von Daniele Pozzati
"Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist", ist ein berühmtes Zitat aus dem italienischen Roman Il Gattopardo ("Der Leopard"), dem Meisterwerk von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Das ist ein in Italien oft wiederholtes Zitat, weil es seit Langem so aufschlussreich bezüglich der italienischen Politik ist. Es erläutert zum Beispiel, warum es so viele Regierungen in Italien gab, und doch so wenig Veränderung.
Unterdessen laufen die Verhandlungen weiter. Die Fünf-Sterne-Bewegung könnte schon wieder auseinanderbrechen. Und ein ausreichend großes Fragment davon würde Draghi das Vertrauensvotum aussprechen. Der ehemalige Premier Conte hat als Vorsitzender der Fünf-Sterne-Bewegung (oder was davon bleibt) diese Krise ausgelöst. Die Ironie dabei: auch Conte wurde von einem ehemaligen Ministerpräsidenten verdrängt. Damals, Anfang 2021, war es Renzi, der Draghi den Weg zur Regierung ebnete.
Inzwischen wurde die Komödie um eine neue Folge bereichert: 1000 Bürgermeister Italiens appellieren an Draghi umzudenken – gemeinsam mit den Medien und den internationalen Machthabern (also den USA und der EU). Draghi ist jedoch seit mehr als 30 Jahren auf der politischen Bühne, erst auf der italienischen, dann auf der europäischen. Er war einer der ersten Banker, der die italienische Wirtschaftspolitik stark beeinflusst hat.
Und an scharfer Kritik für seine Arbeit hat es nie gemangelt: von vile affarista ("Feiger Geschäftsmann") über Affamatore die greci ("Hungerprediger der Griechen") für seine Rolle als EZB Chef während der griechischen Staatsschuldenkrise; bis hin zu Draghistan, dem Schimpfnamen seiner Regierung, nachdem Italien das einzige westliche Land war, das eine 2G-Regel am Arbeitsplatz für über Fünfzigjährige eigeführt hatte – ähnlich wie nur in Turkmenistan und den Arabischen Emiraten.
"Der feige Geschäftsmann"
So nannte ihn schon das ehemalige (1985-1992) Staatsoberhaupt Italiens Francesco Cossiga im Jahr 2008 in der Fernsehsendung UNO Mattina. Als man ihn fragte, was er über Mario Draghi als nächsten Ministerpräsidenten denke, antwortete Cossiga mit den folgenden Worten, die in Italien sofort viral gingen und bis heute jedem bekannt sind:
"Man dürfte niemanden zum Ministerpräsidenten ernennen, der Partner von Goldman Sachs – einer der größten Investmentbanken der Welt – war". Dieser Ansicht fügte er noch hinzu: "Draghi ist der Liquidator der öffentlichen Wirtschaft Italiens. Eigentlich hat er sich sogar für ihren Ausverkauf eingesetzt, als er Generaldirektor des Finanzministeriums war."
Cossiga bezog sich dabei auf ein Ereignis von 1992, über welches in Italien immer noch viel diskutiert wird: auf die Ankunft der königlichen Jacht "Britannia" an den italienischen Küsten. An Bord der Luxusjacht fand eine Privatisierungskonferenz statt. Die Organisatoren waren British Invisibles – als diefinanzielle Interessenvertretung der City of London. Dort hielt Draghi einen Vortrag zum Thema "Privatisierung der italienischen Wirtschaft", was viele Kritiker bis heute als den Beginn vom "Ausverkauf Italiens" sehen.
Autopiloten und Fährmänner
Mario Draghi wurde am 13.2.2021 Ministerpräsident. Und zwar im Auftrag der EU. Niemand hatte ausgerechnet ihn demokratisch gewählt – wie schon bei fast allen sogenannten governi tecnici ("technischen Regierungen") zuvor, die seit 2011 in Italien gekommen und gegangen sind.
In Italien spricht man diesbezüglich von vincolo esterno ("externer Vinkulation") und pilota automatico ("Autopilot"). Kritiker sehen das Ganze als die Entleerung der Souveränität Italiens innerhalb der Eurozone. Der Begriff "Autopilot" bedeutet, dass die Regierung – egal, wer die Wahl gewinnt – die von der EU geforderten Reformen durchführen muss, vor allem in Bezug auf das Haushaltsgesetz und die Staatsschuldenquote. Draghi selbst hat den "Autopiloten" mehrmals erwähnt, als er zwischen 2011 und 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank war. Als er zum Beispiel sagte:
"Die Märkte haben keine Angst vor den Wahlen, die Reformen laufen 'auf Autopilot'".
