sie schon in naher Zukunft für Verbesserungen sorgen wird; 2012 war das erst ein Drittel. Und trotz aller westlicher Sanktionswut erwarten 47 Prozent eine Verbesserung der internationalen Beziehungen ihres Landes, und ein Drittel sieht die Position Russlands in der Welt als stabil.

In Deutschland dürfte es geraume Zeit her sein, dass man von einer Regierung tatsächlich eine Verbesserung der Lebensverhältnisse erwartete; die allermeisten wären schon froh, wenn sie eine Verschlechterung unterlassen könnte. Da genügt es, an die inzwischen seit Jahrzehnten wiederholten Versprechungen der Deutschen Bahn zu denken, im nächsten Jahr sei sie aber wieder pünktlich, und sich an die reale Entwicklung zu erinnern, nach der inzwischen eine pünktliche Ankunft die Ausnahme darstellt. Ja, da hat man es nicht leicht mit dem Optimismus.

Die Erfinder des Feuerwerks blicken übrigens auch nicht pessimistisch in die Zukunft. Sie erwarten für ihr Land ein günstigeres Umfeld, gleich, wie sehr sich die USA und ihre europäischen Verbündeten bemühen, China "einzudämmen." Ganz pragmatisch halten sie dann eben die Beziehungen zu den USA für weniger wichtig, dafür die nach Russland und in die südostasiatischen Länder für wichtiger. Viele glauben, die Beziehungen nach Washington seien angespannt (30,4 Prozent) oder nur äußerlich friedlich (35,2 Prozent).

Wobei das Ansehen der US-Politik in China seit Beginn der speziellen Militäroperation gewaltig gesunken ist; so äußerten sich 48,9 Prozent, und bei weiteren 22,4 Prozent ist es immerhin noch etwas gesunken. Kein Wunder bei einer US-Regierung, die 39,6 Prozent für unfähig und weitere 27,4 Prozent für vielleicht unfähig halten (worin sie sich gar nicht besonders von den US-Amerikanern selbst unterscheiden). Und ganze 70,6 Prozent sind alles andere als begeistert von der US-Geschmacksrichtung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten.

Allerdings – sogar die US-Amerikaner selbst sind nicht so recht glücklich damit. Zwei Drittel sind überzeugt, ihr Land entwickle sich in die falsche Richtung, und erwarten von keiner der Parteien oder Regierungsbehörden eine sinnvolle Antwort auf die künftigen Herausforderungen. Dennoch sind immer noch 39 Prozent hoffnungsvoll für das neue Jahr, aber auch 24 Prozent besorgt und 11 Prozent ängstlich. Das wichtigste Thema für sie ist die Inflation. Und nicht nur hinsichtlich Präsident Joe Biden überwiegt eine negative Bewertung, sondern auch bezüglich des Obersten Gerichtshofs und des Kongresses.

Die Regierungen des Westens, die so überzeugt sind, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, vermitteln also nicht nur keine Zuversicht für die Zukunft, sondern erzeugen Sorgen, Stress und eine starke Sehnsucht nach der Vergangenheit, während im Osten den Regierungen vertraut und Zukunft mit Hoffnung verknüpft wird. Egal, was die Spitzen von EU und NATO von sich geben – in der Bevölkerung ist längst angekommen, dass der Westen von gestern ist.

Kein Wunder, die Chinesen haben eben nach dem Feuerwerk, dem Papier, dem Porzellan nur vorübergehend Pause gemacht im Erfinden und sind jetzt wieder dort, wo sie, allein aufgrund ihrer Zahl und ihres kulturellen Potentials, hingehören – an der Spitze bei Einreichungen von Patenten. In der Zeit, die Deutschland brauchte, um die ICE-Verbindung nach Berlin fertigzubauen (das waren rund 30 Jahre), dürften die Chinesen mit dem Schnellbahnnetz auf dem afrikanischen Kontinent fertig sein. Und auch Russland hat gezeigt, dass es die westlichen Sanktionen locker wegsteckt; dann werden eben vollständig eigene Flugzeuge und Fahrzeuge gebaut ...

Dafür kaufte man in Deutschland im vergangenen Frühjahr Waschmaschinen aus der Türkei, um die Chips in BMWs einzubauen. Das ist nämlich die wahre Geschichte hinter Ursula von der Leyens Behauptung, in Russland würden Chips aus Geschirrspülern in Kampfflugzeuge eingebaut. Aber immerhin, dieses Jahr ist das Feuerwerk erlaubt, und es gibt noch welches – nachdem auch Schwarzpulver Ammoniak benötigt, und dafür Erdgas ... Es macht jedenfalls Sinn, wenigstens so zu tun, als gäbe es etwas zu feiern – denn wer weiß, wie es in einem Jahr aussieht.

Mehr zum Thema – Wagenknechts Jahresrückblick: "Wer wählt diese Knalltüten?" – Die größten Flops und Lügen 2022