Eine Analyse von Kirill Teremetski
Wir sind Zeugen einer Kollision zwischen der osteuropäischen Realpolitik auf der einen Seite, deren Anhänger sich noch an die Grundsätze von Hans Morgenthau über das Primat der nationalen Interessen erinnern; und der breiteren westlichen Ideologie und Politik auf der anderen Seite, mit ihren großen Hoffnungen und Illusionen, mit denen vorteilhafte bilaterale Beziehungen zu Gunsten politischer Agenden geopfert werden.
Am 21. August beglichen der ungarische Öl- und Gasriese MOL und die slowakische Slovnaft die Kosten für den Transit russischen Öls durch die Ukraine. Kiews UkrTransNafta wollte angeblich wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen keine Zahlungen mehr von der Moskauer Gazprombank akzeptieren. Die Unterbrechung des Transits durch die Druschba-Pipeline war ein weiterer Versuch, Druck auf Russland auszuüben – was ohne die Zustimmung der westlichen Partner der Ukraine in Brüssel und Washington nicht möglich gewesen wäre.
Aber warum zeigte sich Ungarn bereit, im Notfall selbst nach Wegen zu suchen um russische Energieressourcen zu bezahlen und damit gegen die Sanktionspolitik der EU zu verstoßen? Und warum reiste der ungarische Außenminister Péter Szijjártó Ende Juli nach Moskau, um mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow über zusätzliche Gaslieferungen zu sprechen?
Trotz der Abkühlung der ungarisch-ukrainischen Beziehungen nach 2014 und des Mangels an offizieller Unterstützung aus Budapest für die Kiewer Regierung, hat das ungarische Öl- und Gasunternehmen MOL 300.000 Euro in die Ukraine überwiesen und Spezialausrüstung im Wert von 50.000 Euro geliefert, um das ukrainische Gastransportsystem auch während der russischen Militäroperation am Laufen zu halten.
Ungarn zeigt sich deshalb besorgt über die Zuverlässigkeit der Energietransporte aus der Ukraine, weil das Land zu 60 Prozent von russischem Öl – weitere 16 Prozent kommen aus Kasachstan, für das aber ebenfalls die Druschba-Pipeline benutzt wird – und zu 85 Prozent von russischem Gas abhängig ist.
Dank stabiler und pragmatischer bilateraler Beziehungen zwischen Moskau und Budapest, wurden langfristige Verträge abgeschlossen, die es dem Land ermöglichen, Energieressourcen zu einem fünfmal niedrigeren Preis zu kaufen, als der breitere europäische Markt.
Das 2014 zwischen Rosatom und der ungarischen MVM unterzeichnete 10-Milliarden-Dollar-Projekt, zum Bau von zwei Blöcken des Kernkraftwerks Paks, das trotz eines schwierigen politischen Umfelds erfolgreich realisiert wurde, ermöglicht es Ungarn, dank günstigem Strom, ein attraktives Land für Großunternehmen und ausländische Investitionen zu bleiben.
All dies hilft der regierenden Koalition Fidesz-CDPP von Viktor Orbán, Versprechen in Form von relativ niedrigen Benzin- und Gaspreisen sowie niedrigeren Stromtarifen gegenüber den Wählern abzugeben und auch einzuhalten. Die Koalition ist auch in der Lage, jeweils vor den Wahlen populistische Maßnahmen, wie das dreizehnte Monatsgehalt oder zusätzliche Sozialzahlungen, einzusetzen und die öffentliche Meinung über die Medien und Studenteneinrichtungen zu beeinflussen.
MOL wird seinen Aktionären in diesem Jahr eine Dividende von 652 Millionen US-Dollar auszahlen. Einige der Begünstigten Anteilseigner mit 30,5 Prozent Anteilen sind nominell nichtstaatliche Stiftungen, die Bildungseinrichtungen wie die Corvinus-Universität in Budapest und das Mathias Corvinus Collegium finanzieren. Dies hilft der Regierungspartei, die Meinung über die in Ungarn stattfindenden politischen Prozesse unter den Studenten zu beeinflussen.
