Von Tom J. Wellbrock
Ich frage mich, was das Gegenteil von Kriegsmüdigkeit sein könnte. Kriegswachheit? Kriegsgeilheit? Kriegsbereitschaft? Kriegslust? Keines dieser Attribute könnte oder sollte zu einem zivilisierten Menschen passen, weil sie alle destruktiv sind, den Tod in Kauf nehmen, ihn sogar erwarten, um an ein (un)gewisses Ziel zu kommen.
Aber was soll das sein, dieses Ziel? Russlands Ruin? Der militärische Sieg der Ukraine? Unabhängigkeit? Von wem? Wovon? Es ist ein Märchen – nein, eine Lüge – zu behaupten, das Leben könnte ohne Abhängigkeiten funktionieren. Jeder ist abhängig, immer. Von anderen Menschen, Institutionen, sozialen Gruppen. Auch Staaten sind abhängig. Woher kommt die irrige Annahme, ein Land könne sich unabhängig von anderen Ländern machen? Und wozu sollte das gut sein?
Der Bäcker meiner Wahl
Das simple Prinzip des menschlichen Zusammenlebens ist es, Ideen und Dinge auszutauschen. Ein Land hat Gas, ein anderes braucht es. Man einigt sich, schließt Verträge, befruchtet sich gegenseitig. Das ist keine Zauberei, es ist vernünftig. Wenn ich ein Brot bei einem Bäcker kaufe, erfahre ich normalerweise nichts über seine Beziehung zum Brot, zu anderen Ländern, zu seiner politischen Einstellung. Es würde mich auch nicht weiterbringen, wenn ich derlei wüsste. Vielleicht erfahre ich bei einem Gespräch über die Ladentheke, dass der Bäcker politisch meilenweit von meinen Überzeugungen entfernt ist. Ich könnte – nur deshalb – zu einem anderen Bäcker gehen. Doch womöglich lebe ich auf dem Land, der nächste Bäcker ist nur mühselig zu erreichen, außerdem ist das Brot dort nicht halb so gut wie das bei meinem alten Bäcker. Es ist außerdem teurer. Und selbst, wenn ich all das in Kauf nehme, stelle ich womöglich fest, dass die politischen Überzeugungen meines neuen Bäckers auch nicht besser sind als die des alten, vielleicht sogar noch weiter entfernt von meinen.
Kein Grund für Opferbereitschaft
Ja, ich bin kriegsmüde. Schon mein Leben lang bin ich kriegsmüde. Nicht, weil ich selbst einen erlebt hätte, aber wie könnte irgendein Krieg das Gegenteil von Kriegsmüdigkeit bewirken? Vermutlich ist jeder Soldat kriegsmüde, sobald die erste Schlacht beginnt. Es sind andere, die von ihm erwarten, er möge diese Müdigkeit ablegen. Denn er kämpft ja nicht für sich, er kämpft für die, die ihm das Recht auf seine Kriegsmüdigkeit absprechen. Sie treiben ihn an, setzen ihn unter Druck, verurteilen ihn, wenn er nicht ständig wach und bereit ist, den langen Krieg zu kämpfen.
Ich kann auch keinen Grund für Opferbereitschaft erkennen. Was soll ich opfern? Für wen? Was habe ich mit der Ukraine zu tun? Was ich sehe, höre, lese, vermittelt mir nicht das Gefühl, es mit vielen Seelenverwandten in Kiew zu tun zu haben. Im Gegenteil, die politische Entwicklung des Landes ist zum größten Teil von außen bestimmt und beeinflusst. Schon die Maidan-Proteste wurden mir schnell unheimlich. Sie waren für mein Empfinden nicht authentisch, nicht natürlich gewachsen, sondern konstruiert und manipuliert. Später wurden meine Befürchtungen bestätigt. Da war aber längst eine Regierung an die Macht gekommen, die keineswegs "frei gewählt", sondern mit Gewalt installiert wurde.
Also: Warum Opferbereitschaft? Warum von mir gegenüber der Ukraine? Ich kann nicht erkennen, dass dieses Land unsere Freiheit verteidigt, unsere Werte oder die Menschenrechte. Ich kann die Freiheit, die Werte und die Menschenrechte ja nicht einmal hier, in dem Land, in dem ich lebe, unbeschädigt erkennen. Ich misstraue unseren politischen Führern, ich misstraue ihnen zutiefst. Wie kann ich jenen vertrauen, denen diese Politiker vertrauen, denen ich selbst keinen Meter über den Weg traue? Das ergibt keinen Sinn.
Kriegsmüdigkeit mit Tradition
Kriegsmüdigkeit war schon im Ersten Weltkrieg das Mittel der Propaganda. Auch im Zweiten Weltkrieg war das so. In allen danach folgenden Konflikten war es auch nicht anders. Wir erinnern uns doch noch an die "Brutkastenlüge" und an die vermeintlichen "Massenvernichtungswaffen" im Irak, die es nie gab. Wir erinnern uns an die Feindbilder, die uns täglich um die Ohren gehauen wurden. Es ist heute wieder so. Der Feind ist der Russe, er wird von oben bis unten und von innen nach außen neu vermessen, die Maßeinheit wurde in Hass und Russophobie festgelegt.
Und es funktioniert schon wieder. Die Massen sind träge, sie sind leicht beeinflussbar, man muss ihr nur jeden Tag die gleiche Geschichte erzählen, immer und immer wieder. Sie saugen das auf wie ein Schwamm, sie wollen es so, auch weil sie zu bequem oder zu unbedarft sind, die Geschichte zu hinterfragen. Irgendwann kann man dann in den Erzählungen auch gänzlich auf Fakten und Belege verzichten. All das wurde längst unschädlich gemacht. Wenn Belege und historische Wahrheiten nichts mehr zählen, wird das Märchen zur Wahrheit.
Zur heutigen "Wahrheit" gehört sogar auch die Verurteilung von Kriegsmüdigkeit. Und die Forderung nach Opferbereitschaft gehört dazu. Ich empfinde beides als Erzählungen, die durch ihre Wiederholungen nicht "wahrer" werden, sondern sich mehr und mehr als Märchen entpuppen.
Ja, ich bin kriegsmüde. Schon mein Leben lang. Und seit einem halben Jahr in einer neuen, bisher nicht gekannten Form. Ich bin müde, immer die gleichen Stimmen zu hören, die immer das Gleiche erzählen und dabei schmale Rinnsale aus Blut an ihren Mundwinkeln zeigen könnten, wenn ich ganz genau hinsehe. Doch es scheint kaum jemand außer mir zu sehen, nicht hinreichend viele jedenfalls.
Ich warte auf die politischen Anführer, die sich reif und erwachsen verhalten, die dem Konflikt Einhalt gebieten und die Richtung einer Einigung ansteuern. Ich hoffe auf die Diplomaten, die diese Kunst tatsächlich beherrschen und zur Vermittlung bereit und in der Lage sind. Ich wünsche mir, dass jene bestraft werden, die den Krieg weiterführen wollen und weitere Opfer zu beklagen bereit sind. Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie den Kriegstreibern ein Prozess gemacht wird, der Prozess nämlich wegen unzähliger Toter, die zu vermeiden und zu verhindern gewesen wären, wenn man das nur gewollt hätte.
Mir ist jeder Mensch suspekt, der von sich behauptet, nicht kriegsmüde zu sein.
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