Von Dagmar Henn
Deutsche Medien sind immer etwas langsamer. Dort wird immer noch ein "Breiter Vormarsch ukrainischer Truppen westlich des Dnjepr" gemeldet (FAZ), ein "Vormarsch ukrainischer Truppen auf breiter Front" (FR), oder – etwas vorsichtiger –, die ukrainischen Streitkräfte hätten "offenbar bereits einige Gebietsgewinne im nordwestlichen Teil der Region Cherson erzielt" (ZDF). Die FAZ bezieht sich dabei sogar auf eine Veröffentlichung des britischen Verteidigungsministeriums, ohne offenbar wirklich gelesen zu haben, was da steht.
Übersetzt heißt nämlich der entscheidende Teil bei den Briten: "Die Operation hat begrenzte unmittelbare Ziele, aber die ukrainischen Truppen haben wahrscheinlich einen gewissen Grad taktischer Überraschung erzielt; schlechte Logistik, Verwaltung und Führung in den russischen Streitkräften genutzt."
Der Schlüsselbegriff bei dieser Aussage ist das Wort "begrenzte". Monatelang war von einer "großen" Gegenoffensive im Gebiet Cherson die Rede, von Rückeroberung. Diese Gegenoffensive sollte im August stattfinden. Was unternommen wurde, war eine Operation mit "begrenzten unmittelbaren Zielen", die offenbar gar nicht mehr beabsichtigt, Cherson völlig einzunehmen.
Dass trotz ihrer monatelangen Ankündigung eben dieser Offensive gerade die Briten, die in Gestalt ihres Premiers Boris Johnson tief in den Konflikt verwickelt sind (es war schließlich Johnson, der die Verhandlungen im April zerschlagen hat), diese militärische Aktion jetzt so darstellen, als sei sie von vorneherein klein und begrenzt beabsichtigt und sei noch nie die Rede gewesen von einer Armee mit einer Million Mann, ist ein Detail, das man mitlesen muss. Weil es auf der sprachlichen Ebene der klassischen "Frontbegradigung" die Bestätigung eines Scheiterns ist.
Der Deutschlandfunk liefert selbst ein hübsches Beispiel, welches Niveau von Lügen man zu verkaufen versucht. Er zitiert eine Pressesprecherin des ukrainischen Militärs mit der Aussage, "die Streitkräfte würden aus humanitären Gründen keine befreiten Orte nennen. Es bestehe die Gefahr, dass die russischen Truppen solche Informationen missbrauchten, um die befreiten Territorien gezielt mit Artillerie und aus der Luft aus (sic!) anzugreifen." Man ist es schon so gewöhnt, jeden ukrainischen Unfug zu übernehmen, dass man auch nicht über die Behauptung stolpert, die russischen Truppen wüssten nicht selbst, welche Orte ihnen die Ukrainer gerade abgenommen hätten, und müssten das in der westlichen Presse nachlesen.
Eine weitere Äußerung, die der Deutschlandfunk zitiert, sollte man sich aber gut merken, wenn es um die realen Ereignisse im Gebiet Cherson geht: "Ein Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskij sagte, da man eigene Verluste vermeiden wolle, sei es ein sehr langsamer Prozess. Es werde keinen schnellen Erfolg geben, denn ein schneller Erfolg bedeute immer viel Blut."
Über die immensen Verluste der ukrainischen Truppen, die das russische Verteidigungsministerium bisher im Zusammenhang mit dieser ukrainischen Offensive gemeldet hat, wird geschwiegen. Der Deutschlandfunk weiß lediglich: "Russische Quellen sprechen davon, die Offensive sei bereits gescheitert – allerdings ohne einen Beleg dafür zu nennen." Fast identisch formuliert es das ZDF: "Keine Beweise für besonders schwere ukrainische Verluste."
Diese Verluste liegen nach den Meldungen des russischen Verteidigungsministeriums bei mehr als 2.000 toten Kämpfern. Die entsprechende Zahl der Verwundeten (nach einer Faustregel zwischen dem Drei- bis Fünffachen) kann dann auf mindestens 6.000 Verwundete geschätzt werden. Und es gibt Meldungen, dass die Krankenhäuser in Kriwoi Rog, Odessa und Nikolajew mit Verwundeten überfüllt sind; es gibt Aufrufe zu Blutspenden, und es gibt Bilder von Schlangen von Wartenden, die Blut spenden wollen, etwa aus Odessa. Es existieren also durchaus auch in der Ukraine Möglichkeiten, zumindest die Wahrscheinlichkeit solcher Meldungen zu überprüfen. So man denn will. Aber das hieße ja, die Verluste zuzugeben.