Gleichzeitig diversifiziert Budapest seinen Energiesektor und versucht, seine Abhängigkeit von russischen Rohstoffen schrittweise zu verringern. Budapest kauft verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Kroatien, beteiligt sich an Gasprojekten in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Oman und hat eine strategische Partnerschaftsvereinbarung mit ExxonMobil. Der ungarische Betreiber FGSZ und das serbische Unternehmen Srbijagas haben am 5. Juli 2021 eine Verbindungsleitung an der Grenze zwischen beiden Ländern fertiggestellt – für Lieferungen über den Turkish Stream, sodass die ungarische Regierung ab 2023 Erdgas aus Aserbaidschan kaufen kann. Ungarn importiert Öl auch aus dem Irak und Iran und kooperiert in diesem Sektor mit Kuwait und Bahrain, während gleichzeitig eigene Erdölfelder in der Region Baranya erschlossen werden.
Am 18. Mai stellte die Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, einen Plan zur Abkehr von russischer Energie mit dem Namen REPowerEU vor. Bis zu 300 Milliarden Euro sollen für die Modernisierung des Energiesektors der EU bereitgestellt werden. Die ungarische Seite hingegen legte ihr Veto gegen das sechste Sanktionspaket gegen Russland ein, das zunächst ein vollständiges Embargo russischer Energieimporte vorsah. Laut dem ungarischen Außenminister Szijjártó würden bis zu 18 Milliarden Euro benötigt, um die Öl- und Gasindustrie des Landes zu modernisieren und neu auszurichten.
Szijjártó hat wiederholt erklärt, dass Ungarn seit der Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland im Jahr 2014 bereits mehr als 10 Milliarden Euro verloren habe. Wenn die EU das sechste Sanktionspaket vollständig verabschiedet hätte, wäre das, wie Orbán es ausdrückte, ein "nuklearer Schlag" gegen die ungarische Wirtschaft gewesen. Die Benzinpreise im Land hätten sich seiner Meinung nach mindestens verdoppelt. Daher wurden Ungarn und einzelnen Staaten in Zentral- und Osteuropa bis 2024 Erleichterungen in Form einer Verschiebung des Embargos für Öl- und Gas aus Russland gewährt.
Im Jahr 2017, als die Diskussionen rund um Nord Stream 1 in Fahrt kamen, beklagte sich Orbán über westliche Länder der EU – insbesondere über Deutschland –, die durch Nord Stream 1 bereits mit russischem Gas versorgt waren, während Budapest keine Garantien für eine unterbrechungsfreie Versorgung hatte. Denn es war schon damals kaum umstritten zu behaupten, dass die Ukraine nicht das zuverlässigste Transitland ist. In diesem Zusammenhang unterstützte der Ministerpräsident aktiv das Projekt Turkish Stream.
Am 21. Mai dieses Jahres fragte Szijjártó während einer Pressekonferenz rhetorisch, warum kein Embargo für Offshore-Öllieferungen aus Russland verhängt wird. Schließlich hat Ungarn im Gegensatz zu den meisten Ländern, die diese Sanktionen gegen Russland weit aktiver unterstützen, keinen Zugang zum Meer, es bezieht seine Energie ausschliesslich auf dem Landweg. Damit tadelte der Außenminister seine westlichen EU-Genossen erneut scharf und warf ihnen zudem vor, zweierlei Maß anzuwenden.
Die Haltung in Budapest irritiert die Europäische Kommission, die bereits die ungarische Regierung und Orbán persönlich beschuldigt hat, die Einheit der Union während der Flüchtlingskrise untergraben zu haben. Eurokraten haben zudem Ungarn für ein hohes Maß an Korruption und die Schließung "freier" Medien kritisiert und gleichzeitig wiederholt damit gedroht, dem Land die Mittel aus dem Stabilisierungsfonds der EU zu kürzen. Darüber hinaus unterstützt Budapest nicht den Wunsch der EU, die Ukraine zu bewaffnen und gestattet keine Lieferung von militärischer Ausrüstung durch ungarisches Territorium nach Transkarpatien.
Die EU muss jetzt entweder eine Ausnahme für Ungarn erteilen und anschließend den Bezug russischer Energie bis zum Auslaufen der Verträge zulassen. Sie muss am Ende dieser Frist dann erneut mit Budapest verhandeln und gleichzeitig Ungarn schrittweise in die neu entstehende Energieinfrastruktur einbinden. Oder aber sie wird jenen Geldbetrag zahlen müssen, den Budapest für die Modernisierung seines Energiesektors veranschlagt hat; zusätzlich zu dem Geld, das Ungarn nicht erhalten hat, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzufedern.
