Von Doppelmoral und Korruption: EU, Ungarn und die Ukraine

Die Europäische Union beabsichtigt, Ungarn die Finanzen erheblich zu kürzen. Der Vorwurf lautet Korruption. Im selben Atemzug bietet die EU der Ukraine und Moldawien die Mitgliedschaft an. Beide Länder sind hoch korrupt. Der Widerspruch zeigt, dass es um etwas ganz anderes geht: Die EU duldet keine souveränen Entscheidungen ihrer Mitgliedsstaaten.

Von Gert Ewen Ungar

Manchmal übertrifft das Ausmaß an Absurdität der Realität auch die kühnste Phantasie. Dabei ist leider auch die EU-Kommission immer wieder eine ergiebige Quelle für die Freunde surrealen Erlebens. 

Aktuell ist es die Begründung der EU-Kommission für Strafmaßnahmen gegen Ungarn, die im Kontext der sonstigen Entscheidungen der EU skurril und bizarr anmutet. Sie wäre bis vor einigen Tagen noch jedem Autor von Satire-Beiträgen als zu steil und zu realitätsfern vorgekommen, als dass er sie in einen Beitrag eingebaut hätte – zu surreal.

Der jüngste Fall ist folgender: Dem EU-Mittglied Ungarn sollen wegen Korruption EU-Gelder in Höhe von 7,5 Milliarden Euro gestrichen werden. Es ist das erste Mal, dass die EU-Kommission zu dieser Maßnahme greift. Die Kommission begründet den Schritt mit dem Schutz von EU-Geldern, die durch den Bruch von EU-Prinzipien missbraucht werden könnten. Die Kommission schreibt

"The European Commission has today proposed budget protection measures to the Council under the conditionality regulation. This is to ensure the protection of the EU budget and the financial interests of the EU against breaches of the principles of the rule of law in Hungary."

Die Europäische Kommission hat also dem EU-Rat Maßnahmen zum Schutz von EU-Geldern und der finanziellen Interessen der EU vorgeschlagen – wegen der Verletzung von Prinzipien der EU-Regeln durch Ungarn. 

So weit so gut. Die Kommission schützt also die eingezahlten und von ihr zu verwaltenden Finanzmittel, die sie dann den Mitgliedsländern zur Verfügung stellen kann, vor dem Zugriff korrupter Eliten in den Nationalstaaten. Das wirkt auf den ersten Blick verantwortungsvoll und lobenswert. 

Wenige Tage zuvor aber trat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den Nationalfarben der Ukraine an das Rednerpult des EU-Parlaments und versicherte den Abgeordneten und zugleich der hoch korrupten Ukraine als Gastzuhörer ihre volle Solidarität. Wenn es nach von der Leyen ginge, wäre die Ukraine schon längst vollwertiges Mitglied der EU.

Vor diesem Hintergrund wirkt das Verfahren gegen das Mitgliedsland Ungarn drastisch und recht paradox. Während im Fall Ungarns auf die Beachtung der europäischen Werte geachtet wird, ist man gegenüber der Ukraine nicht nur großzügig, man ist vielmehr sogar bereit, sich als EU für die Ukraine zu verschulden. Die EU-Kommission hat Anleihen zur Finanzierung der Ukraine begeben. Die EU-Kommission hat sich zur Finanzierung der laufenden Ausgaben der Ukraine verschuldet. Im Fall eines Zahlungsausfalls haften die EU-Mitgliedsländer. Die Ukraine ist allerdings faktisch pleite, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Gelder irgendwo versickern, ist hoch, ebenso das Risiko eines vollständigen Zahlungsausfalls. Die EU-Kommission stört das nicht. Von einem Schutz des Budgets der EU-Mitgliedsländer bei der EU-Kommission ist in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht die Rede. 

Aber auch in anderen Bereichen ist die Ukraine unter dem Gesichtspunkt der “Wahrung europäischer Werte” eine weitaus größere Zumutung als Ungarn. Diskriminierende Sprachgesetze, die einem Drittel der Bevölkerung den Gebrauch ihrer Muttersprache in der Öffentlichkeit ebenso wie auch die Pflege ihrer Kultur untersagen. Die Medien in der Ukraine sind gleichgeschaltet, das Internet ist zensiert, die Opposition ist nicht nur ausgeschaltet, ihre Vertreter werden Berichten zufolge vermutlich gefoltert. Dessen ungeachtet gilt der Kommissionspräsidentin die Ukraine als ein würdiger Beitrittskandidat, Ungarn dagegen als der Buhmann im eigenen Haus, der angeblich gegen die Werte der EU verstößt.

Als würdiger Beitrittskandidat zur europäischen Wertegemeinschaft gilt auch die Republik Moldawien. Ebenso wie die Ukraine gilt jedoch auch dieses Land zugleich als hoch korrupt. Macht aber nichts, Ursula von der Leyen ist ja schließlich selbst nicht ganz frei vom Verdacht verschiedentlicher Korruption. Moldawien steht mit der Ukraine zudem in einem makabren Wettbewerb darum, welches von den beiden Ländern das ärmste von Europa sei. Mit der Wahl der EU-freundlichen Maia Sandu zur Präsidentin ergibt sich die Möglichkeit, das Land enger an die EU zu binden und sich damit einen geostrategischen Vorteil zu verschaffen. Da sieht man auch über Korruption und Vetternwirtschaft gern hinweg, auch wenn der Regierung in Moldawien wegen der hohen Energiepreise das baldige Aus droht. Es sollte daher alles möglichst schnell gehen.

