Von Elem Raznochintsky
Bevor wir uns der Erdöl-Pipeline TurkStream widmen, sei gesagt, dass die multidisziplinäre Abschottung der EU von russischen Energieträgern fast täglich neue Entwicklungen eintrudeln lässt. In den meisten Fällen ist Deutschland selbst erster und wichtigster wirtschaftlicher Hauptleidtragender.
Denn nach dem vermeintlichen "Leck" der Druschba-Erdöl-Pipeline gerät die deutsche Wirtschaft in weitere Bedrängnis. Es gibt damit derzeit eine weitere, historische Energie-Hauptschlagader weniger, die die Bundesrepublik und eine Handvoll anderer Länder über ein halbes Jahrhundert verlässlich mit kostengünstigem Erdöl aus Russland versorgte. Dass dieses unglückliche "Leck" nicht im weißrussischen Bereich der Pipeline entstand, sondern in Polen, sollte Stirnrunzeln verursachen. Hierbei handelt es sich um dasselbe Land, das sich das Ziel gesetzt hat, der größte Produzent und Exporteur roher "Russophobie" auf der Welt zu werden und nebenbei seinem westlichen Nachbarn – Deutschland – eine Reparationszahlung aufbrummen möchte, die einige Jahrzehnte verspätet kommt. Außerdem wirft man in Warschau – mit den Worten des Ministerpräsidenten Morawiecki – der ohnehin schon verwirrten und verzweifelten Bundesrepublik Deutschland "Egoismus" in der EU-Energie-Debatte vor.
Diese beiden Aspekte sowie die bedingungslose Liebe Warschaus zu Washington, D.C. weisen auf eine entweder von den Polen willentlich auf ihrem Territorium geduldete oder von ihnen vorsätzlich verursachte Sabotage der Erdöl-Pipeline hin. Neugierige oder Verdacht schöpfende Gemüter in der Berliner Führung hingegen lassen bisher auf sich warten, was uns zu einem anderen, energiepolitisch wichtigen Projekt zurückbringt: zur TurkStream-Erdgas-Pipeline.
Diese wurde in einer der jüngsten Ansprachen Wladimir Putins in Verbindung mit bereits vereitelten Attentaten genannt, die die ukrainischen Geheimdienste an ihr verrichten wollten. Das ist natürlich keine permanente Garantie dafür, dass mögliche Versuche in der Zukunft nicht glücken werden.
Das Treffen zwischen Putin und Erdoğan am 13. Oktober in Astana birgt außerdem eine große Wendung beim Setzen von Prioritäten. TurkStream soll das verloren gegangene Volumen von Nord Stream 1 und das potenzielle Volumen von Nord Stream 2, das nie genutzt wurde, im Laufe der Zeit decken und kompensieren.
Seit Anfang 2020 wird Erdgas über TurkStream geliefert. Erst aus Russland in die Türkei, wonach es dann über Bulgarien Serbien erreicht und schließlich den übrigen Markt in der EU. Die jährliche Lieferkapazität des "südlichen Zwillings von Nord Stream" beträgt 31,5 bis 33 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Warum Zwilling? Beide Projekte entstanden aus dem Wunsch, die Ukraine – als bisheriges Transitland – aus ihrer exklusiven Rolle zu entlassen. Ein langjähriger Vorgang, der Kiew stets missfiel, auch unter gemäßigteren Regierungen.
Kürzlich hat der Gazprom-Chef Alexei Miller sogar erklärt, dass es für Russland viel lohnender sei, eine Erweiterung der Kapazitäten an der TurkStream-Pipeline zu fördern, als die Rohre von Nord Stream zu reparieren.
