Scholz, Kiew und eine Zugfahrt ohne erhoffte Bedeutung

Die Reise von Olaf Scholz nach Kiew war das Hauptereignis diese Woche. Oder war sie das doch nicht, obwohl der Ärmste per Zug anreisen musste und sogar einen Luftalarm hörte? In Wirklichkeit spielte die Musik nicht auf dieser Kiewer Inszenierung, sondern ganz woanders.

von Dagmar Henn

Bundeskanzler Olaf Scholz war jetzt also in der Ukraine. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) machte daraus gleich eine Heldengeschichte, weil die Anfahrt ab der polnisch-ukrainischen Grenze mit dem Zug zurückgelegt werden musste: "Der besonderen Umstände wegen reist der Kanzler mit kleiner Mannschaft, was es notwendig macht, dass sein Staatssekretär Jörg Kukies und sein außenpolitischer Berater Jens Plötner erst einmal eigenhändig zwei Kisten mit Proviant in den Waggon wuchten."

Natürlich ist der Berichterstatter unzufrieden mit der zögerlichen Kriegslaune des Trios aus Scholz, dem französischen Präsidenten Macron und dem italienischen Mario Draghi. Die "Nachzügler" könnten nur darauf hoffen, dass "über ihr spätes Kommen" deshalb höflich hinweggesehen werde, weil sie die drei größten Mitgliedsländer der EU vertreten.

Und es wird eine hübsche dramatische Geschichte konstruiert, sowohl über den vorhergehenden Besuch von Scholz in Kiew, gefolgt von seinem Besuch in Moskau (richtig, dem mit dem Lacher beim Stichwort "Genozid"), zu dem es jetzt heißt: "Scholz musste damals erkennen, dass es nichts, gar nichts gibt, was er tun oder sagen könnte, um diesen Krieg aufzuhalten." Das ist natürlich gelogen; und wie sehr, hat ausgerechnet der ukrainische Expräsident Petro Poroschenko ausgeplappert, indem er öffentlich erklärte, das Minsker Abkommen habe schließlich nur dem Zweck gedient, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine weiter aufzurüsten. Was bekanntlich auch von der vergangenen Bundesregierung, der Scholz zufällig ebenfalls angehörte, gebilligt wurde, weil man jeden erdenklichen Schritt unterließ, um die ukrainische Regierung zu einer Umsetzung des Abkommens zu zwingen.

Auf jeden Fall bringt Scholz ein Gastgeschenk mit, diesmal die Zustimmung dieser drei Regierungschefs, der Ukraine den Status eines Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft zu gewähren zu wollen. Wofür man sich nichts kaufen kann, das dürfte der türkische Präsident Erdoğan bestätigen können. Aber mit der Ukraine ist bekanntlich alles anders, in diesem Fall kann man sich nicht wirklich darauf verlassen, dass die EU sie am langen Arm verhungern lässt. Doch vielleicht löst sich das Problem ja auch anders, schlicht durch ein Zerbrechen der EU.

Der Schreiber für die Süddeutsche hätte gerne mehr schwere Waffen für die Ukraine. Und gibt, das ist schon fast die Norm, eine höchst empathische Schilderung des Vororts Irpin, den das Trio besucht: "Wo einst Fenster waren, klaffen schwarze Löcher." Scholz liefert auch die erwartete Betroffenheits-Mimik: "Es ist furchtbar, was dieser Krieg an Zerstörung anrichtet. Es ist umso schlimmer, wenn man sieht, wie furchtbar sinnlos diese Gewalt ist, die wir hier sehen." Wäre auch nur einer der drei Reisenden in den vergangenen acht Jahren in den Donbass gekommen, da hätten sie die gleichen Bilder vorfinden können, zahlreicher und auf weit größerer Fläche; aber das gilt Scholz vermutlich als "sinnvolle Gewalt".

Und weiter geht es mit Worthülsen und pathetischen Schilderungen. Scholz: das sage "sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist". Die ukrainischen Grad-Raketen, die über Donezk niedergehen, sind vermutlich eher Liebkosungen.

In Kiew "durchschneiden aus der Ferne Sirenen die Idylle". Wie tapfer, dass Scholz in diesem fernen Garten sitzt. Schließlich hat er als Europäer ein anderes Verhältnis zum Tod als diese russischen Kinder in Städten wie Gorlowka, die mit ihrer nächtlichen Flucht in die Keller aufgewachsen sind.

