Von Wadim Truhachyow
Die jüngste Verschärfung der Situation im Kosovo, die sich möglicherweise schon bald wiederholen könnte, hat neue Fragen darüber aufgeworfen, was der Westen auf dem Balkan will. Traditionell richtet sich unsere Aufmerksamkeit eher auf Serbien und die Serben, die man wegen ihrer guten Haltung gegenüber Russland und den Russen in Europa und Nordamerika versucht zu "erdrücken". Über die Albaner hingegen wird weniger gesprochen und geschrieben, und wenn, dann fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Kosovo oder Nordmazedonien. Albanien scheint in der nationalen Informationslandschaft ganz zu fehlen.
Verfolgt man die Berichte aus dem Balkan, so gewinnt man den Eindruck, dass die Albaner vom kollektiven Westen eindeutig bevorzugt werden. Dass der ehemalige Präsident des Kosovo, Hashim Thaçi, seit Jahren des Handels mit menschlichen Organen beschuldigt wird und die albanische Drogenmafia fast die stärkste in Europa ist, verhindert dies nicht. In der Blütezeit des berüchtigten "Islamischen Staates" (in Russland verboten) war Kosovo die in Europa führende Region, was die Zahl der Kämpfer in seinen Reihen anging, während Albanien und Mazedonien dahinter zurückblieben.
Ein besonderes Thema ist die Aufteilung der albanischen Ethnie, ihre kompakte Ansiedlung in Albanien, im Kosovo, in Nordmazedonien (wo sie ein Viertel der Bevölkerung ausmachen) und etwas weniger in Montenegro, Griechenland und in Serbien selbst. Weder in der EU noch in den USA gab es eine (zumindest öffentliche) Verurteilung der Worte von Edi Rama, dem albanischen Premierminister, als er sagte, sein Traum sei die Vereinigung mit dem Kosovo. Als würde dies nicht eine Neuziehung der Grenzen mit unvermeidlichen bewaffneten Konflikten bedeuten, die von der EU und der NATO zu bereinigen wären.
Heute werden Albanien und Nordmazedonien mit seinem Viertel albanischer Bevölkerung als Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft angesehen – obwohl ihre Wirtschaftsleistung selbst dem ärmsten EU-Land, Bulgarien, weit unterlegen ist. Schon jetzt ist verständlich, dass sie für Europa zu einer großen Belastung werden. Beide Länder sind bereits Mitglieder der NATO. Seit 2010 dürfen die Bürger aller Balkanstaaten ohne Visum in die EU reisen. Eine Ausnahme wurde für den Kosovo gemacht – allerdings haben ihn fünf EU-Staaten noch nicht anerkannt.
Um die Ursachen für das Wohlwollen der westlichen Welt gegenüber den Albanern zu ergründen, ist ein Blick in die Zeit des Mittelalters erforderlich. Damals war es den Albanern nicht gelungen, ein eigenes mittelalterliches Königreich zu errichten. Das Territorium ihrer Besiedlung gehörte zum Byzantinischen Reich, zu Venedig und Serbien, es wurde von den Kreuzrittern erobert. Unter den Albanern lebten orthodoxe Christen, Katholiken und verschiedene Ketzer. In vielerlei Hinsicht war die Absenz einer festen religiösen Basis der Grund dafür, dass die meisten Albaner mit dem Aufkommen des Osmanischen Reiches zum Islam konvertierten.
Jedoch konvertierten nicht alle Albaner zum Islam. Viele katholische Albaner wanderten nach Italien aus und nahmen die Erinnerung an den Nationalhelden Scanderbeg mit. Er führte Krieg gegen die Türken und praktizierte keinen Islam. Seiner wird heute sowohl in Albanien als auch im Kosovo gehuldigt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die berüchtigte albanische Division der SS nach ihm benannt. Ein Teil der Albaner blieb orthodox und hat heute sogar ihre eigene autokephale orthodoxe Kirche. In den Ländern, die lange Zeit zum Osmanischen Reich gehörten, waren die Albaner also aufgrund ihres partiellen Katholizismus im Westen "heimischer" als die orthodoxen Serben oder Griechen. Zudem hatten sie den Vorteil, dass ihre Sprache keine nahen Verwandten hatte. So konnten sie weder in Richtung Russland noch in Richtung eines anderen potenziellen Wettbewerbers blicken. Angesichts ihrer unvollständigen Konvertierung zum Islam wurden die Albaner, anders als die bosnischen Muslime, nicht als eindeutige Unterstützer der Türkei betrachtet.
Mit ihren nationalen Rechten und Ansprüchen auf die Gebiete von Serbien, Montenegro und Griechenland meldeten sich die Albaner 1879 zu Wort. Das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien und Italien waren ihnen gegenüber prinzipiell positiv eingestellt. Die Gründung eines unabhängigen Albaniens im Jahr 1912 war weitgehend ein deutsches Projekt, um Serbien, das als Instrument des russischen Einflusses in Europa angesehen wurde, am Zugang zur Adria zu hindern. Dies bedeutete jedoch nicht, dass alle "Wünsche" der Albaner erfüllt wurden.