Wenn man sich den Verlauf von TurkStream anschaut, sieht man, wie sich das 930km lange Rohrleitungssystem quer über das ganze Schwarze Meer erstreckt. Eine Pipeline soll die Türkei beliefern, die zweite Pipeline hingegen führt weiter, zum Beispiel nach Serbien und Ungarn. Eine andauernde Überwachung jedes Meters dieser Infrastruktur ist schier unmöglich – besonders wenn staatliche Akteure mit besonderen technischen Ressourcen die Absicht haben, eine Beschädigung der Struktur zu verursachen. Es gelten ähnliche Anforderungen, aber der Schwierigkeitsgrad wäre etwas höher als bei der nahezu vollständig "geglückten" Operation am 26. September gegen Nord Stream 1 und 2. Zum einen führt die Pipeline im Schwarzen Meer ausschließlich durch türkische und russische Gewässer, was anderen "Partnern" mögliche Sabotageakte und spätere Deckung erschwert. Zum anderen ist die Tiefe, in der die Rohre verlegt wurden – mit über 2000 Metern – ein Vielfaches dessen, was für Nord Stream in der Ostsee ausreichte.
TurkStream gesprengt – wie würde Erdoğan reagieren?
Wie viele Leute fragen sich das gerade? Dass Berlin stillschweigend zuschauen würde, wie Nord Stream langfristig außer Gefecht gesetzt wird, war wohl jedem klar. Auch den Kollegen in den USA. Aber Ankara ist dahingehend ein ganz anderer Ansprechpartner. TurkStream erhob die Türkei auf eine neue geostrategische Ebene – nicht bloß als neues "Transitland" mit den dazugehörigen Vergütungen, sondern als Preisbildungsdrehscheibe für die Balkanregion. Etwa so, wie es Deutschland einst für Mitteleuropa gewesen ist.
Würde "ein unbekannter Spieler" diese Position den Türken streitig oder zunichte machen, könnte Erdoğan einige Druckmittel anwenden, die jenseits politischer Korrektheit wären: Stimulierung größerer Migrationsströme aus der Türkei über die Balkan-Route und hinein in die Eurozone, wäre eine Taktik. Reform-Prozesse innerhalb der NATO in Gang zu setzen, wäre ein anderer Ansatz. Präsident Erdoğan könnte seine Position zu den skandinavischen NATO-Beitrittsgesuchen verschärfen oder gar den eigenen Austritt aus dem Bündnis ankündigen. Das wären alles Signale, die der Wertewesten ernst nehmen müsste. Erdoğan könnte auch seine bisherige Vermittlerposition zwischen Kiew und Moskau im Ukrainekrieg überdenken. Eines ist sicher – das Ausschließen der Türkei aus einem internationalen Ermittlungsteam zur Feststellung einer hypothetischen Sabotage von TurkStream wäre nicht durchsetzbar. Zumindest nicht ohne drastische Antwort der Türken.
Bereits jetzt ist die Türkei der Bundesrepublik in Sachen Eigenständigkeit und Selbstbestimmung um Längen voraus. Die türkische Führung setzt weniger auf oberflächliche Sozial-Ideologie, sondern viel mehr auf langfristige Eigeninteressen und Realpolitik. In Berlin betreibt man derzeit das exakte Gegenteil. Weltanschaulich und programmatisch ist Erdoğan auch nicht den vermeintlich universellen "westlichen Werten" gegenüber so verpflichtet, wie es in Berlin seit langer Zeit praktiziert wird.
Den US-Amerikanern ist klar, dass Ankara nicht so fügsam ist wie Berlin, weshalb sie zusätzlich auch noch Griechenland aufrüsten, anstacheln und ermutigen, den türkischen Nachbar zu konfrontieren. NATO-Mitglied gegen NATO-Mitglied: Welch eine Ironie. Wie würde da der Artikel 5 des Nordatlantikvertrages eigentlich greifen?
Athen rüstet also direkt vor Ankaras Augen seine Inseln im Ägäischen Meer auf und zeigt große Ähnlichkeit mit der Rolle Warschaus im Herzen Europas. Nämlich als US-gelenkter Provokateur, der sein langersehntes, grünes Licht aus Washington, D.C. erhielt, die bilateralen Nachbarschaftsbeziehungen zu Berlin zu vergiften.
