Von Dagmar Henn
Wir leben in zynischen Zeiten. In Los Angeles wurde beschlossen, einen hübscheren Begriff für "Obdachlose" zu schaffen, weil diese Bezeichnung deren Würde verletze. Man solle statt dessen von "Menschen, die draußen leben" oder "Menschen, die Obdachlosigkeit erfahren" sprechen. Als wäre es die Bezeichnung und nicht der Zustand selbst, der die Menschenwürde verletzt. Wir reden hier von einer Stadt, deren Straßenränder sich in Zeltstädte verwandelt haben.
Das eigentliche Elend wird behandelt wie eine Naturkatastrophe, als wäre es nicht das Ergebnis ökonomischer und politischer Entwicklungen, die in Gänze menschengemacht sind. Und dass solches Elend das Ergebnis der konkreten Entscheidungen konkreter Menschen ist, ist ebenso wenig Anlass zur Empörung wie dieses Elend selbst.
Mit exakt derselben Haltung wird gerade der deutschen Bevölkerung eingeredet, man müsse nun eben frieren und hungern in Europa, die "Zeit des Überflusses" sei vorüber (Emmanuel Macron), man müsse zum Waschlappen greifen statt zum Duschkopf, und nur böse Menschen setzten sich dagegen zur Wehr. In den letzten beiden Jahren wurde schon die gesamte Pflegeinfrastruktur geschrottet; es gibt Pflegeheime, in denen inzwischen, weil das Personal fehlt, ganze Abteilungen mit Flüchtlingen belegt werden, während es für neue Pflegefälle schlicht keine Plätze mehr gibt. Und niemand in Deutschland fragt sich, wie es all denen ergeht, die jetzt nicht mehr gepflegt werden.
Auf der Webseite der Tagesschau findet sich dafür ein Artikel, der sich darüber empört, wie schwierig es doch junge Frauen haben, die sich sterilisieren lassen wollen. Dabei wird eine Protagonistin vorgestellt, die erklärt: "Meine Freiheit und Flexibilität, die möchte ich mir langfristig nicht nehmen lassen." Kinder, das sei einfach zu anstrengend. Und in dem Artikel wird nicht einmal ansatzweise angesprochen, dass auch das Ergebnis menschengemachter Entscheidungen ist; die eigentlich schockierende Tatsache, dass Kinder nicht als Bereicherung, sondern als Last gesehen werden, ist so normal, dass sie nicht mehr auffällt.
Es ist bizarr. Es wird endlos über Sexualität geredet, aber nicht über Liebe. Es wird künstliche "Solidarität" verordnet und vollzogen, aber die alltägliche Mitmenschlichkeit ist abhanden gekommen. Man kann das bis heute an den Corona-Maßnahmen und ihren eifrigen Verfechtern sehen, die sich nie Gedanken gemacht haben, was sie anrichten. Dabei lagen die Zahlen dazu schon im vergangenen Jahr vor, als nachzulesen war, dass im ersten Lockdown die Sterblichkeit bei Dementen weit über der allgemeinen Sterblichkeit in Pflegeheimen lag, was eine unmittelbare Folge des Kontaktentzugs war. Oder an der Bereitschaft, die Kinder leiden zu lassen. Sollte eine Gesellschaft nicht ihre Kinder schätzen und beschützen?
Es kommt mir vor, als gäbe es in den Köpfen der politisch Verantwortlichen Menschen nur als Abstrakta. Nicht als atmende, denkende, fühlende Wesen. Und in vielen anderen Köpfen sieht es ähnlich aus. Gut oder Böse, Weiß oder Schwarz und nichts dazwischen, kein Ringen um Verständnis, kein Zögern vor dem Fällen des Urteils, keine Bereitschaft zur Vergebung.
Sie gehen Hand in Hand, die Abschaffung der Empathie und die Verschleierung dessen, was Ergebnis menschlicher Entscheidungen ist. Die Energiepreise, die Europa gerade in die Katastrophe führen, sind das Ergebnis zweier unterschiedlicher Entscheidungen: der Schaffung von Spekulationsmöglichkeiten in einem Sektor, der aus natürlichen Monopolen besteht, was die Preisexplosion ermöglichte, und der irrwitzigen Sanktionen gegen Russland. Wie kann es menschlich sein, in Deutschland, in Europa Millionen ins Elend zu stürzen – und es wird Elend, daran kann kein Zweifel mehr bestehen –, um einen Krieg zu verlängern, in dem andere sinnlos verheizt werden, weil er eigentlich längst verloren ist? Wie kann man Phrasen wie "Putin darf nicht siegen" über das Wohl der ganzen eigenen Bevölkerung stellen?
