Von Dagmar Henn
Langsam möchte man um bessere Drehbuchschreiber betteln. Die ganze Geschichte um die Korruption im EU-Parlament wirkt so schlecht erdacht, dass es schon weh tut. Und übrig bleibt vor allem die Frage, was damit beabsichtigt wird.
Fangen wir mal mit dem Ort der Handlung an. Brüssel ist mit Sicherheit ein Ort, an dem gern größere Geldbeträge den Besitzer wechseln. Schließlich sitzt dort das NATO-Hauptquartier sowie die EU-Kommission. Das EU-Parlament als Ziel einer groß angelegten Bestechung ist allerdings eigenartig. Diese Einrichtung plustert sich zwar immer gern auf. Aber in Wirklichkeit entscheidet in der EU die Kommission, und das Parlament darf im günstigsten Fall ein wenig an den Vorlagen der Kommission ändern. Mit einer parlamentarischen Demokratie hat die EU nach wie vor nicht viel zu tun, obwohl sie sich ein ziemlich teures Parlament leistet; es handelt sich um eine Exekutivdiktatur mit einem demokratischen Mäntelchen.
Welchen Sinn hat es also, Abgeordnete des EU-Parlaments zu bestechen, und nicht Mitglieder der Kommission oder deren Mitarbeiter? Ist es vorstellbar, dass Abgesandte aus Katar tatsächlich nicht wissen, dass das völlige Geldverschwendung wäre?
Und dann die Sache mit dem Bargeld. Es gibt unzählige etablierte Wege, auf denen Bestechung möglich ist. Angefangen von den berühmten Drehtürjobs nach Ende der augenblicklichen Position, über Beschäftigung von Familienangehörigen, über Beraterverträge, bis hin zu Vortragshonoraren – und die Liste ist keinesfalls abschließend. Üblicherweise läuft so etwas über eine Agentur oder eine Stiftung; selbst fiktive Bauaufträge sind möglich, man muss nur die Kosten für die Struktur mit einrechnen und darauf achten, dass das Schmiergeld ordentlich versteuert wird. In Brüssel findet sich bestimmt an jeder Straßenecke ein Anwalt, der einem bei der Suche nach einem ordnungsgemäßen Weg der Bestechung helfen kann. Schließlich dürfte bestenfalls noch Washington mehr derartiger Gelder umsetzen.
Ein Reporter des Figaro, der sich schon länger mit den Golfstaaten befasst, äußerte sich dementsprechend auch in einem Interview: "Was mich überrascht, ist die Amateurhaftigkeit, mit der diese MEPs geschnappt wurden. 600.000 Euro in bar, im Büro oder zu Hause, das ist immer noch befremdlich. Im allgemeinen sind solche Techniken alt und 'professionell', wenn ich das sagen darf. Es gibt keine Spur, und es ist in der Regel schwierig, eine zu finden."
Und der Betrag? Man denkt da schon fast an irgendeinen Jungspund, der mit einem Koffer voller Geld losgeschickt wird, um irgendjemanden in Brüssel zu kaufen. Der keine Ahnung von nichts hat, aber vor allem entsetzt feststellt, dass für die relevanten Stellen, wie Kommission oder NATO, das Geld im Koffer einfach nicht reicht. Und der sich dann aus reiner Verzweiflung irgend jemanden sucht, dem er das Geld verpassen kann, nur um zu Hause erklären zu können, der Auftrag sei erledigt. Oder glaubt irgend jemand, so etwas wie ein Monopolvertrag für einen experimentellen Impfstoff für die gesamte EU ginge für lächerliche 600.000 Euro über den Tisch? Eine Summe, für die man in Brüssels besseren Vierteln vermutlich gerade ein Wohnklo mit Klappbett erwerben kann?