Den Deutschen scheint es vorerst vollkommen egal zu sein, wer Nord Stream 1 und 2 angegriffen hat. Nicht ohne Grund verweigern die schwedischen Behörden ausgerechnet Russland die Übergabe der Ermittlungsergebnisse in Sachen Täterschaft, nicht aber Deutschland. Die Türken werden sich aber bei Weitem nicht so tief und gehörig bücken, wie es Berlin derzeit tut. Dort weht ein etwas anderer, kultureller Wind. Wenn wichtiges Eigentum vorsätzlich beschädigt wird, wenn öffentlich Erniedrigungen geltend gemacht werden, so würden sicherlich Vergeltungsmaßnahmen gegen die Urheber all dessen folgen.
Die einzigen Vergeltungsmaßnahmen für die fast ganzheitliche, gewalttätige Deaktivierung von Nord Stream bestehen in Deutschland darin, dass man hierzulande eben bald gar nicht mehr die Dusche aufdreht. Im Falle eines Angriffs auf die südliche Erdgas-Pipeline würde sich die Schlüsselrolle der Türkei, russisches Erdgas in den Süden und Südwesten Europas weiterzuverkaufen, in Luft auflösen.
Torpedieren geht auch anders
Selbst wenn in absehbarer Zeit keine Sabotageakte am TurkStream-Projekt glücken sollten, ist man sich in der EU unter Ursula von der Leyen nicht zu schade, auch den juristischen Weg zur Unterbindung der türkisch-russischen Erdgas-Pipeline zu forcieren. Wie letztens die US-amerikanische Propagandaplattform Radio Liberty berichtete, sei die niederländische Gazprom-Tochter, die TurkStream betreibt – South Stream Transport B.V. – von niederländischen Regierungsorganen unter Druck gesetzt worden. Noch im September wurde eine Lizenzkündigung der besonderen Art vollzogen. Das heißt in diesem Falle, wenn von nun an Schaden an der Pipeline entstehen sollte, würde den Betreiber der Zugriff zur betroffenen Infrastruktur verweigert werden. Keine Reparatur, keine Wartung, keine Diagnose. Bisher liefen die Erdgas-Lieferungen ohne gemeldete Beschränkungen. Aber internen Dokumenten zufolge lautete der Plan, dass TurkStream schon im September ganz eingestellt werden sollte. Des Weiteren wurden alle Firmen, die irgendwie mit der Funktionalität der Pipeline zu tun haben, mit schwersten Sanktionen überschüttet.
Es wurde bereits erwähnt, dass man nicht die ganze Struktur überwachen kann, um die Anlagen vor möglicher Sabotage zu schützen. Es stellt sich aber nun sogar heraus, dass die Pipeline in der Vergangenheit von Unterwasser-Fahrzeugen regelmäßig gescannt und auf Abnormität hin überprüft wurde, weil die seismische Aktivität im großen Wassertiefen des Schwarzen Meeres die Funktion der Pipeline beeinträchtigen könnte. Den Firmen, die diese hochbedeutsame Dienstleistung bisher vollzogen haben, wird aufgrund der Sanktionen der Zugang seit September verwehrt.
Turkish Stream ist nicht etwa ein Wohltätigkeitsprojekt Ankaras. Es stellt für die Türkei einen wirtschaftspolitischen Pfad dar, sehr bald nicht nur das "Deutschland des Südens" zu werden. Nämlich nicht nur in puncto einer wachsenden, potenziell enormen Drehscheibe für die Verbreitung und den Vertrieb von russischem Gas ins südliche und südwestliche Europa, sondern auch mit der Chance für die Türkei, Deutschlands Rolle als ehemaliger Erdgas-Vertreiber in Mitteleuropa, welche man in Berlin nach der Merkel-Ära ganz freiwillig und krachend aufgegeben hat, direkt zu übernehmen.
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