Über zweitausend Tote und mehrere tausend Verwundete für einen winzigen Geländegewinn? Das müsste eigentlich eine Debatte über Sinn und Zweck dieses Angriffs auslösen, würde die deutsche Presse tatsächlich über diesen Konflikt berichten wollen. Doch sie tut das noch weniger als die angelsächsische Presse, die – so berichtet zumindest Alexander Mercouris – schon am ersten Tag der ukrainischen Offensive von großen Meldungen zu kleineren überging, als sich die erhofften Erfolge nicht zeigten. Das ZDF zitiert einen Pentagon-Sprecher mit der Bemerkung, es seien "ukrainische Militäroperationen bekannt, die eine gewisse Vorwärtsbewegung gemacht hätten." Auch dieser sehr bescheidene Satz hätte sämtliche Alarmglocken klingeln lassen müssen.
Schließlich gab es jüngst einen Bericht auf CNN, der sogar eine direkte Beteiligung des US-Militärs bei der Vorbereitung ebendieser Offensive bestätigte. Er bezieht sich erst auf "vielfältige US- und ukrainische Quellen", die eingestanden, dass US-Kräfte sich gemeinsam mit der ukrainischen Seite mit "war gaming" beschäftigt hätten, also Angriffssimulationen. Das Ausmaß der Gegenoffensive sei von US-Seite "vorgeschlagen" worden. Und es wird ein Pentagon-Sprecher zitiert, der sagt: "Allgemein gesprochen: wir versorgen die Ukrainer mit Informationen, um ihnen zu helfen, die Bedrohungen zu verstehen, denen sie gegenüberstehen, und ihr Land gegen russische Aggression zu verteidigen. Letztlich treffen die Ukrainer die Entscheidung über ihre Operationen."
Das, was hier als "war gaming" verharmlost wird, ist die Planung und Berechnung eines militärischen Einsatzes, sprich, die eigentliche Aufgabe eines Generalstabs. Im Grunde war es spätestens mit den Waffenlieferungen dieses Jahres klar, dass die NATO militärisch am Konflikt beteiligt ist. Die die hoch gepriesenen HIMARS-Systeme sind nicht besser als ein 60 Jahre altes Grad-System, wenn sie denn nicht mit der Art präziser Zielinformation gesteuert werden, beschaffbar nur über entsprechende Einrichtungen militärischer Aufklärung, wie etwa Satelliten, Aufklärungsflugzeuge und Drohnen. Es ist schon lange die Rede davon, dass die HIMARS-Systeme mitsamt dem entsprechenden Bedienpersonal geliefert werden, weil die Ausbildungszeit dafür schlicht zu lange dauern würde.
Trotz der massiven Unterstützung endete die Offensive aber in einer Katastrophe, wobei immer noch nicht klar ist, ob sie bereits vorbei ist oder noch fortgesetzt wird. Denn schon im Donbass hat sich die Neigung der ukrainischen (oder US-amerikanischen) Generalität gezeigt, auch in Stellungen, in denen die Truppen komplett aufgerieben wurden, immer wieder neues Personal nachzuschieben. Das könnte auch in der kleinen Geländetasche im Gebiet Cherson noch einige Zeit so betrieben werden.
Warum eine solche Operation, die nicht nur massenhaft Truppen, sondern auch noch eine Menge frisch gelieferten Materials – wie polnische Panzer T-72 – verheizt, überhaupt stattfindet, darüber sind die Analytiker geteilter Meinung. Dima von Military Summary ging gleich von angreifenden Truppen von 36.000 Mann aus und erklärte, die ukrainischen Verluste seien deshalb anteilig gar nicht so hoch. Eine weit verbreitete Schätzung liegt aber bei 10.000 bis 15.000 Mann, und dann sehen Verluste von 2.000 Gefallenen und 6.000 Verwundeten schon ganz anders aus.
Hier die Bewertung von Bernhard vom Moon of Alabama (MofA; der Autor ist übrigens ehemaliger NVA-Offizier): "Der Plan war von Anfang an verrückt. Das ganze Gebiet ist flache offene Steppe. Die Truppen hätten einen fünfzig Kilometer tiefen Korridor durch offenes feindliches Gebiet schaffen müssen. Die Ortschaften entlang dieser Strecke sind vor allem landwirtschaftliche Mini-Dörfer mit ein oder zwei Straßen und ebenerdigen Häusern, die wenig Schutz bieten. Die ukrainischen Truppen haben keine Luftverteidigung oder Luftangriffskapazitäten, um vordringende Truppen zu decken. Ihre Artilleriekapazitäten sind ein Zehntel dessen, was die russische Armee in dieser Gegend stellen kann. Es war von Anfang an erkennbar, dass das eine Selbstmordmission war."
