Von Andrew Korybko
Niemand kann behaupten zu wissen, wie die derzeitige Phase des Ukraine-Konflikts letztlich enden wird, die durch die militärische Sonderoperation eingeläutet wurde und zu der sich Russland gezwungen sah, um seine Integrität und die roten Linien seiner nationalen Sicherheit zu verteidigen, nachdem die NATO diese längst überschritten hatte. Letztendlich haben die bisherigen Ereignisse alle überrascht: Von der Wiedereingliederung von Noworossija in die Russische Föderation bis hin zu den beiden Angriffen mit Drohnen aus der Ukraine, die Anfang dieser Woche tief im russischen Kernland einschlugen.
Es kann jedoch zweifelsfrei vorausgesagt werden, dass der Konflikt mit ziemlicher Sicherheit noch viele Jahre andauern wird, wobei sich diese Prognose auf das offene Eingeständnis der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel stützt, dass der Friedensprozess von Minsk nur eine Finte war, um der Ukraine Zeit zu verschaffen, seine offensiven militärischen Fähigkeiten auszubauen. Ihr Eingeständnis rief jenes des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Erinnerung, der Anfang dieses Jahres genau dasselbe eingestand. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Poroschenko – im Gegensatz zu Merkel – gegenüber Präsident Putin niemals als wohlgesonnen betrachtet wurde.
Merkels Methode der Manipulation von Putins Wahrnehmung
Sowohl Merkel als auch Putin sprechen fließend die Sprache des jeweils anderen und beide verbrachten prägende Lebensjahre in der ehemaligen DDR. Beide standen an der Spitze von historischen Großmächten und ihre jeweiligen Volkswirtschaften ergänzen sich ideal, weshalb man in zahlreichen Bereichen eng zusammenarbeitete. Im Laufe der Zeit begann Präsident Putin seine große strategische Vision eines "Europa von Lissabon bis Wladiwostok" auf Merkel zu projizieren – und Merkel spielte mit, indem sie rhetorisch darauf einging, um Putin damit ihre Unterstützung vorzutäuschen.
Nun stellte sich heraus, dass Merkel den russischen Präsidenten die ganze Zeit über hinters Licht geführt hat, indem sie dem russischen Präsidenten das sagte, was er hören wollte, wobei ihre vorgetäuschte Unterstützung des Minsker Friedensprozesses der Gipfel ihrer manipulativen Vorgehensweise gegenüber Putin war. Sie schätzte völlig richtig ein, dass Putin sehr von dem Wunsch getragen sei, in der Ukraine möge Frieden einkehren, um das vielversprechende geostrategische Potential dieses Landes – als Brücke zwischen seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und ihrer Europäischen Union (EU) – gemäß seiner bereits erwähnten langfristigen Vision freizusetzen.
Trotzdem hatte Merkel nicht die Absicht, dies Wirklichkeit werden zu lassen, obwohl sie diesen für beide Seiten vorteilhaften Weg vordergründig mitzugehen vorgab. Merkels eigene große strategische Vision bestand jedoch darin, Deutschlands jahrhundertealtes Vorhaben zu vollenden und die Kontrolle über ganz Europa zu übernehmen – ohne dass dabei auch nur noch ein Schuss abgegeben werden muss. Zu diesem Zweck musste sie Russland einlullen, indem sie die Wahrnehmung des Präsidenten manipulierte, sodass dieser fälschlicherweise Merkel als Staatschefin eines befreundeten Staates betrachtete und er die EU daher nicht auf eine Weise unter Druck setzte, die Merkels Absicht, den deutschen Einfluss innerhalb dieser Union auszuweiten, hätte behindern können.
Putin analysieren
Merkel jonglierte meisterhaft mit Präsident Putins Wunschdenken, indem sie sich fälschlicherweise als dieselbe pragmatische, von wirtschaftlichen Interessen getriebene Visionärin darstellte wie er, anstatt als jene Nullsummen-Ideologin, die sie in Wirklichkeit die ganze Zeit über war. Somit ließ sich Putin erfolgreich dazu hinreißen, ihr zu vertrauen. Das Endergebnis war, dass der russische Präsident – trotz unzähliger Provokationen gegen die russische Ethnie in der ehemaligen Ostukraine – seine Streitkräfte fast acht Jahre lang geduldig zurückhielt.
Putins Denkansatz war, dass "der Zweck die Mittel heiligt", was sich in diesem Zusammenhang auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung bezieht, in der die Lasten, die von der russischen Bevölkerung des Donbass getragen wurden, sich letztendlich lohnen würden, wenn er mit seiner Geduld genug Zeit gewinnen könne, bis Deutschland die Herrschenden in Kiew erfolgreich davon überzeugen haben werde, die Minsker Vereinbarungen endlich umzusetzen und so schließlich jenes "Europa von Lissabon bis Wladiwostok" aufgebaut werden kann, das allen zugutekäme. Im Nachhinein betrachtet bestand das Problem darin, dass Präsident Putin leider der einzige Staatschef war, der das auch wirklich so wollte.