Empathie ist eigentlich eine grundlegende menschliche Eigenschaft. Ihre Grundlage ist der Nachahmungstrieb, der uns zum Lernen befähigt. Ohne Empathie würde nicht einmal eine kleine Horde funktionieren, geschweige denn eine komplexe Gesellschaft. Wenn sich die Empathie im Verlauf des Heranwachsens erfolgreich mit dem Verstand verknüpft, besteht die Chance auf eine dem Mitmenschen gegenüber freundliche Einstellung, die wieder für viele der komplizierteren Arten der Interaktion die Voraussetzung ist. Für Liebe, beispielsweise, die ohne Vergebung nicht funktioniert, oder für Diplomatie.
Es kommt mir fast vor, als sei die Achtung vor dem Menschen systematisch demontiert worden. Das mag ein zufälliges Nebenprodukt sein; so etwas wie die massive Werbekampagne für Hartz IV, mit der das Bild von Langzeitarbeitslosen, die sich in der "sozialen Hängematte" ausruhen, in der Gesellschaft verbreitet wurde, hinterlässt Spuren, und das war nicht die einzige Kampagne in diese Richtung (gleichzeitig wurde jeder Verweis auf die leistungslosen Einkommen der Reichen zum "Sozialneid" erklärt). Aber wenn heute Landwirtschaftsminister Cem Özdemir zu erkennen gibt, dass ihm Biodiversität wichtiger ist als Menschenleben, dann fiel das nicht vom Himmel.
Wie unschuldig wirkte das, als Greenpeace damals, in den Achtzigern, die Wale retten wollte. Aber seit den Achtzigern reiht sich Welle an Welle, in der es immer Wichtigeres gibt als Menschen, immer irgendetwas gerettet werden muss, nur nicht der eigene Nachbar. Wie viel soziales Gewissen haben überzeugte Veganer? Wie viel Mühe ist man noch bereit, in die Kommunikation mit dem anderen zu stecken, in das Begreifen von Zusammenhängen, ohne das es eben auch in der Mitmenschlichkeit nicht geht?
Auf den Triumphzügen römischer Feldherrn stand hinter dem Triumphierenden ein Sklave, der ihm den Lorbeerkranz über den Kopf hielt und immer wieder sagte: Bedenke, dass du sterblich bist. Dieser Satz steht nicht nur für die Endlichkeit der Existenz; er steht auch für Fehlbarkeit. Es ist die Anerkennung der eigenen Fehlbarkeit, die den Weg zu Verstehen und wirklicher Humanität öffnet. Vielleicht war das die soziale Funktion, die die christliche Vorstellung der Erbsünde zumindest teilweise erfüllte und die einmal den Weg für Vorstellungen umfassenderer Gleichheit öffnete. Aber statt sie durch einen auf der Anerkennung dieser Fehlbarkeit beruhenden Humanismus zu ersetzen, wurde sie aus dem Denken gestrichen und durch nichts ersetzt.
Wenn Regierende so verantwortungslos handeln, wie sie es in Deutschland derzeit tun, dann ist das nur möglich, wenn auch in der Gesellschaft selbst die Vorstellung von Verantwortung geschwächt ist. Es ist nicht nur die finnische Ministerpräsidentin allein, die sich benimmt wie eine pubertierende Göre, die endlich nicht mehr um zehn daheim sein muss, während sie gleichzeitig ihr Land in die NATO und damit auf Konfrontationskurs mit einem wesentlich größeren Nachbarn bringt. Solches Verhalten wäre nicht möglich, würde die Gesellschaft es nicht tolerieren.
Es ist, als wären alle Erwachsenen plötzlich verschwunden. Wenn nicht einmal von Angehörigen der Regierung erwartet wird, über die Konsequenzen von Handlungen nachzudenken, ehe sie handeln, dann wird es von niemandem mehr erwartet. Dieser Zustand wurde nicht auf einmal erreicht, aber jetzt ist er da, und man muss sich fragen, wer überhaupt noch vorhanden wäre, um einem Zusammenbruch entgegenzutreten, der sich nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich abspielt.
