von Wladislaw Sankin
Es gibt kaum mehr ein Problem auf der Welt, das westliche Politiker nicht dem russischen Präsidenten anlasten. Inflation, Preisanstieg, Migration und nun auch eine drohende Hungerkatastrophe. Angeblich blockiert Russland mehr als 23 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten in den ukrainischen Häfen. Laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen seien Lebensmittel zu einem "Teil des Terrorarsenals des Kremls" geworden.
Ähnlich äußerte sich EU-Ratschef Charles Michel: "Russland setzt Nahrungsmittel als Kriegswaffe ein, stiehlt Getreide, blockiert Häfen und verwandelt Ackerland in Schlachtfelder", sagte er vor dem EU-Parlament am Mittwoch. Die gleichen Vorwürfe erheben Annalena Baerbock und Olaf Scholz seit Wochen in Richtung Russland.
Diese Vorwürfe halten keiner Kritik stand. Und es geht jetzt nicht nur darum, dass nach UN-Angaben der Anteil des in der Ukraine mutmaßlich blockierten Getreides an der weltweiten Ernte mit 0,2 Prozent gering ist. Und auch nicht darum, dass diese im Stile der medial-psychologischen Kriegsführung erzeugte Krise viel eher einen Börsenaspekt aufweist, damit die USA als einer der wichtigsten Getreide-Exporteure die Weltpreise nach oben drücken können. Und das vor dem Hintergrund, dass Russland selbst an den Ausfuhren seiner landwirtschaftlichen Produkte durch westliche Blockaden und Sanktionen gehindert wird.
Es geht darum, dass die Ukraine möglicherweise blufft und in ihren Speichern weniger als angegeben bis gar kein Getreide hat. Die Aussagen des Generaldirektors des ukrainischen Bäckereiindustrieverbandes Ukrchlebprom, Alexander Wasylenko, die er am 11. Januar tätigte, geben Grund für derartige Spekulationen. Die massive Ausfuhr von Speiseweizen aus der Ukraine habe dazu geführt, dass die heimischen Brothersteller Mehl in der Türkei kaufen müssen, beklagte er, wobei das türkische Mehl "paradoxerweise" aus ukrainischem Weizen hergestellt worden sei.
Die Tatsache, dass die Ukraine es offenbar nicht eilig hat, die von Russland angebotene Vereinbarung zur Ausfuhr des Getreides über den grünen Seekorridor zu erzielen, erhärtet den Verdacht nur noch. Selbst der wirtschaftliche Anreiz, Millionen Tonnen von Getreide loszuwerden und dafür gute Steuererlöse für das notleidende Budget zu bekommen, scheint keine Rolle zu spielen. Die Getreideausfuhr ist nach Meinung Kiews eine starke Karte im Spiel um die Aufmerksamkeit des Westens, die man mit Skandalen und Vorwürfen aufrechterhalten werden kann.
"Wenn die Frage der Sicherheit unseres Landes nicht gelöst wird, wird kein Getreide irgendwo hingehen. Denn die Frage der Sicherheit steht für uns an erster Stelle", sagte der Sekretär des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates Andrei Danilow am Mittwoch im ukrainischen Fernsehen. Interesse sieht anders aus. Trotz Vermittlung eines NATO-Staates, der Türkei, zwischen Russland und der Ukraine in der Ausfuhr-Frage ist es wegen der Weigerung der Ukraine zu keiner Einigung gekommen.
Auch die Aussagen des Kiewer Juristen und Anti-Korruptions-Experten Wasili Wakarow sorgten diese Woche für Aufsehen. Die Ukraine habe schon im Februar ihr Getreide verkauft, sagte er im russischen Fernsehen mit Verweis auf Broker bei Getreidebörsen und sonstige Branchenkenner in Kiew, mit denen er sprach. Einige Getreideprodukte und Mais seien dabei derzeit auf dem Landweg unterwegs nach Europa.
Aber selbst wenn die Ukraine genug Getreide in ihren Speichern und Interesse an einer Ausfuhr hätte – die Entminung der von der Ukraine selbst verminten Gewässer, die die ukrainischen Häfen, einschließlich das von Russland kontrollierte Cherson, wie ein Gürtel überziehen, könnte noch mehrere Monate dauern. Dies berichtete Bloomberg am Mittwoch unter Berufung auf Peter Adams, Sonderberater für maritime Sicherheit der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO). In einem Interview sagte er:
"Selbst wenn die Häfen morgen öffnen wollten, würde es einige Zeit dauern, bis Schiffe einlaufen oder auslaufen könnten. Es würde mehrere Monate dauern, die Seeminen vollständig aus den Hafengebieten zu entfernen."
Wenn wir den westlichen Politikern also doch glauben, dass die Lebensmittel-Situation wegen des Kriegszustands im Schwarzmeerraum so dramatisch ist, dann scheint sie im derzeitigen Zustand ziemlich ausweglos zu sein.
Doch was wäre geschehen, wenn Russland und nicht die Ukraine zumindest das komplette ukrainische Schwarzmeergebiet kontrolliert hätte, so wie es das Land derzeit im kompletten Gebiet des Asowschen Meers tut? Dann würde Getreide bald unterwegs zu seinen Abnehmern sein.
