NATO-Norderweiterung: Menschenrechte auf dem Opfertisch

Am Freitag fand das erste trilaterale Treffen zur NATO-Norderweiterung statt. Die neuen nördlichen NATO-Kandidaten Schweden und Finnland sagen der Türkei den Schutz der Sicherheit zu. Zu einem hohen Preis, so die Kritik.

Bei ihrem ersten trilateralen Treffen im finnischen Vantaa am Freitag berieten Vertreter Finnlands, Schwedens und der Türkei über die NATO-Norderweiterung und die türkischen Forderungen. Teilgenommen hätten Experten der Außen-, Innen-, Justiz- und Verteidigungsministerien der drei Länder, der Verwaltung der Präsidenten und Ministerpräsidenten und der Geheimdienste, hieß es in einer knappen Pressemitteilung der finnischen Regierung. "Die Teilnehmer haben die konkreten Schritte besprochen, wie das trilaterale Memorandum umzusetzen ist."

Nachdem die Türkei den Beitritt Schwedens und Finnlands zu dem Bündnis lange blockiert hatte, sprachen die Nordeuropäer der Türkei unter anderem Unterstützung gegen "Bedrohungen der nationalen Sicherheit" aus. Auch Abschiebungen sollen erleichtert werden. Vor diesem Hintergrund regt sich Kritik daran, dass Helsinki und Stockholm nicht nur ihre langjährige Bündnisfreiheit, sondern die Kurden sowie womöglich andere Dissidenten für den NATO-Beitritt opfern.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte seine Zustimmung zu dem seit Kurzem geplanten NATO-Beitritt der beiden nordischen Länder zunächst verweigert, weil diese laut Erdoğan Dutzende "Terror"-Verdächtige beherbergen und die türkischen Sicherheitsanliegen zu wenig achteten. Einem NATO-Beitritt muss immer von allen Mitgliedern zugestimmt werden. Als "Terroristen" bezeichnet Erdoğan etwa Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der syrischen Kurdenmiliz YPG, die für die USA in Syrien ein entscheidender Verbündeter in der US-geführten Allianz gegen den IS ist, und der Gülen-Bewegung. Während die PKK auch in den USA und vielen Ländern der EU als Terrororganisation eingestuft wird, hatte der Kassationsgerichtshof in Belgien dieser Definition nach einer Anfechtung nicht zugestimmt und befand, dass die PKK keine terroristische Organisation ist.

Die NATO-Erweiterung gehe für die Türkei einher mit dem Respekt, den man ihren Empfindsamkeiten entgegenbringe, hatte der türkische Präsident vor Mitgliedern der islamisch-konservativen AKP erklärt. Ankara schien sich zudem nicht darauf zu beschränken, gegen gelistete "Terror"-Verdächtige vorzugehen, sondern verlangte beispielsweise Ende Mai von Helsinki, einen türkischen Mann auszuliefern, der nach Ansicht türkischer Beamter Präsident Erdoğan verleumdet hatte. Bisher hatte die finnische Justiz dies jedoch unter Verweis auf die Menschenrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung abgelehnt.

Ende Juni hatten die drei Länder am Rande des NATO-Gipfels eine Zehn-Punkte-Übereinkunft unterschrieben, worin es heißt, dass "Finnland und Schweden bestätigen, dass die PKK eine verbotene terroristische Organisation ist" und dass Schweden und Finnland versprechen, die Volksschutzeinheiten (YPG) "nicht zu unterstützen". Finnland und Schweden verpflichteten sich demnach außerdem, "anhängige Abschiebungs- oder Auslieferungsanträge der Türkei in Bezug auf Terrorverdächtige zügig und gründlich zu bearbeiten". In dem Abkommen heißt es weiter: "Finnland und Schweden verpflichten sich, die Aktivitäten der PKK und aller anderen terroristischen Organisationen und ihrer Ableger sowie die Aktivitäten von Personen, die mit diesen terroristischen Organisationen in Verbindung stehen, zu verhindern."

Erdoğan hatte gedroht, den Beitritt nicht zu ratifizieren, wenn zig angeblich Terrorverdächtige aus Finnland und Schweden nicht an die Türkei ausgeliefert werden. Nach Angaben des türkischen Justizministers Bekir Bozdağ handelt es sich um die Auslieferung von zwölf Verdächtigen aus Finnland und 21 aus Schweden.

Zwar hatten der finnische Präsident Sauli Niinisto ähnlich wie die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson nach dem NATO-Gipfel betont, dass man sich bei allen Auslieferungsentscheidungen weiterhin nach lokalen und internationalen Gesetzen richten werde und somit keiner eine Auslieferung zu befürchten habe, "wenn man keine terroristischen Aktivitäten durchführt", wie Andersson es ausdrückte.

Einige schwedische Behörden befürworteten einen Teil der Wünsche Ankaras. So forderte die Chefin der schwedischen Sicherheitspolizei, Charlotte von Essen, im Juli ein Verbot von Demonstrationen aus Solidarität mit der PKK. Bis in den August hatten die beiden Nordländer Berichten zufolge die türkische Forderung nach Auslieferung einer Reihe von Staatsbürgern abgelehnt.