Mit der besonderen Absurdität, dass es sich um einen vermeidbaren Zusammenbruch handelt, einen unnötigen, der mit einfachen Schritten abgewendet werden kann. Die die Regierung, wäre es denn wahr, dass sie sich schlicht geirrt hätte mit ihrer Sanktionsentscheidung, jederzeit gehen könnte. Und sollte es nicht wahr sein (wofür vieles spricht), dann müsste sie mit offenen Karten spielen und sagen, wem man dieses Elend zu verdanken hat. Russland jedenfalls ist es nicht.
Aber all das würde ja voraussetzen, dass ein Gefühl von Verantwortung vorhanden ist, und ein zumindest grundlegender Respekt den Menschen gegenüber. Und das ist das eigentliche Problem mit der vermeintlichen Liberalität der vielen diversen Lebensentwürfe. Die meisten Menschen lernen Verantwortung und Verständnis erst von und an ihren eigenen Kindern. Nie spürt man deutlicher, wie kostbar das menschliche Leben ist, als wenn man ein Neugeborenes im Arm hält. Es ist nicht das eigene Leben, das das begreifen lässt, sondern das eines anderen Menschen.
Aber die Erfahrung dieser Verantwortung wird entwertet. Die deutsche Gesellschaft ist zwar immer noch imstande, bei Bedarf entsprechende Phrasen abzusondern, aber weder die materielle Absicherung Alleinerziehender noch das Bildungssystem oder gar der Umgang mit Kindern während der Corona-Maßnahmen lassen irgendeine Wertschätzung für Eltern oder Kinder erkennen. Es mag sein, dass das ökonomischem Kalkül folgte; Arbeitskräfte kann man schließlich beliebig importieren, ohne sie erst aufzuziehen und auszubilden; aber in der Konsequenz verändert sich die Gesellschaft auf einer tieferen Ebene.
Sie verliert ihren Ort zwischen den Generationen. Sie verliert ihren Anspruch auf eine Zukunft. Sie verliert ein ungeheures Maß an sozialen Fähigkeiten, die wohlhabende Kinderlose nicht entwickeln, weil sie sie nicht brauchen. Sie verliert die Fähigkeit, zu erkennen, wem wichtige Entscheidungen anvertraut werden können und wem nicht.
Der ganze LGBT-Zirkus ist da nur das Tüpfelchen auf dem I. So wie das woke Gehabe um Winnetou. Eine Scheinhandlung, die an die Stelle möglichen Verstehens tritt. Und gleichzeitig die Frage der Gerechtigkeit als erledigt zu den Akten legt. "Menschen, die draußen leben", fürwahr.
Wir leben in der größten gesellschaftlichen Ungleichheit, die es je gegeben hat. Die ökonomische Katastrophe, die angekündigt wird, wird sie noch weiter erhöhen; das ist der eigentliche Zweck des Spiels. Und die Gesellschaft, über die sie hereinbricht, hat sich zu weiten Teilen in eine atomisierte Horde dauerhaft Pubertierender verwandelt; nicht nur schlechte Voraussetzungen, um das angekündigte Unheil noch abzuwehren, sondern noch schlechtere, um es zu überstehen.
Damals, als Maggie Thatcher die britischen Gewerkschaften zerschlug und predigte, es gäbe keine Alternative, wollte sie das Wissen auslöschen, dass eine von Menschen gemachte Gesellschaft auch von Menschen geändert werden kann. Inzwischen ist die zweite Generation herangewachsen, die nur noch minimale Kenntnisse besitzt, wie und warum Gesellschaft und Ökonomie funktionieren, und der Anspruch, die menschliche Gesellschaft zum Besseren zu verändern, wurde durch eine endlose Litanei vermeintlich wichtigerer Dinge wie "Klimaschutz" ersetzt, die alle zwei Eigenschaften gemein haben: soziale Verhältnisse nicht anzusprechen und mit ungehemmter Kapitalverwertung kompatibel zu sein. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die psychisch bereits zertrümmert ist, ehe sie es nun auch physisch wird.
Wenn kein Wunder geschieht und das gemeine Volk beschließt, selbst die Verantwortung für sein Schicksal zu übernehmen, wird es eine mühsame Arbeit werden, aus diesen Trümmern wieder eine lebbare Gesellschaft zu bauen. Aber im Augenblick sieht es so aus, als wolle sich Europa von der Weltbühne verabschieden wie einst das Weströmische Reich.
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