Von Augusto Zamora Rodríguez
Die vier Regionen Lugansk, Donezk, Cherson und Saporoschje sind jetzt Teil des russischen Staatsgebiets. Es spielt keine Rolle, dass die NATO und ihre Getreuen die Aufnahme diskreditieren und den Anschlussprozess ignorieren. Schließlich führte die NATO 1999 einen brutalen Angriffskrieg gegen das wehrlose Serbien und Montenegro, setzte mit brachialer Gewalt die Abtrennung des Kosovo von Serbien durch und rief das Kosovo zur unabhängigen Republik aus.
Dieses Ereignis schuf einen derart gefährlichen Präzedenzfall ‒ es gibt keine massivere Verletzung des Internationalen Rechts, als einem Staat mit Gewalt souveräne Territorien zu entreißen ‒, dass viele Länder, darunter Spanien, sich weigerten, seine Rechtmäßigkeit anzuerkennen. Das spielte keine Rolle. Die NATO hat unter Einsatz ihrer politischen und militärischen Macht die Unabhängigkeit des Kosovo erzwungen und so ist es bis heute.
Für Serbien bleibt es seine Provinz, für die NATO ist es ein souveräner Staat, dessen Grenzen von NATO-Soldaten bewacht werden. Sicher, vom Internationalen Recht aus gesehen handelt es sich zwar um illegale Handlungen, aber wann war dieses Recht jemals wichtig?
Der Internationale Gerichtshof verurteilte die USA im Jahr 1986 wegen der Aggression gegen Nicaragua und die USA sagten nur "ätsch". Sie ignorierten das Urteil, zogen sich vom Gerichtshof zurück und der Krieg ging weiter. Die NATO ist zweimal in den Irak einmarschiert, hat Afghanistan besetzt, Libyen zerstört und wollte mit Syrien weitermachen, aber dort tauchte Russland auf und die NATO musste ihre Kriegswelle stoppen. Wenn die USA und ihre Alliierten von der Achtung des Internationalen Rechts sprechen, ist das so, als würde Hannibal Lecter das Recht auf Leben verteidigen, während er unsere Leber mit Wein des Jahrgangs 1857 genießt.
Kein Sachverhalt ist wie der andere und es wäre unklug und töricht, Vergleiche zwischen dem Kosovo und den formell von Russland besetzten ukrainischen Gebieten anzustellen, da beiden nur äußere Elemente gemeinsam sind. Der Kosovo war historisch gesehen ein Teil Serbiens, und Serbien als solches wurde im Kosovo geboren. Die Ukraine war ein politisches Werk der Sowjetmacht, die einen Staat schuf, wo nie einer existiert hat. Dafür übertrug sie historisch russische Gebiete (Krim und Neurussland) und vergrößerte die Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg um weitere, Polen, Ungarn und Rumänien abgenommene Gebiete [Anm.: Neurussland erstreckte sich vom heutigen Moldawien im Westen bis Lugansk im Osten].
Doch all dies geschah im Rahmen einer Idee, an die man sich erinnern muss, um diese Verschiebung von Gebieten zu verstehen: nämlich in der tiefen Überzeugung, die Sowjetunion sei unsterblich. Aus dieser Perspektive waren territoriale Veränderungen nicht so wichtig, wenn es letztlich alles sowjetisches Territorium war. Aber das war dann nicht so, wie wir wissen.
Die UdSSR wurde zerstört, und ihre Zerstörung brachte zahlreiche Tragödien für Millionen von Menschen mit sich, die vorher Landsleute waren und nun in verschiedenen Ländern lebten ‒ einige mit wiederauflebendem ethnischen Hass. Millionen von Menschen, mehrheitlich Russen, waren plötzlich zu Ausländern, zu Fremden gemacht worden. Die Krim war zu etwa 90 Prozent von Russen bewohnt; in Neurussland waren sie die große Mehrheit.
Der Staatsstreich von 2014 hat die Situation verschlimmert, denn es handelte sich vor allem um einen antirussischen Putsch, gerichtet gegen Russland und gegen die Russen, von der Sprache bis zur Kultur. Der Krieg brach aus und wurde zu einem bösartigen Krebsgeschwür.
