Von Mirko Lehmann
Ebenso wie die schwedische strebt auch die finnische Regierung neuerdings entschlossen in die NATO. Mancherlei Bemühungen aus Washington und Brüssel, die beiden nordeuropäischen Länder in die NATO zu integrieren, gab es schon eine geraume Weile. Doch bisher regte sich in beiden Staaten beträchtlicher politischer Widerstand dagegen, die jahrzehntelange (Finnland) oder sogar jahrhundertelange (Schweden) Bündnisfreiheit aufzugeben. Erst die Eskalation des Krieges in der Ukraine schuf für diese "Norderweiterung" des Militärbündnisses den äußeren Anlass und den – aus westlicher Sicht – 'perfekten' Hintergrund, um alle geäußerten Vorbehalte und Bedenken – inner- wie außerhalb der potenziellen Beitrittsländer – vom Tisch zu wischen.
"Karrierefrau"
In Helsinki regiert seit Dezember 2019 Sanna Marin, damals war sie mit ihren 33 Lebensjahren die jüngste Ministerpräsidentin, die Finnland je hatte, und zumindest zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts wohl auch die jüngste Regierungschefin aller Staaten der Erde. Die Sozialdemokratin hatte eine Muster-Karriere vom Kreißsaal über den Hörsaal in den Plenarsaal hingelegt, bevor sie vor nicht einmal drei Jahren den nächsten Karrieresprung machte und sogar die Regierung des Landes führen sollte. Wie viele andere ihrer Generation, die etwas werden wollten und als "Kaderreserve" im Sinne der Mächtigen gelten, hat auch Marin das "Young Global Leaders"-Programm von Klaus Schwab und dessen World Economic Forum durchlaufen.
Nichts gilt mehr
Seit dem Frühjahr 2022 wird die Neutralität, die sich für Finnland nach 1945 und eigentlich noch bis in die heutigen Tage sowohl politisch wie auch ökonomisch als äußerst vorteilhaft erwiesen hat, mir nichts, dir nichts über Bord geworfen. So sollte es aus heutiger Darstellung betrachtet eigentlich verwundern, dass und wie komfortabel Finnland den Kalten Krieg überhaupt als Staat unbeschadet überstehen konnte. Schließlich war die waffenstarrende Supermacht Sowjetunion jahrzehntelang der direkte Nachbar. Bis 1990 hatte es etliche kritische, höchst angespannte Situationen am Eisernen Vorhang zwischen Ost und West gegeben, der auch Finnland von der Sowjetunion trennte. Legt man die ahistorischen, dafür aber hysterischen Befindlichkeitsmaßstäbe von heute an, hätte Finnland während dieser vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt von der UdSSR überfallen worden sein müssen. Doch zu keinem Zeitpunkt stellte die Sowjetunion eine Gefahr für die Existenz Finnlands dar. Stattdessen tagte in Helsinki erfolgreich die KSZE als Vorläufer der OSZE und Moskau vergab des Öfteren lukrative Aufträge an finnische Unternehmen – beispielsweise für Werften –, und der gegenseitige Handel und Austausch blühte. Daran hatte sich auch nach 1990 wenig geändert, im Gegenteil. So waren Touristen aus Russland zahlungskräftige Gäste.
Doch ähnlich wie Schweden oder schon länger die baltischen Staaten und Polen, fährt Finnland nun seit 2022 einen dezidiert antirussischen Kurs, der sich in seiner Schärfe noch einmal spürbar von der ohnehin russlandfeindlichen Politik der EU und seiner 'Verbündeten' in Europa, beispielsweise der Schweiz, unterscheidet. Dies lässt sich gut etwa in der Frage der Visavergabe für russische Staatsbürger ablesen. Es scheint, als habe man sowohl in Stockholm als auch in Helsinki die "richtigen" Schlüsse aus der Ermordung Olof Palmes gezogen, dessen NATO-kritische Neutralitätspolitik und die angestrebte atomwaffenfreie Zone in Nordeuropa damals mehr als nur misstrauisch von Washington, London und Brüssel beäugt wurden.
Heiße Nächte in Helsinki?
Wenn man den verbreiteten Meinungsumfragen glauben darf, hatte bereits im Mai 2022 die Unterstützung für einen NATO-Beitritt Finnlands erstaunliche 76 Prozent unter den Befragten erreicht. Die russische Militäroperation in der Ukraine erfüllte in Schweden und Finnland demnach eine ähnliche Funktion wie die vermeintlichen Sichtungen russischer U-Boote vor Stockholm 2014 (die überdies ein Déjà-vus der frühen 1980er Jahren waren). Jedenfalls kippte die öffentliche – zumindest die veröffentlichte – Meinung zugunsten des NATO-Beitritts, was vor dem Februar dieses Jahres so nicht denkbar gewesen wäre.