Das ist der Kontext, in den die Draghi-Regierung, seine persönliche aktuelle Krise und die kommenden "Alternativen", die es nicht gibt, gehören: Eine Regierung der Banker, mit Hilfe der Banker und für die Banken. Also müsste die Antwort auf die Frage, was jetzt auf Italien zukommt, lauten: Jemand, dem der italienischen Staatsoberhaupt Sergio Mattarella vertrauen und zutrauen wird, den Autopilot einzusetzen. Einen Namen dafür gäbe es schon: den des amtierenden Finanzministers Daniele Franco. Da die aktuelle Legislaturperiode im März 2023 ausläuft, nennt man solch einen zwischenzeitlichen Regierungschef in Italien traditionell traghettatore ["den Fährmann"].
Die autoritäre Versuchung
Ist es also ein Wunder, dass die italienischen Pro-EU-Medien bereits Ende 2021 das ultimative Overton-Fenster geöffnet hatten? Über die Möglichkeit, dass Draghi dauerhaft Ministerpräsident bleibt und man gar nicht mehr wählen gehen muss? Wozu überhaupt noch wählen gehen, wenn es einen solchen Autopiloten gibt?
Die Gelegenheit dazu kam im Januar 2022, und zwar mit der parlamentarischen Wahl des Präsidenten der Republik – des Staatsoberhaupts Italiens. Draghi wollte gern der Nachfolger vom Präsidenten Sergio Mattarella werden. Gleichzeitig hatte er vor, weiterhin irgendwie als Ministerpräsident zu agieren. Am 28.12.2021 schrieb Italiens zweitgrößte Tageszeitung La Repubblica:
"Draghi als Staatsoberhaupt würde ein Verbiegen präsidialer Befugnisse implizieren, ohne die er nicht in der ihm geistesverwandten prägnanten Weise agieren könnte."
Diese ungelenke Formulierung bedeutet im Klartext: die Verfassung geeignet anzupassen, um Draghi die Möglichkeit zu geben, nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt weiter auch noch als Regierungschef agieren zu können. Von Draghi selbst kam keine Leugnung, und der Artikel von La Repubblica löste auch keinen Skandal aus. Weimar 2.0.? Eher eine Parodie dessen.
Eine bittere Niederlage
Denn Draghi hat überhaupt kein Gefühl für politische Verhandlungen und konnte die kommende, demütigende Niederlage nicht sehen. Wie jetzt eben. Er hätte sofort bestreiten müssen, dass er als Staatsoberhaupt niemals versucht hätte, auch als Regierungschef weiter zu agieren. Aber das hätte vielleicht zu viel Fingerspitzengefühl seinerseits erfordert.
Lega-Chef Matteo Salvini und Fratelli d‘Italia-Chefin Giorgia Meloni wollten eine Präsidentin, Italiens erste Präsidentin wählen. Dies hätte Salvini und Meloni gelingen können, wären da nicht die Parlamentarierinnen von Berlusconis Forza Italia Partei gewesen, die die Kandidatin Maria Elisabetta Alberti Casellati während des fünften Wahlgangs boykottierten.
Mattarella war bereit für den Umzug und hatte für sich schon ein neues Zuhause mit "drei Fenstern und einem kleinen Balkon" im Rom Stadtzentrum gefunden, nur zwei Minuten zu Fuß von der schönen Parkanlage Villa Borghese entfernt. Gerüchten zufolge, die jetzt in Rom kursieren, hatte Mattarella bereits Draghi sein Wort gegeben, nie eine zweite Amtszeit anzunehmen, und hätte ihm wohl auch geholfen, die Wahl zu gewinnen. Das erste Gerücht mag stimmen, aber das zweite klingt ziemlich unwahrscheinlich.
Die Wahl des neuen Präsidenten fand zwischen dem 24. und dem 29. Januar statt. Es gab insgesamt acht Wahlgänge. Da erlitt Draghi einen bitteren, demütigenden Niedergang. Die Stimmenanzahlen, die Draghi bekam, lauteten: 1 – 4 – 5 – 5 – 3 – 5 – 2 – 5. Wie hätte Mattarella da Draghi noch "helfen" können? Mattarella gewann stattdessen seine zweite Amtszeit. Das ist der Hintergrund zu Draghis jetzigem Rücktritt.
