Gastkommentar von Dr. Karin Kneissl
Als ich vor drei Jahren im norditalienischen Turin das Automobilmuseum und die einstige Fabrik von FIAT besuchte, die nunmehr ein schlecht besuchtes Kaufhaus ist, erfuhr ich, dass hier die weltweit größte und modernste Autofabrik stand. Die Fabbrica Italiana Automobili Torino, besser bekannt unter der Abkürzung Fiat (im Lateinischen "es möge gemacht werden"), setzte Maßstäbe für die europäische Autoindustrie: mit Motorentechnik, Design und einem genialen Marketing. FIAT begann 1916 mit dem Bau der berühmten Produktionsstätte namens Lingotto – samt einer Probestrecke auf dem Dach der Fabrik.
Erst Auslagern – dann Rückholen
Wenn aus Fabriken Museen werden, dann sollte es einen innerlich schaudern. Bei mir war dies damals der Fall, und ich schrieb ein Buch über die Mobilitätswende und ihre Tücken. Denn solche Museen sind auch in Deutschland allgegenwärtig. Besonders bedrückend empfand ich das Industriemuseum in Chemnitz, das zwar als Museum sehr einladend ist, doch die eindrucksvollen Daten und Fakten zur Industrie und der damaligen angewandten Forschung, mit denen der Besucher konfrontiert wird, zeigen klar: in der vor 100 Jahren wichtigsten Industriestadt Europas befindet sich heute ein Provinzmuseum anstelle der Betriebe. Arbeitsplätze sind dauerhaft dahin, eine Schwere liegt über der einst so dynamischen Stadt.
Das Thema Deindustrialisierung wurde nicht im Jahr 2022 geprägt. Denn die Auslagerung der Produktion von Europa findet in der Textilindustrie, im Stahlsektor und in der Automobilindustrie seit bald 40 Jahren statt. Der Zug nach Osten, wo die Löhne niedriger, die Auflagen geringer, die Steuern gleichsam inexistent sind, hat nicht nur die deutsche Industrie geprägt. Als Premierministerin Margret Thatcher Anfang der 1980er Jahre hart gegen die britischen Bergarbeiter vorgehen ließ, war ihr Motto, das Land, in dem die industrielle Revolution ihren Ausgang genommen hatte, zum Dienstleister zu verwandeln. Anstelle des produzierenden Gewerbes übernahmen Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien und die Beraterfirmen das Bruttonationalprodukt – bis dann die Finanzkrise von 2008 vieles infrage stellte. Ein Umdenken begann. In Deutschland meinte einer der damaligen Politiker schließlich: "Wir können ja nicht uns ständig gegenseitig die Haare schneiden."
Also begannen einige europäische Regierungen wieder auf "Fabriqué en France" und so weiter sowie auf ein "backshoring", auf Regionalisierung statt Globalisierung zu setzen. Was zuvor aus Kostengründen ausgelagert worden war, sollte nun aus Kostengründen wieder nahe der Forschung und des Firmensitzes angesiedelt werden. London arbeitete im Zuge der Umsetzung des Brexits seit 2016 intensiv an einer Neuansiedlung von Betrieben.
Doch nun geht dieser oft zögerlichen Wirtschaftspolitik die Puste, wortwörtlich die Energie aus. Staatlich subventionierte "Erneuerbare" können nicht den Strom zu den Preisen erzeugen, der die europäische Industrie im globalen Wettbewerb bestehen lässt. Deutsche Mittelstandsunternehmen zahlten bereits in den vergangenen Jahren um das Doppelte mehr an Stromkosten als ihre französischen Mitbewerber.
Im Frühjahr 2021 braute sich dann immer deutlicher die Energiekrise auf dem Strommarkt und im Erdöl- sowie im Erdgasmarkt zusammen. Ursächlich hierfür waren massive Investitionslücken in der Erschließung neuer Energieträgerlieferungen, verzerrte Markstrukturen infolge diverser "Green Deals" und misslungene Liberalisierung. Von Innovation weit und breit keine Spur in Deutschland – vielmehr Bürokratie, Klimaschutz Auflagen und ein katastrophales Bildungsniveau. All das war schon da, bevor die aktuelle mit Sanktionen und viel Moralismus hausgemachte Krise erst richtig begann.
Es war einmal die deutsche Forschung
Die deutsche Industrie zehrt immer noch von den Errungenschaften ihrer Forscher und Unternehmensgründer des 19. Jahrhunderts. Es waren die Siemens, Bosch, Diesel, Liebig und viele andere, welche mit Wissen, Kreativität und vor allem Konsequenz die Grundlagen für "Made in Germany" legten. Ein Großteil der deutschen DAX-Unternehmen wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegründet.
Die Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders liegen nun in einer untergegangenen Welt. Der deutschen Industrie fehlt nun – neben Fachkräften, rechtlichen Rahmenbedingungen und leistbaren Steuern – vor allem die Energie. Die aktuellen Stromrechnungen bringen bereits viele Traditionsunternehmen in die Insolvenz. Sollten in drei bis fünf Jahren neue Energielieferanten anstelle des relativ günstigen russischen Erdgases bereitstehen, so stellt sich auch dann die Frage: zu welchen Kosten können deutsche Unternehmen angesichts des sonstigen Kostendrucks wettbewerbsmäßig produzieren?
Die Ersten übersiedeln in die USA
Das hoch gehypte Batterie-Werk von Tesla zieht aus Deutschland in Richtung USA, ebenso verlegte der Autokonzern VW bereits Teile seiner Produktion in die USA. Bei allen geht es um die Energiekosten. Die USA scheinen die großen Gewinner zu sein. Denn für die energieintensive Industrie – wie Stahl, Aluminium aber vor allem die Petrochemie – rechnet sich die Produktion in Europa derzeit und wohl auf absehbare Zeit nicht.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte vor einigen Tagen europäischen Unternehmen angeboten, im Falle der Verlegung ihrer Produktion nach Russland ein Jahr lang kostenfrei Energie zu beziehen. Eine interessante Ankündigung, die vielleicht so mancher Mittelständler aufgreifen wird – Sanktionsdruck hin oder her. Arbeitsplätze in Deutschland gehen aber im Moment zu Tausenden jeden Monat verloren. Was nun zerstört wird, das wird kaum so rasch wieder aufzubauen sein. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird sich angesichts des ohnehin schon morschen Zustands kaum erholen. Und was macht eigentlich die Europäische Union ohne den Nettozahler Deutschland?
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