Die Aufnahme von Finnland und Schweden in das von Washington dominierte Militärbündnis gilt bloß noch als Formsache, wenn die Bedingungen der Türkei erfüllt sein werden, schließlich scheint der Handel Menschenrechte gegen Mitgliedschaft auf dem politischen Basar abgeschlossen. In dieser Situation tauchen ganz plötzlich Party-Videos der finnischen Regierungschefin im Netz auf. Einiges spräche dafür, dass die Leaks politisch erwünscht waren, aber das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls lenken die verwackelten, mehr oder weniger "scharfen" Clips ganz im Boulevard-Stil hervorragend davon ab, dass Finnland in absehbarer Zeit hochpolitisch seinen blockfreien, formal neutralen Status aufgeben wird. Zwar wird innerhalb wie außerhalb Finnlands darüber debattiert, ob angesichts der Wirtschaftskrise und des Krieges in der Ukraine die Regierungschefin feiern dürfe. Und ob sie Alkohol getrunken, gar irgendwelche Substanzen konsumiert habe. Prompt ließ Marin einen Drogentest machen. Unter Tränen beteuerte die 36-Jährige am 24. August Reue und Besserung.
Ablenkung
Doch all dies ist nicht der Kern der Frage. Zwar wird bisweilen so getan, als sollten die sprichwörtlichen angelsächsischen, prüden Moralvorstellungen gegen die junge und telegene Regierungschefin in Anschlag gebracht werden. Als ob irgendwelche Tugendwächter das Privatleben von Politikern, hier der finnischen Premierministerin, bespitzeln sollten. Doch darum geht es nicht, denn zumindest in Kontinentaleuropa wird richtigerweise noch zwischen offizieller Funktion und Privatleben unterschieden. Auch Politiker dürfen feiern, trinken und haben ein Recht auf – sogar auch ausgelassenes – Privatleben und eine geschützte Sphäre, die nicht an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt gehört.
Die finnischen Mittsommernachts-Videos zeigen jedoch eine offensichtlich noch unreife Mittdreißigerin, deren Verhalten eher dem eines Teenagers oder einer Person in den Zwanzigern entspricht. Von politischem Belang daran ist, dass nicht nur in Deutschland, sondern EU-weit oder sogar in allen westlichen Ländern neuerdings solche jungen Politiker in Führungspositionen kommen und dort gern gesehen werden. Obwohl sie oft sogar als "Young Global Leaders" gehandelt werden, bringen viele dafür offensichtlich weder die fachliche Qualifikation noch die nötigen menschlichen Qualitäten und erforderliche Bildung (altmodisch ausgedrückt: die "sittliche Reife") mit. Oft, zu oft sogar, verfügt dieser politische Nachwuchs jedoch nicht einmal über eine formal abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Studienabschluss, von mehrjähriger Berufserfahrung außerhalb der teilweise inzestuösen Gesellschaft von Politik und Medien einmal ganz abgesehen. Diese Leichtgewichte haben den Lobbyisten massiver Interessenvertretungen aus Wirtschaft, Militär und allerlei Apparaten wenig entgegenzusetzen.
Kein Wunder, dass die rasch hochgeschriebenen Jungstars und -sternchen des Polithimmels leicht steuerbar, geradezu erpressbar sind – hängen sie doch existenziell vom Politikbetrieb ab und müssen mitspielen, falls sie nicht Privilegien verspielen wollen, um dann "beruflich" vor dem Nichts zu stehen. Da solches Personal finanziell, aber eben auch psychisch, von der Droge der vermeintlichen "Macht" abhängig ist und gar nicht über hinreichend Lebenserfahrung und eine materielle Existenz außerhalb der Politik verfügt, erweist es sich als geradezu ideal für die Durchsetzung aller möglichen Interessen, sei es in Zeiten der Corona-Krise oder eben der Ukraine-Krise. Und auch das ist eben ideal für die Beseitigung der bündnispolitischen Neutralität. Das jüngst publik gewordene "Kompromat" gegen die finnische Regierung dürfte praktisch eine zusätzliche Rückversicherung dafür sein, dass Marin bis zum Erreichen dieses Ziels gefälligst in der Spur bleibt. Denn die "Hauptsache ist der Effekt!" – in diesem Fall der NATO-Beitritt Finnlands.
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