Natürlich könnte Brüssel, aufgrund der Dringlichkeit der Umstände, in Zukunft über ein neues Sanktionspaket entscheiden, ohne die Meinung in Budapest zu berücksichtigen. Aber dann muss die EU mit einem neuen Austritt rechnen. Wobei Analysten einen möglichen Austritt Ungarns aus der EU seit langem schon voraussehen – was unter den gegenwärtigen Umständen für die herrschenden Kreise in der EU absolut inakzeptabel wäre.
Die Beziehung zwischen dem offiziellen Brüssel und Viktor Orbán deutet darauf hin, dass die ungarische Regierung weiterhin eine harte Linie gegen ein Embargo auf russisches Öl und Gas verfolgen wird. Klar ist, dass Ungarn von niemandem Anweisungen zu seinem Nachteil entgegennehmen wird. Für die Regierung von Orbán steht das ungarische Volk und die ungarische Wirtschaft an erster Stelle – und nicht die Befindlichkeiten in Brüssel oder in Washington oder eine paneuropäische Ideologie.
Die ungarische Regierung verfolgt in ihrer Außenpolitik Pragmatismus und ist bereit, ihre Position auf der internationalen Bühne zu verteidigen. Ungarn gibt sich nur mit Win-Win-Projekten zufrieden, wie dem Wiederaufbau der Eisenbahnstrecke zwischen Belgrad und Budapest, um die Lieferung chinesischer Waren aus dem griechischen Hafen Piräus zu beschleunigen. China übernimmt alle Kosten für diesen Teil seiner "neuen Seidenstraße" und die ungarische Regierung fördert die Initiative innerhalb der EU.
Der Plan der Europäischen Kommission, sich von russischen Energieträgern zu lösen. Die Entwicklungen in der Ukraine. Polens Wunsch, die Agenda in der EU zu beeinflussen. Und Washingtons Traum, die Abhängigkeit der EU von seinen eigenen Energieträgern zu erhöhen. All diese Faktoren könnten die Entwicklung der "Drei-Meere-Initiative" (TSI) aus dem Jahr 2016 beschleunigen, der 12 Länder angehören, darunter auch Ungarn. Bei diesem Projekt soll LNG – und später auch Öl und künftig norwegisches Gas – aus den USA über Offshore-Terminals vor den Küsten Polens und Kroatiens transportiert werden, wobei die ersten Lieferungen nach Polen, über die neue Pipeline Baltic Pipe aus Norwegen, für kommenden Oktober geplant sind.
Es lohnt sich, die Entwicklungen in der Drei-Meere-Initiative im Auge zu behalten, da Polen bereits Erfahrung im An- und Verkauf von amerikanischem LNG hat und Kroatien es seit 2021 an Ungarn und andere Länder weiterverkauft. Im vergangenen Mai haben die polnischen Behörden beschlossen, das 1993 geschlossene zwischenstaatliche Abkommen mit Russland über Gaslieferungen über die Jamal-Pipeline zu kündigen. Und tatsächlich ist das amerikanisch-polnische Projekt bereits in vollem Gange. Mit angemessener Finanzierung und politischem Willen seitens der EU könnte das Netzwerk der Infrastruktur der TSI in den nächsten Jahren erfolgreich fertiggestellt werden.
Ungarn ist bei Weitem kein Verbündeter Russlands, aber ein konsequenter und vernünftiger Geschäftspartner. Es gibt nur noch wenige solcher Staaten in Europa. Unter den gegenwärtigen Umständen sind Arbeitskontakte mit der ungarischen Seite erforderlich, bezüglich einer möglichen Verlängerung der Energielieferverträge, so dass jeder REPowerEU-Vorschlag der EU völlig unrentabel erscheinen wird. Das Treffen im vergangenen Juli zwischen Szijjártó und Lawrow beweist, dass die Kommunikationskanäle zwischen beiden Ländern etabliert sind, dass man sich versteht und gegenseitig zuhört.
Mehr zum Thema - Gegenentwurf zur EU: Der eurasische Kontinent und das Konzept souveräner Nationalstaaten
Übersetzung aus dem Englischen.
Kirill Teremetski ist Experte beim russischen Rat für internationale Angelegenheiten und ehemaliger Diplomat