So teilte am Dienstag der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu mit, dass die Seehäfen von Berdjansk und Mariupol bereits entmint seien. Sie seien bereit, die ersten Frachtschiffe zu empfangen und Getreide zu verladen.
Die russischen hohen Regierungsvertreter besuchen einer nach dem anderen die von Russland besetzten küstennahen Regionen Cherson und Saporoschje und versprechen lokalen Unternehmen staatliche Förderung und Integration in den russischen Markt.
Wie der lokale Agrarunternehmer und Ex-Abgeordnete der Regierungspartei "Diener des Volkes" Alexei Kowaljow meldete, habe Sergei Kirijenko, der erste Stellvertretender Leiter der russischen Präsidialverwaltung, bei einem Treffen in Cherson den anwesenden Landwirten zugesichert, dass all ihre Anliegen berücksichtigt würden, einschließlich des Verkaufs von Getreide und technischen Kulturen aus der Ernte 2021 und der Aussichten für den Verkauf der Ernte 2022.
"Ich habe keinen Zweifel daran, dass die befreiten Gebiete im Süden der ehemaligen Ukraine zu einer weiteren Region Russlands werden", schrieb Kowaljow auf Facebook und erntete dafür einen regelrechten Shitstorm von kiewtreuen Personen, die ihm erwartungsgemäß Hochverrat vorwarfen.
Laut dem Direktor des Verbindungsbüros der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) Oleg Kobyakow sei es für die UNO unerheblich, ob Russland oder die Ukraine Getreidekulturen liefert. "Diese beiden Länder sind für 30 Prozent des weltweiten Getreideangebots verantwortlich, wobei sie aufgrund der klimatischen Bedingungen unterschiedliche Anteile haben. Mehr als 50 Länder sind auf dem Weltmarkt von Lieferungen aus der Ukraine und Russland abhängig. Viele von ihnen decken 90 bis 100 Prozent ihres Bedarfs", sagte er dem russischen Wirtschaftsportal RBC.
Wenn Russland Saat, Ernte, Lagerung, Verarbeitung und sichere Lieferung von landwirtschaftlichen Produkten auf dem gesamten Territorium der Ukraine organisieren kann, ist das in der Logik der Bekämpfung des drohenden Welthungers eine Tatsache, die zu begrüßen wäre. Wenn es dabei auch noch keine Erpressung, Polittheater und Bluff-Spielchen in Ukraine-Manier anstellt, ist das dann ausgezeichnet.
So wie die wirtschaftliche Erschließung der besetzten (oder befreiten – je nach Betrachtungsweise) Gebiete im ukrainischen Süden vonstattengeht, kann man davon ausgehen, dass Russland sich nicht nur um profitable Geschäfte und die Vergrößerung seines Binnenmarktes angesichts der Zerbröckelung der globalen Wirtschaft auf Mega-Blocks kümmert, sondern auch seiner Verantwortung als wirtschaftlicher Akteur auf dem Weltmarkt durchaus bewusst ist.
Ganz anders die Ukraine, die seit Beginn der Gas-Kriege der 2000er Jahre international Chaos, Zwietracht und zuletzt auch Zerstörung stiftet. Es sind die ukrainischen Streitkräfte, die Küstengewässer verminen und monatelang internationale Besatzungen von Frachtschiffen in ihren Häfen als Geiseln halten. Es sind die ukrainischen Streitkräfte, die Stellungen in Getreidesilos und Getreidespeichern errichten und sie damit zum Ziel des Gegenbeschusses machen – offenbar, um dem EU-Ratschef Charles Michel den Vorwurf zu entlocken, Russland vernichte die Ernte und verwandele das Ackerland in Schlachtfelder. Es sind die ukrainischen Streitkräfte, die Getreidevorräte in den Häfen verbrennen, wie dies mit 50.000 Tonnen von Weizen und Mais in Mariupol geschehen ist.
"Das mag sein, aber ohne die russische Invasion wären diese Probleme wohl gar nicht aufgetreten", behaupten die Kritiker. Jede Handlung hat jedoch Ursache und Wirkung. Der Ursprung des Konflikts, in dem Russland und die Ukraine nun zu Kriegsparteien geworden sind, lässt sich je nach Einstellung der historischen Tiefenschärfe auf 8 (Maidan, 2014), 14 (Versuch des NATO-Beitritts, 2008), 18 (die sogenannte "Orange Revolution", 2004) oder gar 31 Jahre (Zerfall der Sowjetunion) zurückdatieren.
Oder auf die Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges, als der ukrainische militante Nationalismus zur Waffe in den Händen von fremden Mächten wurde. Aber es geht jetzt nicht um eine historische Schuld. Mit dem Problem der ukrainischen Häfen befinden wir uns im Hier und Jetzt. Es geht also darum zu verstehen, dass sich mit jedem neuen antirussischen Vorwurf im Zuge der Ukraine-Krise in Russland immer mehr die Erkenntnis durchsetzen wird, dass nur mit der völligen Demontage der Ukraine als Staat diese Krise ein Ende haben wird. Sofern dies noch nicht geschehen ist.
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