Was sowohl die Ukraine als auch Moldawien in ganz grundlegender Weise von Ungarn unterscheidet, ist das antirussische Sentiment der aktuellen Regierungen und deren Bereitschaft, sich der Administration in Brüssel unterzuordnen und eigenstaatliche Souveränität abzugeben, so lange die Interessen der Eliten gewahrt bleiben. 

Aufgrund dieser ganz offenkundig doppelten Standards der EU-Kommission lässt sich der Verdacht ableiten, dass Ungarn für sein Beharren auf souveränen Entscheidungen schlicht abgestraft werden soll. All das Geschwurbel von Werten, in das die Kommission ihr Urteil kleidet, kann vor dem Hintergrund des vollkommen anderen Umgangs mit anderen Ländern noch außerhalb der EU nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU mit zweierlei Maß misst. 

Was Ungarn nämlich grundlegend unterscheidet, etwa von Ländern wie der Ukraine, Moldawien und den baltischen Staaten, die ebenfalls massiv gegen die “Werte der Union” verstoßen, ist die Haltung Ungarns zu Russland und ist zudem dieses Beharren auf eigenen, souveränen Entscheidungen.

Ungarn schert aus dem Sanktionsregime der EU ebenso aus, wie es auch nicht bereit ist, den von der EU verordneten LGBT-Hype mitzumachen. Homosexualität ist in Ungarn nicht verboten, jedoch möchte Ungarn bisher nicht eine Gleichwertigkeit von gleichgeschlechtlichen Beziehungen und heterosexuellen Beziehungen anerkennen. Und die EU ist offenbar nicht in der Lage, mit dieser unterschiedlichen Sicht auf das Thema zu leben. 

Auch Ungarns Wirtschaft ist abhängig von russischem Öl. Ein Ölembargo käme einem wirtschaftlichen Selbstmord gleich. Während die Regierungen anderer Länder – wie beispielsweise in Deutschland – bereit sind, sich aus reiner Russophobie und in Verkennung ihrer wirtschaftlichen Macht – bildlich gesprochen – selbst einen Strick um den Hals legen, ist Ungarn dazu nicht gewillt. Es schützt seine Interessen, nämlich die seiner Bürger.

Zu diesem Zweck schert das Land immer wieder aus. Schon während der Pandemie hatte Ungarn auf den russischen Impfstoff Sputnik V zurückgegriffen, während die EU-Kommission die Beschaffung von Impfstoffen generell lange nicht auf die Reihe bekam. 

Während Russland noch heute auf die im Januar 2021 beantragte Zulassung seines Corona-Impfstoffs Sputnik V durch die EU wartet, ließ Ungarn den Impfstoff zu und begann frühzeitig mit Impfungen. Obwohl diese Entscheidung verständlich und begründet war, hat sie dennoch zu Verstimmung zwischen Ungarn und der Brüsseler EU-Administration geführt.

Was sich in der Auseinandersetzung zwischen der EU-Kommission und Ungarn andeutet, ist der Versuch der EU-Kommission, ihre Macht gegenüber den Nationalstaaten der EU auszuweiten. Sie tut das schon seit geraumer Zeit und naturgemäß auf Kosten von nationaler Souveränität. Ungarn wiedersetzt sich diesem Ansinnen, während die politischen Eliten in Deutschland von den "Vereinigten Staaten von Europa" träumen und bereit sind, dafür die nationale Souveränität Deutschlands aufzugeben – im Zweifelsfall sogar, ohne darauf zu drängen, diese durch wahrhaft demokratische Strukturen in der EU zu ersetzen. 

Dabei wird auch deutlich, dass mit einer immer stärkeren Integration der EU von der viel beschworenen Vielfalt kaum etwas übrig bleiben wird. Die Machtausdehnung der EU und der EU-Kommission führt zur Nivellierung der Unterschiede zwischen ihren Mitgliedsstaaten. Selbst durch Kultur und Traditionen bedingte unterschiedliche Haltungen zu gesellschaftspolitischen Themen ist die EU nicht in der Lage zu tolerieren.

Am Beispiel Ungarns zeigt sich, dass die EU immer mehr zum Gegenteil dessen wird, was sie vorgibt zu sein: "Geeint in Vielfalt." Von dieser Vielfalt wird am Ende des Prozesses der Einigung nichts mehr übrig sein. Ungarn bekommt in diesen Tagen deutlich zu spüren, dass ein souveräner nationaler Standpunkt in der EU zu Konflikten und zu einschneidenden Konsequenzen führt. Das Korruptions-Argument wirkt angesichts der Offerten, welche die EU an Moldawien, die Ukraine und die Länder des Balkans sendet, fadenscheinig und vorgeschoben. Ob dieser Wille und Drang zum Zentralismus nicht dazu führt, dass die EU auseinanderbricht, ist die Frage, die sich aktuell stellt. Das Versprechen, Vielfalt und Unterschiedlichkeit nicht nur zu respektieren, sondern als Bereicherung zu erleben, erfüllt die Europäische Union schon längst nicht mehr. Deren Interessen sind nur noch macht- und geopolitischer Natur. 

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