Von Susan Bonath
Die Geschichte reflektieren, diskutieren und aus ihr lernen? Nicht mit der woken Gedankenpolizei aus den akademischen und politischen Mittelklasse-Milieus: Was nicht passt, will sie verbieten. Winnetou ist nur der neueste Eklat; auch Figuren wie Pippi Langstrumpf landeten schon auf ihrem Schafott. Was eine unfreiwillig komische Komponente hat: Auch Pippi machte sich "die Welt, wie sie mir gefällt".
Wo das enden soll, weiß man nicht. Immerhin ist fast der gesamte real existierende Buchbestand nicht gegendert, und sämtlichen historischen Romanen liegen wohl veraltete Denkvorstellungen zugrunde. Davon abgesehen: Die als "Geschlechter-Gerechtigkeit" vermarkteten Sprachexzesse sind so unausgegoren und diffus wie großteils unaussprechlich. Vor allem aber ändern sie kein bisschen an der Lebensrealität all jener, die nicht zu den wirklich gut Verdienenden gehören. Die "kleinen Leute" können sich nur verhöhnt fühlen.
Verschleierte Wirklichkeit
Natürlich, die Geschichte der Klassengesellschaften ist ein Drama der Unterdrückung von Menschen durch Menschen. Sie ist durchzogen von Raub und Aneignung, Krieg und Genozid, Versklavung und Entrechtung, Elend auf der einen, ungeheurer Reichtum auf der anderen Seite. Auch die patriarchalen Strukturen sind in den Industrienationen zwar gut verschleiert. Verschwunden sind sie aber längst nicht.
Dies spiegelt sich in der Sprache und der Schrift wider, geprägt vom Denken der Menschen ihrer Zeit, verewigt in zeitgenössischen Texten, vom Hexenhammer über die Rasselehren der deutschen Nazis bis hin zu Kinder- oder Abenteuerbüchern wie eben Pippi Langstrumpf und Winnetou.
Natürlich würde heute vermutlich bestraft, wer in Deutschland ernsthaft die Methoden des "Hexenhammers" propagiert. Die Versklavung von Millionen Afrikanern und die Kolonialisierung ihrer Länder war ein grausames Verbrechen, genauso wie der Genozid an der indigenen Bevölkerung in Amerika. Kaum eine Frau wird die patriachalen Auswüchse in sämtlichen Klassengesellschaften, die ihre weiblichen Ahnen zu bloßen Objekten degradiert hatten, gutheißen.
Der moderne Spätkapitalismus reiht sich in die Ära der Klassengesellschaften ein. Er bietet hier und da zwar einen demokratisch erscheinenden Überbau, der weiblichen wie männlichen Arbeitern einige Rechte einräumt und Sklaverei wie Leibeigenschaft verbietet. Aber auch in der heutigen Lohnarbeitsgesellschaft muss sich eine Mehrheit einer Produktionsmittel besitzenden Minderheit sowie ihrem Herrschaftsinstrument, dem Staat, unterwerfen. Ausgebeutet wird niemand freiwillig, sondern weil ein anderer mächtiger oder stärker ist. Macht basiert immer auf Gewalt, und Gewalt erzeugt Gegengewalt, auch im Volk.
Keine Frage: Wer die bis heute nicht beendete Geschichte materieller und geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeit beenden will, muss die Vergangenheit analysieren und aufarbeiten, muss grundlegende Fragen stellen und Probleme kritisieren. Dazu gehört ein kritischer Blick auf den Sprachgebrauch in historischen Dokumenten. Doch dafür müssen sie vorhanden sein; ein Verbot dient lediglich der Verschleierung einer unliebsamen Vergangenheit, und mehr noch: auch gegenwärtigen Unrechts.
Maskulinum, Femininum, Neutrum
Unsere Sprachen haben eine lange Entwicklung hinter sich. Sie wandelten sich mit den Glaubenssätzen und Ansichten der Menschen in einer bestimmten Region. Wörter verschwinden, neue kommen hinzu, Grammatik wird angepasst. Dass im Deutschen für alle Geschlechter geltende generische Maskulinum wird fast immer in Berufsbezeichnungen verwendet: die Arbeiter, die Lokführer-Gewerkschaft, und so weiter.