Er wurde fast acht Jahre lang durch die erfolgreiche Manipulation seiner Wahrnehmungen durch Merkel – mit der er sich eng verbunden fühlte aufgrund der vielen gemeinsamen Jahre im Amt und ihrer ähnlichen Sozialisation. Und Merkel ließ Putin fälschlicherweise in dem Glauben, dass sie seine große strategische Vision teile. Als echter Staatsmann ging er davon aus, dass seine Amtskollegen – insbesondere diejenigen, die wie Merkel eine Großmacht vertraten – das gleiche professionelle Kaliber wie er selber hätten, weshalb Putin davon ausging, sie wären alle verlässliche rationale Akteure.
Die Realität war jedoch eine ganz andere, da sich Präsident Putin als der letzte echte Staatsmann herausstellte, was bedeutet, dass er der auch einzige war, der auf einer rationalen Basis agierte, während alle anderen ideologisch getriebene Ziele verfolgten. Putin erkannte nicht sofort, sondern erst Jahre später seine falsche Wahrnehmung, alle seine westlichen Gesprächspartner wären mehr oder weniger pragmatische, von wirtschaftlichen Interessen getriebene Visionäre, und zwar im Wesentlichen wegen des Erfolgs von Merkels Operation des Wahrnehmungsmanagements gegen ihn.
Merkels ausgedehnte Scharade, bei der sie vorgab, Putins große strategische Vision zu teilen, war überzeugend genug für den russischen Präsidenten, seine Wachsamkeit einzuschläfern, Merkels Worte ernsthaft zu glauben und davon auszugehen, dass sie dafür sorgen würde, dass die Ukraine die Minsker Abkommen vollständig umzusetzen wird. Hätte er sie der Unehrlichkeit verdächtigt, dann hätte er seine Herangehensweise sicherlich viel früher aufgegeben. Aber Putin fiel komplett auf Merkels Finte herein, da sie seiner Vorstellung von einer rationalen Führerin einer Großmacht entsprach.
Dies erklärt, warum Putin so lange gewartet hat, bevor er die militärische Sonderoperation anordnete. Er vertraute aufrichtig darauf, dass Merkel seine großartige strategische Vision eines "Europa von Lissabon bis Wladiwostok" teile, für deren Verwirklichung ein dauerhafter Frieden in der Ukraine erforderlich war. Stattdessen versuchte Merkel rücksichtslos, ihre Vision der Übernahme der Kontrolle über Europa zu vollenden. Ihr Nachfolger Olaf Scholz hat in seinem Manifest, das er diese Woche im Magazin Foreign Affairs veröffentlichte, praktisch zugegeben, dass auch er dies anstrebt.
Es ist kein Zufall, dass Merkel fast zeitgleich ihre damaligen wahren Absichten bezüglich des Minsker Friedensprozesses öffentlich machte. Es gibt keinen Grund mehr, sich weiter hinter dem Ofen zu verstecken. Scholz hatte es ausgeplaudert, indem er in seinem Manifest mit Deutschlands hegemonialer Agenda prahlte, die er offen als von dem Wunsch getrieben beschreibt, auf Bedrohungen zu reagieren, von denen er behauptet, dass sie "am unmittelbarsten" aus Russland kommen würden. Da Merkel nichts mehr zu verlieren hat, ließ auch sie die Maske fallen und zeigte Präsident Putin ihr wahres Gesicht.
Es besteht kein Zweifel, dass Putin irgendwann vor Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands erkannte, dass Merkel ihn jahrelang hinters Licht geführt hatte, weshalb er diese schicksalhafte Entscheidung Ende Februar traf. Aber jetzt ist Merkels Scharade auch für alle Welt ans Licht gekommen. Merkel war die einzige westliche Politikerin, der Präsident Putin aufrichtiges Vertrauen entgegenbrachte, was einer der Gründe ist, warum er den Befehl zu einer militärischen Sonderoperation fast acht Jahre lang zurückhielt. Putin hatte letztendlich die falsche Hoffnung, dass Merkel im dabei helfen würde, den Frieden in der Ukraine zu sichern.
Die psychologische Komponente von Merkels Verrat
Merkel gab – indem sie damit prahlte, dass "Putin damals die Ukraine leicht hätte überrennen können", wenn sie nicht beim Minsker Friedensprozess mitgespielt und ihn somit dazu gebracht hätte, diesen Einmarsch fast ein ganzes Jahrzehnt hinauszuzögern – derartig dreist zu, Putins Vertrauen missbraucht zu haben, dass nie ein russischer Führer jemals wieder jemandem aus dem Westen vertrauen wird. Diese psychologische Einsicht fügt einen entscheidenden Kontext dem hinzu, was Putin zufällig am selben Tag, als Merkels Interview veröffentlicht wurde, nebenher erklärte, dass nämlich der Konflikt in der Ukraine "ein langwieriger Prozess werden könnte".