"Draghis technokratischer Traum ist zerplatzt"
In derselben Weise wie sein Vorgänger Conte – nur noch schlimmer – hat Draghi das Parlament stets umgangen und Gesetze per Dekret erlassen, die oft durch ein Vertrauensvotum untermauert wurden. Sogar bei Regierungssitzungen schien Draghi oft zum Diktat zu neigen, anstatt seine Entscheidungen mit den Koalitionsparteien zu diskutieren.
Und in der Vertrauensfrage über noch ein weiteres Gesetzesdekret haben die Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung, die Draghi im Januar den Rücken gekehrt hatten, ihn diesmal zum Rücktritt als Ministerpräsident gedrängt. Die Draghi-Regierung wurde vom Präsidenten Mattarella ausdrücklich gewünscht:
"Italien braucht eine hochkarätige Regierung", sagte Mattarella nach der Einsetzung Draghis, "der sich mit keiner politischen Formel identifizieren muss."
Doch jetzt hat sich für Draghi genau das ergeben: die Notwendigkeit, seiner Regierung eine politische Dimension zu geben, zum Beispiel im Sinne einer Vereinbarung mit den Koalitionsparteien, angefangen mit der Fünf-Sterne-Bewegung.
Dies jedoch möchte Draghi nicht. Er wollte zwar regieren, jedoch ohne jegliche politische Erfahrung und Neigung. Und ohne dadurch ein Politiker zu werden. Für ihn gilt noch immer der Autopilot der EU. So wie die Märkte "keine Angst vor den Wahlen haben", hat Draghi keine Lust auf parlamentarische Diskussionen.
Draghi sah immer das Amt des Ministerpräsidenten vor allem als ein geegnetes Mittel, um am Ende ein höheres und noch begehrteres Amt zu erreichen – das Amt des Präsidenten der Republik. Seit es Draghi Ende Januar nicht gelang, Italiens Präsident zu werden, wirkte er zunehmend demotiviert, geschwächt und verwirrt. Und offenbar hat ihn die zweite Amtszeit Mattarellas (nun bis ins Jahr 2029) schon irritiert.
"Draghis technokratischer Traum ist zerplatzt", schrieb Marco Risé am 17. Juli in der Tageszeitung La Verità: "Der Rückzug des Bankiers zeigt, wie schwierig es ist, technische Bewertungen mit politischen Entscheidungen in Einklang zu bringen. Von den Bürokraten unterschätzt, aber entscheidend für den Machterhalt."
Gleichgültigkeit der Italiener
Last, but not least, das italienische Volk. Es spielt seit Jahren keine große Rolle mehr bei diesen Sachen, dank des EU-Autopiloten. Und doch: wie ist die Stimmung im Land? Wenn man ehrlich sein muss, scheinen die Italiener an der Regierungskrise nicht besonders interessiert zu sein. Dies ist den italienischen Medien auch schon aufgefallen: über das Wochenende gab es in den Schlagzeilen keinerlei Spannung mehr zu spüren.
Es gibt ja einige leicht zu erratende Gründe dafür: Regierungskrisen sind ja durchaus üblich in Italien; und man ahnt, dass es schon wieder ein Fall dafür ist – wie man auf Italienisch sagt – dass "sich alles ändern muss, damit alles so bleibt, wie es vorher war". Aber es ist 2022, das dritte Jahr des "pandemischen Zeitalters". Und der Wunsch, zur Normalität zurückzukehren, führt dazu, dass die Italiener die Ungeheuerlichkeit des kommenden Herbstes nicht wahrnehmen.
Und wie die Deutschen erleben auch die Italiener "den Moment der Müdigkeit" bezüglich des Ukraine-Konflikts. Dasselbe gilt für die vierte Impfdosis, für den kommenden Stromausfall, die steigenden Gas-Preise, die damit verbundene Inflation und so weiter.
Eines ist Draghi bestimmt nicht gelungen: die Russland-Hetze in Italien zu verbreitern. Einer Umfrage der European Council on Foreign Relations zufolge halten nur die 56 Prozent der Italiener Russland für den Konflikt für schuldig. "Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern", berichtete am 15. Juni Italiens größte Tageszeitung Corriere della Sera, "gibt es in Italien den geringsten Anteil an Russlandkritikern".
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