Der Grund liegt auf der Hand: Lange Zeit durften die Frauen keiner Lohnarbeit nachgehen, sondern mussten sich, in Abhängigkeit von ihren Ehemännern oder Vätern, um Haus, Hof und Reproduktion kümmern. Sogar in den Anfängen der alten Bundesrepublik bekamen Frauen ohne die Einwilligung ihrer Ehemänner keinen Job und kein Konto. Bis in die 1990er Jahre war Vergewaltigung in der Ehe keine Straftat. Die heutigen Frauenrechte sind das Ergebnis einer sehr jungen Entwicklung, der wohl irgendwann die Sprache folgen wird.
Jedoch ist ebenso anzumerken: Außerhalb von Berufsbezeichnungen ist das generische Maskulinum keineswegs die Regel. Es gibt auch die weibliche Form, das generische Femininum, und die sächliche Form, das generische Neutrum, zum Beispiel: die Katze oder das Kind. Spricht jemand von vielen Katzen, ist jedem klar, dass weibliche und männliche gemeint sind. So ist es bei "den Kindern", aber auch bei "den Studenten", wo wiederum die männliche Grundform allgemein gilt.
Verhöhnt, beschimpft, bevormundet
Die woke Akademikerschicht auf ihren oft selbstkreierten Posten in vermeintlich gemeinnützigen Stiftungen, in Medien und Denkfabriken, in der Politik und der Staatsbürokratie verfolgt offensichtlich eine dogmatische Umkehr-Agenda: Die Verfechter scheinen zu glauben, mit ihrer aufgenötigten Gender-Akrobatik die Denkweise von Menschen entsprechend verändern zu können, und zwar völlig unabhängig von der Realität. Daran kann man glauben – man kann es aber auch für Unsinn und realitätsfern halten.
Nun sind Doppelpunkte, Unterstriche und Sternchen keine sprechbaren Buchstaben, sondern Satzzeichen und grammatikalische Hilfsmittel. Auch die Frage, wann, wo und wie man sie einsetzt, scheint umstritten zu sein. Einheitliche Regeln gibt es nicht, jeder tut, wie ihm beliebt. Das führte schon zu denkwürdigen Stilblüten und verkrampften Patzern selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und im Bundestag.
Dem gewöhnlichen Volk mag das vielleicht ein wenig zynische Belustigung verschaffen, während es weiter Schichten mit unbezahlten Überstunden schrubbt und mit inflationären Geldsorgen alleine dasteht. Es kann diese Sprachexzesse nur als Hohn deuten. Und darum sind sie mehr, als nur ausgelebte, von einer selbsternannten Bildungselite im Elfenbeinturm erdachte Gedankenexperimente. Sie sind Ausdruck einer Verhöhnung des ärmeren Teils der Gesellschaft: Die bürgerliche Mittelklasse grenzt sich von ihm ab.
So haben die alleinerziehende Hartz-IV-Aufstockerin, die überlastete Altenpflegerin oder die Teilzeit-Kassiererin im Supermarkt ganz sicher jede Menge andere Sorgen, als sich mit Sprachmoral-Experimenten von Theoretikern mit Professorentiteln zu befassen. Ob ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessert, ihre Löhne erhöht und ihre finanziellen Nöte gelindert werden, hängt beileibe nicht an Doppelpunkten und Sternchen in unleserlichen Fließtexten.
Es dürfte die Betroffenen auch wenig interessieren, ob sich ihre sie unter Druck setzenden Chefs als männlich, weiblich, Transgender, lesbisch oder was auch immer definieren. Das hat mit ihrer materiellen Lebenswirklichkeit schlicht so viel zu tun, wie Russlands Präsident Putin mit dem seit 2014 andauernden Beschuss der Donbass-Bevölkerung durch die ukrainische Armee: nichts.
Die von oben gern herablassend als rechtsradikal oder rückständig diffamierte Wut über die Gender-Akrobatik der Mittelklasse ist so berechtigt, wie das Misstrauen. Ein Blick in die Geschichte zeigt zudem deutlich, dass die akademischen Zwischenschichten schon immer dazu neigten, im Zweifel mit den Mächtigen zu kollaborieren und nach unten zu treten. Sie dienten auch in jüngerer Vergangenheit als Fürsprecher und Umsetzer von Sozialabbau-, Entrechtungs- und Überwachungsmaßnahmen.
Zwar gibt sich insbesondere jener Teil der akademischen Mittelschicht, der sich als linksliberal bezeichnet, gern als Anwalt der "kleinen Leute" und als Opposition gegen rechte Sozialstaatsschleifer aus. Allerdings erübrigt sich ihre Gegenwehr zumeist in langatmigen (und durchgegenderten) Pressemitteilungen oder Anträgen im Parlament, die ohnehin zum Scheitern verurteilt sind. Mehr noch: Meist schwingt auch bei ihnen der pädagogische Rohrstock mit: Seid nur brav, wir regeln das für euch. Es verwundert nicht, wenn die sensiblen Antennen der "kleinen Leute" dahinter Bevormundung wittern.
