Von Dagmar Henn
Reden wir einmal über Sorgfalt. Oder die Zurückhaltung, die eigentlich angemessen wäre, wenn eine Eskalation zwischen Russland und der NATO im Raum steht. Oder über die Fragen, die eigentlich im Raum stehen müssten.
Zwischen der ersten Meldung polnischer Medien über die Explosion nahe der ukrainischen Grenze und der Pressekonferenz des Pentagon lagen gerade eineinhalb Stunden. Die Aussage des Pentagon, es gebe keine Belege dafür, dass die Explosion durch russische Raketen ausgelöst worden sei, erfolgte bereits vor 20:30 Uhr Berliner Zeit.
Davor hatte sich zwar die polnische Presse in Spekulationen über russische Raketen ergangen, aber selbst die polnische Regierung, der man gewiss keine übertriebene Zurückhaltung bei der Beschuldigung Russlands vorwerfen kann, bat explizit darum, keine unbestätigten Informationen zu verbreiten.
Etwa gleichzeitig mit der Pressekonferenz in Washington konnte man in russischen Telegram-Kanälen bereits Aufnahmen von Fragmenten eines bestimmten Raketentyps der S-300 sehen, die mit den Bildern aus Polen übereinstimmten. Wie gesagt, das waren die Informationen, die zu diesem Zeitpunkt bereits vorlagen. Und schon die erste Meldung, die die Behauptung enthielt, es seien russische Raketen gewesen, die des polnischen Radiosenders ZET, gab auch die Bitte des polnischen Regierungssprechers wieder und machte noch kenntlich, dass es sich um Vermutungen handele.
Dieser Zeitablauf ist deshalb wichtig, weil ungeachtet dessen sogleich Beschuldigungen gegen Russland lanciert wurden. Von Marie-Agnes Strack-Zimmermann beispielsweise, die um 22:12 Uhr (also fast zwei Stunden nach der Pressekonferenz des Pentagon) twitterte:
Eine solche Erklärung seitens des russischen Verteidigungsministeriums gab es übrigens bereits um 21:20 Uhr deutscher Zeit:
"Polnische Massenmedien und Regierungsvertreter begehen eine gezielte Provokation, um mit ihrer Aussage zum vermeintlichen Einschlag 'russischer' Raketen bei Przewodów die Lage zu eskalieren. Es gab keine russischen Schläge gegen das Gebiet an der ukrainisch-russischen Grenze. Die Überreste, die von den polnischen Massenmedien aus Przewodów veröffentlicht wurden, haben keinen Bezug zu russischen Waffen."
Tatsächlich hat die russische Armee zwar noch S-300-Systeme in Betrieb, dieses spezifische Raketenmodell, das als 5V55K identifiziert wurde, aber schon längst außer Dienst gestellt. Die 5V55K ist die erste Rakete, die für die S-300 entwickelt wurde.
Strack-Zimmermann hat ihren gestrigen Tweet inzwischen gelöscht, brauchte dafür aber bis heute um 10:26 Uhr. Währenddessen erschienen eine Reihe von Zeitungen mit Überschriften von "russischen Raketen", und selbst Die Zeit erging sich in Spekulationen, ob das nun ein Fall für Artikel 5 des NATO-Statuts wäre (auch wenn zumindest darauf hingewiesen wurde, dass das kein Automatismus sei).
Nachdem sowohl US-Präsident Joe Biden als auch der polnische Präsident Andrzej Duda im Verlauf der Nacht erklärt hatten, es habe sich um eine Rakete aus einer S-300 gehandelt und die maximale Reichweite selbst der neueren Raketen für die S-300 120 Kilometer beträgt, die Einschlagstelle aber von Weißrussland weiter entfernt liegt, von Russland ganz zu schweigen, wurden dann, erkennbar widerwillig, die Schlagzeilen angepasst.
Nun ist es einer der wichtigsten Grundsätze der Berichterstattung, Informationen, die erst aus einer Quelle vorliegen, mit Vorsicht zu behandeln. Erst recht, wenn daran womöglich Entscheidungen hängen, die massive Folgen haben könnten. Massivere Folgen als ein offener Krieg zwischen der NATO und Russland hätte wohl nur noch ein Asteroid auf Kollisionskurs mit der Erde; ein wenig Nachdenken und Recherche sollte da wohl drin sein.
Der Reflex ist stärker. Selbst die sichtlichen Bemühungen des Pentagon, bei der ganzen Affäre zur Vorsicht zu mahnen (auch dort dürfte die Identifikation des Raketentyps nicht allzu viel Zeit in Anspruch genommen haben), wurden nicht wirklich zur Kenntnis genommen; die Beschuldigung Russlands erfolgt schon geradezu als Reflex.
Wirklich interessant an der ganzen Geschichte ist allerdings eine andere Frage, und man kann davon ausgehen, dass vielen der westlichen Verantwortlichen die Antwort darauf bekannt ist – warum ist diese Rakete dort eingeschlagen?
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat zwar erklärt, auch wenn es eine ukrainische Rakete gewesen sei, sei letztlich Russland dafür verantwortlich. Immerhin habe es ukrainische Städte "unterschiedslos" (keine Stellungnahme ohne Lüge, weil die russischen Raketenschläge sehr präzise auf auch militärisch genutzte Infrastruktur zielen) mit Raketen beschossen. Diese Aussage geht von der Annahme aus, die ukrainische Rakete sei abgeschossen worden, um eine russische Rakete abzuwehren, und nur in Polen eingeschlagen, weil sie ihr Ziel verfehlt habe.