Im gesamten sowjetischen Mosaik war die Ukraine der speziellste Teil. Historisch mit Russland verbunden, teilt sich die Ukraine mit Russland dieselben Ursprünge, und war so lange Teil Russlands, wie Russland in seinen verschiedenen historischen Prozessen Russland gewesen ist. Deshalb war, ist und wird die Ukraine für Russland nie wie irgendein anderes Land sein. Die Ukraine ist Russland und bildet zusammen mit Weißrussland das slawische und orthodoxe Russland, das die NATO zerstören will. Daher die Absicht, die Entschlossenheit, die Entscheidung, die NATO aus den slawischen Ländern zu vertreiben. Die westlichen Eindringlinge sollen aus einem Gebiet vertrieben werden, das seit tausend Jahren russisch und slawisch ist.
Das muss man verstehen – ob man es mag, nicht mag oder es einen kalt lässt – um die Psychologie zu verstehen, die den Krieg in der Ukraine durchdringt. Dies wird zum Verständnis der Allianz auf Leben und Tod zwischen Russen und Weißrussen beitragen und dass dieser Krieg lange, sehr lange dauern wird, auch wenn die Waffen schweigen. Denn er wird nicht aufhören, bis die Invasoren aus dem slawischen Land vertrieben sind. Es können Vereinbarungen getroffen werden, aber sie werden nur tragfähig sein, wenn der Westen auf dieses Russland verzichtet. Nicht, dass eine Mauer errichtet werden soll, nein, sondern einfach, dass die NATO die Ukraine verlässt. Dass sie abzieht.
Die Psychologie wird es ermöglichen zu verstehen, warum Russland den Krieg so geführt hat, wie es ihn geführt hat, nämlich nicht massiv und nicht leicht einschätzbar - eine Tatsache, die der Westen stumpfsinnig als Schwäche Russlands interpretiert hat. Das hat den Westen zu einem Fehler nach dem anderen verleitet (und er fährt in diesen Fehlern fort), da er nicht davon ausgeht, dass es sich nicht um Schwäche handelt, sondern um einen Weg, die menschlichen und materiellen Schäden für die ukrainische (russische) Bevölkerung so weit wie möglich zu begrenzen.
Betrachten wir ein Thema, dem wenig Beachtung geschenkt wurde: Russland hat in der Ukraine gegen die grundlegendsten Regeln aus den Handbüchern für Kriegsführung verstoßen. Nach den aktuell angewandten Militärdoktrinen ist die erste Aktion, Angriffe zu starten, welche die Widerstandskraft und Moral des Gegners so weit wie möglich schwächen. Das ist das, was Russland in der ersten Phase des Krieges getan hat, aber im Wesentlichen gegen die militärische Infrastruktur gerichtet.
Dank der bis vor kurzem noch intakten Infrastruktur konnten die ukrainische Regierung und die NATO ‒ ihre wichtigste Stütze ‒ die Armee reorganisieren, neu bewaffnen und frei durch die Westukraine und einen großen Teil des Ostens bewegen. Die Existenz dieses Schutzraumes hat die massive Lieferung transatlantischer Waffen und Ausrüstungen ermöglicht und es dem Westen erlaubt, sich so zu bewegen, als ob er am Krieg nicht beteiligt wäre. Diese Form der Kriegsführung hat für Russland einen sehr hohen Preis gehabt. Sehr hoch.
Im Zweiten Weltkrieg – dem ersten mit massivem Einsatz der Luftwaffe – bombardierten die Alliierten vor allem Fabriken, Kommunikationsknotenpunkte, Kraftwerke, Treibstoffdepots, Scheunen und Brücken in Deutschland, da dies die effektivste und schnellste Form ist, die materiellen Ressourcen des Feindes zu zerstören, der ohne diese Ressourcen seine Kampfkraft schwinden sieht.
Vor dem Einmarsch in den Irak zerstörten die USA und ihre Verbündeten alles, was in dem Land einen Wert hatte, unabhängig davon, ob es ein militärisches Ziel war oder nicht. Die massiven und wahllosen Bombardierungen sollten sicherstellen, dass die Truppen beim Einmarsch in das Land möglichst wenig eigene Opfer haben, da die irakische Infrastruktur zerstört war. Eine derartige Verwüstung hat Russland zu Beginn nicht angerichtet. Die Ukraine funktionierte weiterhin in Frieden und der Krieg beschränkte sich auf die von Russland kontrollierten Gebiete und die pro-russischen Milizen. Militärisch gesehen ein Unding. Die als Reaktion auf den Angriff auf die Krim-Brücke geführten Schläge mit Hochpräzisionswaffen blieben bisher eine Ausnahme.