Warum überhaupt sollte Katar jetzt Einfluss auf das EU-Parlament nehmen wollen? Ganz abgesehen von dem kleinen Problem seines primär dekorativen Charakters steht augenblicklich auch nicht wirklich eine entscheidende Frage an. Die Vergabe der Fußball-WM, ja, das war ein Anlass für solche Aktionen. Nur läuft die bereits, wird dementsprechend mindestens im nächsten Vierteljahrhundert nicht mehr dort auftauchen. Und alles, was man irgendwohin buttert, um gute Stimmung zu machen, ist im Vergleich zu der Dauerwerbesendung der WM selbst absolut zu vernachlässigen. Klar, da gibt es die Frage mit den Arbeitsbedingungen beim Bau der Anlagen, aber ist das nicht irgendwie Schnee von gestern? Nur, damit in einem weitgehend irrelevanten Parlament jemand ein paar freundliche Worte darüber sagt, trägt man doch keine Geldkoffer durch die Gegend...
Der ganze Korruptionsdiskurs ist ohnehin verzerrt. Selbst wenn man mal annähme, es sei in diesem Fall auf derart amateurhafte Weise Geld aus Katar nach Brüssel geflossen – die Hauptrichtung der Korruption geht aus den Ländern des Westens nach Süden. Darum wird kein Gewese gemacht, weil man meist bei der Frage der Korruption auf den Empfänger, nicht den Sender blickt, und darum all die westlichen Konzerne mit ihren mehr oder weniger sauberen Techniken weitgehend aus dem Blickfeld bleiben. Und im Inneren hat man sich eine ganze Landschaft an Strukturen und Verfahren geschaffen, die völlig legal das gleiche Ziel verfolgen.
Die ganze Erzählung ist wirklich seltsam. Inzwischen steht die griechische Europaabgeordnete Eva Kaili im Mittelpunkt der Geschichte; das war zu Beginn allerdings mitnichten der Fall. Das schrieb die belgische Zeitung Le Soir, die zuerst über die ganze Geschichte berichtete, am Tag der ersten Festnahmen und Durchsuchungen:
"Nach unseren Informationen, wurde der ehemalige sozialdemokratische MEP, der Italiener Pier-Antonio Panzeri, der neu gewählte Generalsekretär des
Internationalen Gewerkschaftsbundes (ITUC), Luca Visentini, wie auch der Direktor einer NGO und ein Mitarbeiter des Europäischen Parlaments am Morgen festgenommen. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Das Büro der Staatsanwaltschaft bestätigte uns eine 'Festnahme zur Befragung', das heißt als Verdächtige und in Anwesenheit eines Anwalts, von vier Personen, 'geboren 1955, 1969, 1971 und 1987'. Sie würden innerhalb von 48 Stunden dem Richter vorgeführt, der dann über Haft entschiede.
All diese Verdächtigen sind italienischer Nationalität oder Abstammung. Sie sind in der Öffentlichkeit sehr aktiv in Menschenrechtsorganisationen und NGOs. Herr Panzeri ist auch der Präsident von Fight Impunity, einem gemeinnützigen Verein, der 'den Kampf gegen die Straflosigkeit ernsthafter Menschenrechtsverletzungen' und internationale Gerichtsbarkeit fördert. Nach unseren Informationen wurde das Büro von Fight Impunity in der Brüsseler Innenstadt heute morgen durchsucht."
Die 600.000 Euro in bar wurden nach diesem Bericht in der Wohnung von Pier-Antonio Panzeri gefunden, und nicht in der Tasche des Vaters von Eva Kaili am Flughafen entdeckt. Es ist in der Berichterstattung also nicht einmal klar, wer im Besitz dieses Geldbetrages war. Geschweige denn, wofür er geflossen sein soll.
Wenn man denn Europaabgeordnete kaufen wollte, dann ist der letzte Anlass, der einem dazu in den Sinn käme, die Abstimmung über diese Erklärung, Russland sei ein Staat, der den Terrorismus fördert. Es wäre zumindest ein Anlass, bei dem potenzielle Abweichler davon ausgehen könnten, dass gewissen Kreisen ihre "richtige" Stimmabgabe einiges wert sei. Da wären die Wege aber dann deutlich kürzer, weil es vom NATO-Hauptquartier aus nicht sehr weit ist. Und es wären auch alle Verfahren bekannt, wie man einen solchen Stimmenkauf unauffällig und ordentlich abwickelt.