Es gibt einige Punkte, die daran zweifeln lassen. Der erste: Die S-300 ist ein Luftabwehrgeschütz, das zur Abwehr von Flugzeugen, nicht zur Abwehr von Raketen entwickelt wurde. Die Abwehr feindlicher Flugzeuge ist eine defensive Handlung und erfolgt meist über eigenem Gebiet oder eigenen Truppen. Deshalb werden Luftabwehrraketen in der Regel so konstruiert, dass sie nicht am Boden explodieren, sondern in der Luft.
Die 5V55K, die ab 1978 verwendet wurde, trifft Ziele auf einer Höhe von 25 Metern bis 27 Kilometern. Sie müsste, wenn sie ihr Ziel verfehlt, spätestens auf einer Höhe von 25 Metern explodieren. Die Bilder aus Polen passen aber nicht zu einer Explosion in der Luft; dann wäre ein beladener Anhänger nicht zur Seite gekippt.
Es soll Möglichkeiten geben, die Raketen so zu manipulieren, dass sie gegen Bodenziele eingesetzt werden können, und es gab wohl Berichte, dass die ukrainische Armee bereits S-300 in dieser Weise gegen die Bevölkerung des Donbass eingesetzt hat; aber ohne Manipulation ist ein solches Ergebnis unwahrscheinlich.
Nun kann man natürlich bei Raketen, die bereits Jahrzehnte auf dem Buckel haben und womöglich nicht optimal gelagert wurden, eine Fehlfunktion nicht ausschließen. Für Raketen, die in der Abschussröhre gelagert sind, beträgt die Garantiezeit gerade einmal zehn Jahre. Aber es gibt noch ein weiteres Detail, das in diesem Zusammenhang interessant ist. Das ist die Steuerung der 5V55K.
Im Gegensatz zu späteren Raketentypen für die S-300 hat die 5V55K keine eigenständige Steuerung. Es handelt sich um eine kommandogelenkte Rakete, die ihre Zielvorgaben über Funk, nicht über Radar erhält und bis zur Detonation im Funkkontakt mit der Steuerungseinheit bleibt, weshalb sie auch ferngezündet werden kann.
Das bedeutet, nur in dem nun wirklich ziemlich unwahrscheinlichen Fall, dass die Zündung in der Luft und der Funkkontakt zur Steuerungseinheit gleichzeitig versagt hätten, wäre der Einschlag dieser ukrainischen Rakete auf polnischem Boden ein Zufall gewesen. Selbst wenn, aus irgendeinem Versehen, eine für Bodenziele manipulierte Rakete abgeschossen worden wäre, wäre es dem Personal in der Steuerungseinheit möglich gewesen, die Rakete in der Luft zur Explosion zu bringen, ehe sie am Boden Schaden anrichten kann.
Bei Luftabwehrraketen, die in Städten einschlagen, nachdem sie ihr eigentliches Ziel verfehlt haben, mag das anders sein, schlicht, weil zwischen dem Moment des Verfehlens und dem Aufschlag zu wenig Zeit vergeht, um eine Reaktion zu ermöglichen. Denn selbst wenn in der Steuerungseinheit erkannt wird, dass da etwas schiefgegangen ist, würde eine schnelle Reaktion ein, zwei Sekunden in Anspruch nehmen. Die maximale Geschwindigkeit dieser Rakete liegt aber bei zwei Kilometern pro Sekunde.
Die Rakete, die in Polen aufschlug, hatte jedoch, sofern sie tatsächlich gegen ein Luftziel abgefeuert wurde, dieses Ziel in einer Entfernung von etwa 50 Kilometern von ihrem Einschlagsort verfehlt. Das ergibt eine Reaktionszeit von mindestens 25 Sekunden, in denen erkennbar war, dass sie in eine unerwünschte Richtung fliegt und die Möglichkeit bestanden hätte, sie zu zünden, ohne Schaden anzurichten.
Nachdem ein doppeltes technisches Versagen unwahrscheinlich ist, bleibt selbstverständlich noch die Möglichkeit, dass das Bedienpersonal der S-300 so wenig Ahnung vom bedienten Gerät hat, dass weder die Flugrichtung erkannt noch die nötige Schlussfolgerung gezogen wurde. Das ist natürlich nicht völlig auszuschließen. Aber man kann ebenso wenig ausschließen, dass hier eine auf Bodenziele eingerichtete 5R55K von einer ukrainischen Einheit absichtlich gegen ein Ziel auf polnischem Grund abgefeuert wurde, um auf diese Weise eine direkte Beteiligung der NATO am Krieg zu erzwingen.
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass selbst US-Präsident Joe Biden zu diesem Vorfall Stellung nahm. Denn üblich wäre nur eine Stellungnahme des Pentagon. Die erstaunlich schnell erfolgte, weshalb man fast vermuten könnte, dass die Ukraine sich, sofern es um eine absichtliche Handlung geht, nicht abgesprochen hatte. Und die seit Monaten auf Frontstellung gegen Russland ausgerichtete Westpresse reagierte mit derart viel Schaum vor dem Mund, dass es selbst der US-Regierung unheimlich wurde und sie die Medien mit Einsatz des maximalen Mittels, eben einer Aussage des US-Präsidenten selbst, wieder an die Leine legen wollte.
Das wäre nicht der erste ukrainische Versuch, die NATO unmittelbar an dem Krieg zu beteiligen, den Kiew vor über acht Jahren begonnen hat. Der Beschuss des Kernkraftwerks in Energodar hatte ein ähnliches Ziel. Würden die westlichen Medien zu diesem Raketeneinschlag in Polen die richtigen Fragen stellen, müsste irgendwann eine Debatte beginnen, ob man sich solche Partner leisten kann. Aber sie werden es nicht tun.
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