Russland weicht also von dem ab, was die grundlegendsten militärischen Handbücher vorschreiben. Es hat keine Flughäfen, Eisenbahnknotenpunkte oder irgendeine Brücke über den Dnjepr bombardiert. Russland hat nicht einmal die Gaslieferungen an die Ukraine unterbrochen, was so einfach wäre wie das Drehen an einigen Knöpfen, damit dieses Gas aufhört zu fließen und das Land lahmgelegt ist. Russland wollte die Ukraine nicht massiv angreifen, obwohl es eine totale Luftherrschaft und Hochpräzisionswaffen hat, mit denen es problemlos diese gesamte Infrastruktur zerstören könnte.
Die NATO nutzt diesen Umstand und hat Hunderte von Offizieren und Militärberatern in die Ukraine entsandt. Sie konnte die ukrainische Armee relativ leicht umgestalten, indem sie sie unter das Kommando von NATO-Militärs stellte. Die Kontrolle der NATO über diese Streitkräfte ist so groß, dass Militärexperten wie Scott Ritter (und andere) die neue ukrainische Armee als NATO-Armee einstufen.
Bei der so hoch gepriesenen Gegenoffensive in der Region Charkow wurde Russland von einer Armee neuen Typs überrascht, die mit transatlantischen Waffen ausgerüstet und gut über die schwachen Punkte Russlands an der Kriegsfront informiert war. Diese Gegenoffensive markierte ein Vorher und ein Nachher, weil sie die russische Regierung ‒ unserer Meinung nach ‒ erkennen ließ, dass sie entweder umsteuert oder ihre militärische Strategie auf ein Desaster zusteuert. Denn es war bereits nicht mehr Russland gegen das Kiewer Regime, sondern die NATO offen gegen Russland.
Daher der radikale Wandel. Putin ordnete die Teilmobilisierung des Landes an, um 300.000 Soldaten zu rekrutieren, und es wurde beschlossen, in den von Russland kontrollierten Gebieten Referenden zu organisieren, damit über die Eingliederung in die Russische Föderation abgestimmt wird. Das Niveau des Krieges anheben von einem "leichten" und ruinösen Krieg zu einem Krieg, wie er geführt werden muss.
Wir müssen verstehen, dass diese beiden Entscheidungen eine wesentliche Tatsache auf den Tisch gebracht haben: Russland hat beschlossen, den Weg der Verhandlungen zu verlassen und zu einer Politik der vollendeten Tatsachen überzugehen.
Die Eingliederung der kontrollierten Gebiete in die Russische Föderation bedeutet, dass diese Gebiete von jeglichen Verhandlungen (die irgendwann kommen werden) ausgeschlossen bleiben.
Zusammengefasst: Es wird keine Verhandlungen mehr über den Donbass und Neurussland geben, die für immer russisch bleiben werden. Was auch immer ausgehandelt wird, wird bei Akzeptanz der Eingliederung erfolgen ‒ oder gar nicht.
Andererseits wird die Mobilisierung von 300.000 Soldaten dem Krieg eine radikale Wende geben. Russland wird rund 500.000 besser ausgerüstete und bewaffnete Soldaten vor Ort haben. Putins Aussage, dass Russland all seine militärischen Mittel einsetzen wird, lässt voraussehen, dass auch die militärischen Ziele angegriffen werden könnten, die bisher vom Krieg ausgenommen waren.
Eine der Konsequenzen dieses Strategiewechsels wäre, dass die Westukraine nicht mehr als NATO-Schutzraum dienen würde. Und die NATO wird entscheiden müssen, ob sie eskalieren oder sich zurückziehen will. Von dieser Entscheidung wird abhängen, wie hoch das Risiko der direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO ist. Wenn sich die NATO für eine Eskalation entscheidet, ist damit zu rechnen, dass sich Russland nicht nur in den wieder eingegliederten Provinzen verschanzt, sondern beschließt, auf das restliche Gebiet Neurusslands vorzurücken, bis Odessa erreicht ist.
Eine halbe Million Soldaten, unterstützt von Russlands gesamter Militärmacht, ist eine sehr ernste Angelegenheit. Es wird vielleicht zwei Monate dauern, bis die neue Truppe einsatzbereit ist. Im November werden die ersten Auswirkungen sichtbar werden.
Es ist nicht möglich, Ergebnisse vorherzusagen, denn es gibt viele Variablen. Was wir sicher wissen können, ist, dass der europäische Winter voller Überraschungen, Schießpulver und Kälte sein wird.
Übersetzt aus dem Spanischen von Olga Espín.
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