Scholz jedenfalls bedient das militante Streben der Süddeutschen, indem er zum Abschluss seiner Rede den Gruß der ukrainischen Faschisten in den Mund nimmt. Nur, dass er nicht von einem Sieg der Ukraine redet und dass er sogar erkennen lässt, er wolle doch irgendwie keinen Atomkrieg, das nimmt ihm der Autor übel. Er hätte vermutlich an Stelle von Scholz gerne eine dieser Arno-Breker-Gestalten: glatt, kalt, heroisch und geistlos; aber immerhin, da ist ja der Kandidatenstatus.

Selbstverständlich ändert auch dieser Gruppenausflug nach Kiew nichts an der Sachlage. Die wird auch nicht von den Waffen entschieden, die die drei Herren womöglich noch hinterherwerfen. Sie mögen sich weigern, zur Kenntnis zu nehmen, dass schon die bereits gelieferten Waffen zur weiteren Terrorisierung der Bevölkerung im Donbass eingesetzt werden. Aber sie werden nicht umhinkönnen, zur Kenntnis zu nehmen, wenn die Ukraine die militärische Auseinandersetzung verloren hat.

Wie gut die Tatsache der Zugfahrt mit dem Inhalt dieses Treffens harmonisiert, entging dem SZ-Reporter natürlich. Wenn man eine Politik betreibt, die Europa ins 19. Jahrhundert zurückstürzt, ist es nur angemessen, sich in der Art des 19. Jahrhunderts zu bewegen. In Deutschland findet ja mittlerweile eine Debatte darüber statt, ob die Wohnungen im kommenden Winter nur noch auf 18 Grad am Tag und 16 Grad in der Nacht beheizt werden sollen. Das "Frieren für die Ukraine" beginnt, konkrete Formen anzunehmen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck denkt jedenfalls schon über gesetzliche Energiesparzwänge nach, und man kann sich bereits ausmalen, wie im nächsten Winter die Polizei ausgeschickt wird, um die Zimmertemperaturen zu messen.

Währenddessen findet in Sankt Petersburg ein Treffen statt, das Internationale Wirtschaftsforum, zu dem, ganz dem 21. Jahrhundert gemäß, mit dem Flugzeug angereist wird, und auf dem sich Vertreter Dutzender Nationen begegnen; eine Veranstaltung, die von der deutschen Presse mit Formulierungen kommentiert wird wie: "Wegen der Sanktionen hatten sich zahlreiche westliche Firmen, darunter deutsche Unternehmen, aus Russland verabschiedet. (…) Die Organisatoren des Wirtschaftsforums sprechen von Teilnehmern aus immerhin 115 Ländern in diesem Jahr. Im Rekordjahr 2020 waren es demnach 19.000 Teilnehmer aus 145 Staaten."

Die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP erklärte gar im Vorhinein, das Treffen habe ohnehin seine "Strahl- und Anziehungskraft" "seit Langem verloren". Eine Veranstaltung, an der der Westen diesmal nicht teilnehmen möchte, sei es auch gar nicht wert, wahrgenommen zu werden. Das geht natürlich völlig an den Tatsachen vorbei; es sind inzwischen andere Wirtschaftsverbindungen, die immer dichter werden, wozu der Westen mit seinen Sanktionen derzeit gerade entscheidend beiträgt, indem russisches Öl und Gas nun in den Süden und Osten umgelenkt wird.

Wer an dem Tag, an dem Olaf Scholz in Kiew war, eine global entscheidende Veranstaltung suchte, hätte seine eben nicht in Kiew, sondern in Sankt Petersburg enden lassen. Und das dürfte für die nähere Zukunft so ähnlich bleiben. Dass sich derzeit  – nicht nur entgegen den, sondern geradezu durch die westlichen Sanktionen – ein ganzer ökonomischer Block herausbildet, der auf eine wirtschaftliche Verflechtung mit dem Westen schlicht nicht mehr angewiesen ist, darf natürlich in dieser deutschen Presse keinen Wiederhall finden.

Nun, immerhin fand die Reise in diesem Jahr noch per Eisenbahnzug statt. Wer weiß, im kommenden Jahr bekommt man dann vielleicht die drei zu sehen, wie sie mit Kutschen in Kiew vorfahren, sofern sie dann noch bis Kiew durchkommen. Scholz, der in einem schwarzen Landauer hinter zwei Brauereipferden anreist, Draghi in einem von zwei Rappen gezogenen Nachbau einer römischen Reisekutsche, und Macron in Napoleons Hochzeitskutsche hinter zwei Schimmeln. Nur die Strecke, die sie in diesen Gefährten zurücklegen müssen, dürfte länger sein, sobald das Flugbenzin nicht mehr bis Warschau reicht.

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