Aber betrachten wir einmal, was bisher nebenbei so abgefallen ist. Der erste Punkt ist, dass, angeblich weil Katar als "Spender" vermutet wird, die geplanten Visaerleichterungen für Katar auf Eis gelegt wurden. Eigenartigerweise gab es aber in der vergangenen Woche ein ganz anderes Ereignis einer ganz anderen Größenordnung, das eben dieses Ergebnis zur Folge haben könnte, über das man aber in der westlichen Presse nicht gerne redet – den Besuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Saudi-Arabien, der sich dort nicht nur mit dem saudischen Kronprinzen, sondern auch mit dem saudischen König traf und nebenbei noch mit einer ganzen Reihe von Vertretern weiterer Golfstaaten.
Von vielen wird das als Moment gesehen, an dem sich nicht nur Saudi-Arabien, sondern gleich das ganze Bündel der Golfstaaten vom Westen ab- und der südlichen Koalition um BRICS zugewandt hat. Für die europäische Bürokratie gewiss ein Grund, Katar zu strafen, das ohnehin schon etwa durch seinen Umgang mit dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck gezeigt hat, dass es zur Unbotmäßigkeit neigt; vom Trolling nach dem Abschied der deutschen Mannschaft ganz zu schweigen.
Wenn man sich vorstellt, das Ziel der ganzen Operation sei es, den EU-Bevölkerungen einzureden, es gebe da ein echtes Parlament, dann wäre so etwas wie eine runde Million Euro, die man auf mehrere Köpfe verteilt, eine billige Werbekampagne. Immerhin werden gerade alle EU-Bürger mehrere Tage lang mit der Behauptung beschallt, wie wichtig diese Abgeordneten doch seien, und das aufgefundene Schmiergeld scheint das zu bestätigen; auch wenn 600.000 Euro zwar aus der Unten-Perspektive des Normalbürgers nach viel klingen, aus der Oben-Perspektive etwa der EU-Kommission aber eher unter Trinkgeld verbucht werden. Auf jeden Fall erscheint die beabsichtigte Botschaft in allen Medien, an prominenter Stelle; es könnte also auch eine etwas bösartigere Form des Guerilla-Marketings sein.
Aber es sind noch einige weitere Dinge im Rohr. Eine Ahnung davon gibt die deutsche Geschäftsführerin von Transparency International im Interview mit RND:
"Neben vorbeugenden Risiko-Analysen fordert Transparency International vor allem Einrichtungen wie eine unabhängige Ethikkommission. 'Vorhandene Instrumente gegen Korruption, wie ein Lobbyregister, die bislang auf freiwilligen Einträgen basieren und von den Parlamenten geführt werden, müssen von unabhängigen Institutionen überprüft werden.' (...) Es bedarf in den Parlamenten einer 'unabhängigen Kontrollinstanz, wie der Schiedsrichter beim Fußball.'"
Diese Aussage muss man entschlüsseln. Als Erstes muss man wissen, dass Transparency International vor allem von westlichen Regierungen gefördert wird. Dann muss man wissen, dass der Begriff der "Transparenz" zum neoliberalen Baukasten gehört und als Begründung beispielsweise für weitgehende Ausschreibungspflichten bei öffentlichen Aufträgen dient. Was Korruption ausschließen soll, faktisch aber nur verkompliziert, aber massiv dazu beiträgt, großen Firmen Vorteile gegenüber kleinen zu verschaffen. Das ist keine vollständige Darstellung der Folgen, sondern nur ein Beleg, dass der Begriff der Transparenz letztlich auf etwas ganz anderes abzielt. Wenn man vor diesem Hintergrund die Forderung nach einer "unabhängigen Kontrollinstanz" über den Parlamenten liest, kann man erahnen, dass es um die Aushebelung der parlamentarischen Rechte geht.