Im Zweiten Weltkrieg betrachteten Deutschland und Italien die Albaner erneut als eine Kraft zur Eindämmung der Serben. Deswegen wurden sie trotz der Errichtung eines italienischen Protektorats über Albanien unterstützt. Später, als sozialistisches Albanien unter Diktator Enver Hodscha, wurde es als etwas "Seltsames" und Bedrohliches angesehen. Die Tatsache, dass Hodscha mit der UdSSR im Streit lag, brachte den Albanern jedoch bei den Staaten des Westens erneut Pluspunkte ein. Die Kosovo-Albaner dagegen erhalten schon seit Ende der 1960er Jahre in Westeuropa eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.
In den 1990er Jahren und auch heute spielen die Albaner die Rolle einer zuverlässigen Barriere gegen den wachsenden Einfluss Russlands und Serbiens. Und gerade deshalb wurde ihnen erlaubt, zweieinhalb Staaten auf dem Balkan zu gründen – Albanien, das halb anerkannte Kosovo und Nordmazedonien, das in der Tat bereits zu einer slawisch-balkanischen Konföderation geworden ist. Dass die ethnisch albanischen Länder arm sind, macht ihre Herrscher noch gehorsamer. Und die Tatsache, dass sie, wie bereits Hashim Thaçi, im Konflikt mit dem Gesetz stehen, macht sie insgesamt gefügig und handhabbar.
Der einzige Haken an der Sache ist, dass die Türkei, in der Millionen von Menschen mit albanischen Wurzeln leben, versucht, ihren Einfluss auf Albanien (und insbesondere den Kosovo) auszuweiten. Allerdings gibt es hier ein "Gegenmittel". Erstens sind die Albaner ohnehin nicht vollständig muslimisch. Zweitens haben sich in den Jahren des Sozialismus auch albanische Muslime von der Religion distanziert. Und auch das Vorhandensein einer Gruppe radikaler Islamisten unter ihnen ändert nichts an der allgemeinen Situation. Für die EU und die NATO ist dies ein weiterer Grund, den Wunsch der Albaner zu erfüllen, sich nicht an die Türken zu wenden.
Aber selbst die albanisch-türkische Verbindung kann ausgenutzt werden. Verwandelt man Albanien (und das Kosovo) zu Musterländern der EU und der NATO, so werden nicht mehr die türkischen Stammesangehörigen auf sie einwirken, sondern umgekehrt: Die albanische Diaspora würde zum Akteur einer neuen Annäherung der Türkei an Europa. Und im weiteren Sinne, wäre das ein Beispiel für eine fortschrittliche, säkulare Gesellschaft in der übrigen muslimischen Welt. So hat der Westen in Bezug auf die Albaner auch Ziele, die keinen Bezug zu Russland und Serbien haben.
Daneben benötigt die EU eine Art Migrationsbecken", in das die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika gebracht werden können. Keines der jetzigen EU-Länder wäre bereit, eine solche Rolle zu übernehmen. Dagegen wären Albanien und Kosovo für diesen Zweck gut geeignet. Denn sie brauchen das Geld, und die kulturelle Distanz zu den Neuankömmlingen ist nicht so gewaltig. Selbstverständlich besteht die Gefahr, dass die Zahl der Anhänger des radikalen Islam unter den Albanern zunimmt – aber welches Phänomen hat keine Schattenseite?
Schlussendlich haben die Albaner von heute ihre "demografische Leidenschaft" verloren. Noch vor 25 bis 30 Jahren war ihre Geburtenrate viel höher als die anderer Völker in Europa. Heute entspricht sie eher europäischen Indikatoren. Daher scheint die Aggressivität des albanischen Volkes abgenommen zu haben. Und dadurch werden sie überschaubarer als früher. Noch dazu wird die EU ihnen nicht erlauben, sich unter dem Dach eines einzigen Staates zu vereinigen. Das "Großalbanien" wird weiterhin aus zweieinhalb Ländern bestehen.
Man sollte sich also nicht wundern, dass den Albanern auf dem Balkan aus Sicht des Westens fast alles erlaubt wird. Sie sind seit langem die Favoriten in der Region, und ihre Privilegierung ist auf ihre Geschichte, Religion und Sprache zurückzuführen. Und selbstverständlich auf die derzeitige internationale politische Situation, in der sie sowohl die zuverlässigste Barriere für den russischen Einfluss auf dem Balkan als auch eine "Brücke" zur muslimischen Welt zu sein scheinen.
Wadim Wadimovic Truhachyow ist Politikwissenschaftler, Kandidat der historischen Wissenschaften, Doktor der Geschichte, Politologe, außerordentlicher Professor an der Fakultät für internationale Beziehungen und ausländische Regionalstudien an der Russischen Staatlichen Universität. Er schloss sein Studium der Geschichte an der Staatlichen Universität Moskau ab. Seit 2004 beschäftigt er sich mit internationalem Journalismus. Seine Hauptforschungsgebiete sind Geschichte und Außenpolitik der mitteleuropäischen Länder, politische Parteien und Multikulturalismus in Europa sowie die Außenpolitik der Europäischen Union.
Übersetzt aus dem Russischen
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