Ganz klar, Putin ist sich jetzt der Tatsache bewusst geworden, dass dies wirklich ein langwieriger Kampf um die Zukunft des globalen Systemübergangs ist, obwohl selbst in einem Szenario einer militärischen Pattsituation in der Ukraine Russland strategisch noch gewinnen kann. Denn dieses Ergebnis würde dazu führen, dass sich die von Indien vorangetriebenen multipolaren Prozesse weiter ausbreiten und sich damit der Lauf der internationalen Beziehungen unumkehrbar verändern wird. An diesem Punkt des Neuen Kalten Krieges kämpft Russland in einem Konflikt zur eigenen Verteidigung, aber diesmal arbeitet die Zeit tatsächlich auf Russlands Seite.
Präsident Putin weiß jetzt, dass jede Kampfpause beiden Seiten nur eine Gelegenheit bietet, sich neu zu formieren, aufzurüsten und offensive Operationen wieder aufzunehmen. Dies bedeutet, dass das strategische Spielfeld jetzt eingeebnet ist, da Putin jetzt nach der gleichen Denkweise agieren kann, wie es seine Gegner schon seit vielen Jahren getan haben. Dies stärkt seine Entschlossenheit, weiterhin alles zu tun, um multipolare Prozesse zu beschleunigen, was in erster Linie das Halten der Front erfordert.
Putins neue große strategische Vision
Um dieses unmittelbarste Ziel zu verfolgen, würde Russland die Teilnahme an dem zuvor sabotierten Friedensprozess tatsächlich wieder aufnehmen, solange bestimmte Bedingungen zumindest oberflächlich erfüllt sind. Aber niemand sollte diese potenzielle Entwicklung, anders als in der Vergangenheit, als Signal einer strategischen Schwäche Russlands interpretieren. Der Unterschied zwischen damals und heute besteht darin, dass Präsident Putin viele schmerzhafte Lektionen lernen musste, sodass seine Gesten des guten Willens nicht mehr ausgenutzt werden können.
Während der Minsker Friedensprozess im Nachhinein nichts anderes war, als ein Mittel, um Präsident Putins Wahrnehmungen zu manipulieren, ihn damit zur Zurückhaltung zu bewegen und Kiew Zeit zu verschaffen, sich auf eine Offensive im Donbass vorzubereiten, wird jeder diesem Minsker Abkommen nachfolgende Prozess für den russischen Präsidenten nichts anderes als ein Mittel sein, um Zeit zu gewinnen, damit sich multipolare Prozesse auf Kosten der "goldenen Milliarden" des US-geführten kollektiven Westens und ihrer unipolaren hegemonialen Interessen weiter ausbreiten.
Das große strategische Ziel von Präsident Putin ist nicht länger ein "Europa von Lissabon bis Wladiwostok", sondern die Reform der internationalen Beziehungen in voller Partnerschaft mit den Ländern des gemeinsam von den BRICS-Staaten und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) geführten Globalen Südens, zu dem auch Russland gehört, um die neue Weltordnung zu sichern, die demokratischer, ausgeglichener und gerechter sein wird. Dies stimmt mit der Vision überein, die Putin in seinem Globalen Revolutionären Manifest dargelegt hat, auf das er in der Vergangenheit gebaut hatte und das heute als inoffizielle Ideologie seiner Großmacht bezeichnet werden kann.
Zusammenfassende Gedanken
Kritiker mögen behaupten, Präsident Putins Entscheidung zum Einmarsch in die Ukraine wäre acht Jahre zu spät erfolgt. Aber spät ist immer noch besser als nie. Merkel hat Putins Entschlusskraft jahrelang manipuliert, bevor sie jetzt endlich zu ihrem Verrat steht, was dem russischen Präsidenten die schmerzhafte Lektion erteilte, dass er keinem seiner westlichen Kollegen jemals wieder vertrauen darf. Stattdessen umarmt er jetzt begeistert seine Amtskollegen aus den Großmächten des globalen Südens, insbesondere den indischen Premierminister Modi, der seine großartige strategische Vision einer multipolaren Zukunft teilt.
Der globale Systemübergang schreitet derzeit auf diesem Weg voran, aber er braucht noch Zeit, um unumkehrbar zu werden, was wiederum erfordert, dass Russland die Frontlinien in der Ukraine hält. Ob durch militärische, politische oder eine Kombination beider Vorgehensweisen – von Präsident Putin wird erwartet, dass er alles in seiner Macht stehende tut, um Zeit zu gewinnen, damit sich die auch von Indien angetriebenen multipolaren Prozesse weiter ausbreiten können, was bedeutet, dass der Konflikt in der Ukraine weiterhin bestehen bleibt und langwierig sein wird.
Aus dem Englischen.
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien spezialisiert hat sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischem Balanceakt und hybrider Kriegsführung.
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