"Der Nazi" als "Proll aus der Unterschicht"
Man kann es vielleicht so zusammenfassen: Die Mittelklasse mit Abschlüssen, Funktionen, Ämtern und Posten – egal, ob der sich rechts oder links definierende Teil von ihr – mimt nur allzu gern den Pädagogen für "die da unten". Die einen schwingen zum Bespiel den Bestrafungsrohrstock gegen Erwerbslose, aufstockende Niedriglöhner und Flüchtlinge. Die anderen mimen zynisch die Kümmerer mit Denkvorgaben und Regeln im Gepäck. Beide Seiten suggerieren unmissverständlich: Ihr seid zu dumm für eigene Entscheidungen, tanzt gefälligst nach unserer Pfeife.
Besonders deutlich wird dies auch im Nazi-Vorwurf. Nicht nur, dass er jeden treffen kann, der gegen Ungerechtigkeit und Erpressung von oben demonstriert. Auch die Darstellung dieses Typus spricht oft Bände. Gern greifen Medien dafür auf Fotos von grölenden Betrunkenen in Jogginghose zurück, während die echten, einflussreichen Nazis in Schlips und Kragen mit dicken Autos und Konten völlig unbehelligt bleiben. Schützt sich die Mittelklasse also – vielleicht sogar unbewusst – selbst, indem sie das Bild vom Nazi aus der "Unterschicht" kreiert? Das ist jedenfalls anzunehmen.
Simulation und akademische Überheblichkeit
Zurück zu all den akademischen Sprachzwängen, Verbots- und Distanzierungsorgien: Sie sind sehr offensichtlich vor allem ein Ausdruck kleinbürgerlicher Überheblichkeit gegenüber der den gewöhnlichen Malochern, mit einer beachtlichen Realitätsferne.
Doch damit passen sie durchaus in die aktuelle Zeit. Deren Kennzeichen sind Leitmedien, die wie Propagandarohre der Herrschenden die imperialistischen Markteroberungs-Vormärsche der NATO zu demokratischer Verbrüderung verdrehen, kritische Denker zu Nazis stempeln und aus bewaffneten SS-Runen-Trägern unterdrückte und unschuldige Oberdemokraten machen. In dieser Zeit gebärden sich Profiteure weinerlich bei jedem Widerwort als Diskriminierungsopfer, während sie nach oben buckeln und jede Schuld woran auch immer irgendwelchen armen Schluckern in die Schuhe schieben. So kann man freilich trefflich von eigenen Untaten ablenken.
Die aktuelle Epoche des digitalen Kapitalismus treibt ersichtlich die Ära der Entfremdung von der Wirklichkeit in einem kunterbunden Warenmarkt auf bisher unerreichte Spitzen: Abstrakte Daten, Simulationen und Trugbilder kreieren eine Scheinrealität. Der Umgang mit Corona wirft seit zweieinhalb Jahren ein eindrückliches Licht darauf, wie das funktioniert. Die Simulanten im Auftrag, geschmückt mit Doktoren- und Professorentiteln, sitzen in regierungsnahen Universitäten, Instituten und Fachbehörden. Sie gehören zur Mittelklasse, die mit akademischer Überheblichkeit das Geschäft für die Oberschicht besorgt.
Proleten sollen gehorchen
Das Verbieten von schriftlichen oder verfilmten Zeitdokumenten, die unausgegorene und für die meisten unaussprechliche Gender-Akrobatik, das penetrante Kreieren vom "Nazi aus der Unterschicht" bei gleichzeitiger Leugnung echter und erkennbarer Nazis sowie die abstrakten Corona-Zahlenspiele haben viel gemeinsam. Sie sind Ausdruck simulierter Scheinwirklichkeit, kreiert von einem Teil der Mittelschicht im Dienste der Obrigkeit. Sie sind Ausdruck eines Klassenkampfes aus der Mitte gegen "die da unten".
Ja, all dies ist auch ein Ausdruck dafür, dass die hysterisch eingeforderte Moral der Moralwächter aus der akademischen Mittelklasse ein dickes Leck hat: Sie endet offenbar dort, wo die gewöhnlichen Arbeiter Selbstbestimmung fordern. Proleten sollen halt gehorchen, ansonsten ist Schluss mit lustig.
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