Übrigens auch interessant, dass EU-Parlamentarier verhaftet werden können, ohne dass zuvor ihre Immunität aufgehoben werden muss. Die parlamentarische Immunität dient vor allem dazu, die Beeinflussung der Parlamentarier durch Ausübung von Druck zu verhindern. Das Fehlen eben dieser Immunität ist ein weiteres Detail, in dem es eben nicht um ein richtiges Parlament geht. Im Zusammenhang mit der ganzen Affäre ist auch das eine Frage, die gestellt werden müsste: Sind die Betroffenen ein Bauernopfer, das darauf abzielt, ganz andere zu disziplinieren? Und falls ja, wozu?
Aber zurück zu Transparency International. Diese vermeintliche NGO (die man eher MGO, multi government organisation, "Organisation vieler Regierungen" nennen sollte) erfüllt vor allem den Zweck, gewisse Regeln für die Korruption innerhalb des Westens festzulegen. Und vor allem mit Hilfe dieser Regeln dafür zu sorgen, dass die schmutzige Konkurrenz draußen bleibt. Es geht nicht darum, Käuflichkeit von Politik zu verhindern, es geht darum, dass die richtigen Käufer zum Zug kommen. Darum ist Katar ein angemessener Sündenbock. Vielleicht sollen einfach die Bestechungsmodi noch einmal nachjustiert werden.
Dann ist da auch noch diese tiefe Abneigung, die die EU-Kommission gegen Bargeld hegt. Es ist schon auffällig, dass hier Euro-Banknoten in größeren Mengen gefunden wurden. Es gibt so viele andere Gestalten, die Geld annehmen kann. Die Schwester von Eva Kaili betreibt ein Kryptowährungsunternehmen. Warum also sollte Kaili auf Banknoten zurückgreifen, warum die übrigen Verdächtigen, sofern es sich tatsächlich um eine Gruppe handelte? Weil der Kurs der Kryptowährungen zuletzt gefallen ist? Kryptos sind immerhin ein Mittel für weitgehend spurlosen Zahlungsverkehr...
Um der Öffentlichkeit gegenüber weitere Schritte gegen Bargeld zu verkaufen, käme eine solche Affäre gerade recht. Man könnte mit dem Finger darauf zeigen und sagen: Seht her, da sieht man doch, dass Bargeld Korruption ermöglicht. Das ist natürlich Unfug; man kann genausogut, wenn nicht besser, mit Aktien oder Immobilien bestechen (wie war das nochmal mit der Villa von Jens Spahn?). Die Abneigung gegen Bargeld hat einen ganz anderen Hintergrund.
Zum einen soll der Pöbel, der für Konten auf den Caymans zu arm ist, schön brav seine Steuern entrichten. Zum anderen wurde für den Fall einer weiteren Bankenkrise europaweit der Mechanismus eingebaut, dass Guthaben auf einer Bank als Anlagen in der Bank gezählt werden und damit kassiert werden können, falls die Bank in Schwierigkeiten gerät. Das wurde erstmalig, auf deutsche Veranlassung übrigens, in Zypern durchexerziert, wurde, abermals auf deutsche Veranlassung, dann bei den G7 als Standard verabschiedet und seitdem in nationale Gesetze umgesetzt. Man muss sich nicht wundern, dass das nur für Geld, nicht aber für Depots gilt. Reiche Menschen haben üblicherweise nur kleine Teile ihres Vermögens in Geldform. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, dass vor allem unten kassiert wird. Das geht allerdings nur, wenn das Geld auch auf dem Konto liegt.
Nun, es wird nicht allzu lange brauchen, bis die Ziele des Spiels sichtbar werden. Und unausgegorene Geschichten vorgesetzt zu bekommen, ist das westliche Publikum inzwischen gewöhnt. Trotzdem – bessere Drehbuchschreiber wären zumindest ein Zeichen eines Restrespekts gegenüber dem Publikum.
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