Wie Green Left Anfang der Woche unter Berufung auf schwedische Medien berichtete, wurde jedoch womöglich vor dem Hintergrund des NATO-Deals in Schweden ein 26-jähriger kurdischer Flüchtling festgenommen. Zınar Bozkurt, der 2016 politisches Asyl in Schweden beantragt hatte, wurde demnach am 18. August festgenommen, wenige Tage vor dem für den heutigen Freitag geplanten Treffen zwischen den drei Ländern, von den schwedischen Behörden. Den Berichten zufolge könnte der junge Flüchtling aufgrund des NATO-Memorandums Gefahr laufen, an die Türkei ausgeliefert zu werden. Er befindet sich aus Protest im Hungerstreik. Dabei stand sein Name nicht auf einer Liste von mehr als 30 Personen, die die Türkei den beiden nordischen Ländern zur Auslieferung vorgelegt hatte.

Laut dem Bericht von Green Left war Bozkurt schon 2018 vom schwedischen Sicherheitsdienst verhört worden, weil er in Schweden an Anti-Türkei-Demonstrationen teilgenommen hatte. Seinen Asylantrag hatten die schwedischen Behörden demnach im Jahr 2020 mit der Begründung abgelehnt, dass der kurdische Mann eine "Sicherheitsbedrohung" für das skandinavische Land darstelle.

In einem Bericht der schwedischen Zeitung Dagens ETC erklärte Bozkurt, dass er schon 2016 einen Asylantrag gestellt hatte. Bei der Asylprüfung zwei Jahre später befasste man sich mit Bildern, die zeigten, dass er als Wahlhelfer für die prokurdische Oppositionspartei Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei tätig und Kongressvertreter in der Jugendabteilung der Partei gewesen war. Ein Freund, mit dem er in der HDP aktiv gewesen war, wurde in der Türkei zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Gegenüber schwedischen Medien hat Bozkurt seine Angst bekundet, abgeschoben zu werden, weil ihm ein ähnliches Schicksal in der Türkei drohe. In sozialen Medien erschienen Protestbeiträge unter Hashtags, die von der schwedischen Regierung fordern, Bozkurt freizulassen und nicht zu deportieren (#StopDeportingZinarBozkurt #FreedomForZinarMehmetBozkurt).

Laut Dagens ETC waren rund 40 Kurden mit ähnlichen Problemen konfrontiert, als sie in Schweden eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung oder Asyl beantragten. Demnach habe die Migrationsbehörde sie auf Anraten des schwedischen Geheimdiensts Säpo (Säkerhetspolisen; wörtlich "Sicherheitspolizei") abgewiesen und beschlossen, sie abzuschieben. Gemäß Bozkurts eigener Schilderung habe die Säpo Bilder von seinem Facebook-Account gezeigt, die zeigen, wie er an Demonstrationen in Schweden teilnahm. "Sie fragten mich, warum ich mit der HDP sympathisiere, und sagten, ich hätte eine PKK-Fahne in der Hand gehabt."

Die Zeitung kritisiert, dass die Säpo die Asylsuchenden als eine Bedrohung für die schwedische Gesellschaft dargestellt habe, ohne jedoch Belege vorzulegen. Während keiner der Asylsuchenden im Verdacht stehe, kriminell zu sein, sympathisieren sie mit der transnationalen kurdischen Linksbewegung, die Ankara ein Dorn im Auge ist, wird im Bericht in der schwedischen Zeitung betont.

Während es in einer knappen Pressemitteilung der finnischen Regierung am Freitag nach dem Treffen nur hieß: "Die Teilnehmer haben die konkreten Schritte besprochen, wie das trilaterale Memorandum umzusetzen ist", verbucht Ankara es türkischen Medienberichten zufolge als Erfolg:

"Finnland und Schweden bekräftigten ihre Verpflichtung zur uneingeschränkten Solidarität und Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen alle Formen und Erscheinungsformen des Terrorismus und sagten zu, die Türkei gegen alle Bedrohungen ihrer nationalen Sicherheit, insbesondere gegen die Terrororganisation PKK, ihre syrischen Ableger PYD/YPG und die Gülen-Terrorgruppe (FETÖ), uneingeschränkt zu unterstützen."

Schwedens Linkspartei hatte die NATO-Mitgliedschaft schon früher abgelehnt und betont, dass das Abkommen mit der Türkei ein Verrat an den Kurden sei und die Möglichkeiten Schwedens einschränke, als Stimme für Frieden und Gerechtigkeit aufzutreten. Ähnlich beschreiben es Dr. Helena Grunfeld und Fionn Skiotis in einem Artikel, den das Australian Institute for International Affairs veröffentlichte.

"Die Kurden wurden erneut verraten, dieses Mal, um Schweden und Finnland die Möglichkeit zu geben, die NATO-Mitgliedschaft zu beantragen."

Abdullah Deveci, Bozkurts Anwalt, erklärt in der Financial Times:

"Es sind nicht nur kurdische Oppositionelle, die [für Erdoğan] geopfert werden, auch die schwedische Demokratie, die Meinungsfreiheit und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit werden geopfert."

Mehr zum Thema - NATO-Norderweiterung: Schweden und Finnland führen Gespräche in Ankara