Er zitiert dann noch einen Tweet, der ein taktisches Muster im Ablauf dieser Offensive erkennt:
"Die Wahrheit über die "Offensive" von Cherson ist für alle sichtbar in die Karten geschrieben: die ukrainischen Streitkräfte greifen an; Russland schlägt sie hart und zieht sich zurück; die Ukrainer dringen vor; Russland schlägt sie wieder, aber zieht sich weiter zurück; die Ukrainer bringen zusätzliche Truppen; Russland umgeht sie kraftvoll und schneidet den Rückzug ab; Falle geschlossen; Truthahnschießen."
Sowohl MofA als auch die beiden von The Duran, Mercouris und Cristoforou, gehen davon aus, dass vor allem die britische Regierung Druck gemacht hätte, die versprochene Offensive endlich zu liefern; die letzte Verantwortung dafür also in London läge.
Gleichzeitig berichten alle drei von Auseinandersetzungen zwischen Selenskij und dem ukrainischen Generalstab, wo man diese Offensive für einen Fehler gehalten haben soll.
Die Annahme, dass der ganze Vorgang auf mediale Wirkung in der westlichen Öffentlichkeit abzielte, nicht auf wirkliche militärische Erfolge, teilt auch Andrey Rayevski (The Saker):
"Diese 1.700 Soldaten wurden durch Panzerfahrzeuge, Artillerie und sogar einige Flugzeuge unterstützt, und die USA/GB hatten große Hoffnungen, dass diese vielfach angekündigte 'Gegenoffensive' einiges an guter PR bringen würde. Die Brandon-Regierung ist absolut verzweifelt bemüht, irgendetwas wenigstens irgendwie Erfolgreiches vorzuzeigen, doch diese sogenannte 'Gegenoffensive' ergab nur einige taktische Angriffe, die kein irgendwie messbares Ergebnis brachten. Die Größe dieser Truppe zeigt, dass es bei dieser Operation vor allem um PR ging (und nicht um eine wirkliche Gegenoffensive). Die Ukrainer hatten nie eine Chance, nicht auf taktischer Ebene und noch weniger dabei, einen taktischen Angriff in eine operationelle Gegenoffensive zu überführen. Wenn man berücksichtigt, dass sie Monate brauchten, um diese eher bescheidene Operation vorzubereiten, zeigt das, wie sehr die ukrainischen Truppen in den letzten Monaten geschwächt wurden."
In der Bewertung des Ergebnisses unterscheidet sich Andrei Martyanov nicht von den übrigen Kommentatoren. Er geht allerdings davon aus, dass dieser Angriff tatsächlich vom Pentagon als Eröffnung einer echten Gegenoffensive geplant war. Der Bericht von CNN diene vor allem dazu, "die Schuld abzuwälzen." Auch die Geschichte über den Streit zwischen Selenskij und seinem Generalstabschef sei nur ein Ablenkungsmanöver. In Wirklichkeit sei Selenskij 24 Stunden am Tag unter Kontrolle des britischen MI6 und der CIA. "Und natürlich plant das Pentagon die Einsätze und scheitert erbärmlich." Der CNN-Artikel beschriebe genau das. "Offenkundig wissen sie nicht, wie man die erforderlichen Truppen berechnet." Und der ehemalige sowjetische Marineoffizier kommt zu dem Schluss: "Meine Güte, was bringen sie ihnen nur bei."
Der Spiegel aber verbindet nach wie vor noch große Erwartungen mit den weitgehend bereits aufgeriebenen Truppen und zitiert ausgerechnet einen britischen "Experten" mit der Aussage: "Was sich definitiv geändert hat, ist, dass die militärische Initiative jetzt bei der Ukraine liegt." Und er rechnet nach wie vor mit einem ukrainischen Sieg, wenn nur noch genug westliche Waffen geliefert würden. Dafür wird sogar ein Leitartikel in Stellung gebracht: "Wenn die Ukraine mit der Gegenoffensive im Süden Erfolg haben soll, benötigt sie mehr und andere Waffen. Gebiete zu verteidigen, ist das eine, sie einzunehmen, ist ungleich schwieriger, das hat der bisherige Kriegsverlauf gezeigt. (…) Wenn der Westen Putin in Schach halten und der Ukraine annehmbare Friedensverhandlungen ermöglichen will, dann muss er Schwächen des Gegners auch für sich nutzen. Und die Schlacht um Cherson scheint eine solche Schwäche zu offenbaren."
Nun ja, mit Meldungen über Frontbegradigungen hat man in Deutschland schon lange Erfahrungen.
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