Warum Moskau den Ukraine-Einsatz nicht schneller fährt: Leben schonen, Integration erleichtern

Wer Russlands Operation in der Ukraine unterstützt, den Fortschritt aber zu langsam findet, der bedenke: Es geht um Leben der Zivilisten und der Soldaten (auch der ukrainischen) und leichtere Integration befreiter Gebiete im gemeinsamen wirtschaftlich-kulturellen Raum mit Russland.

ein Kommentar von Geworg Mirsajan

Die russischen und verbündeten Truppen stürmen Sewerodonezk (genau genommen das Industriegebiet des nitrochemischen Werks "Asot" – die Stadt selbst ist zum Zeitpunkt der Übersetzung weitgehend von kiewtreuen Truppen befreit, Anm. d. Red.) und rücken in Richtung Gorskoje und Isjum vor, unter Umgehen des Befestigungsgebietes Awdejewka. Doch man muss auch ehrlich sein – jetzt, im Juni 2022, würden viele Russen sehr gern etwas andere Worte hören:

"Russische Truppen stürmen Odessa, rücken nach Schitomir und in Richtung Kriwoj Rog vor und umgehen das Kiewer Befestigungsgebiet."

Die Namen dieser Ortschaften würden schon deutlich eher dem Ohr schmeicheln – und nicht bloß die "irgendwelcher Siedlungen", die den Russen vor Beginn des militärischen Sondereinsatzes größtenteils nicht einmal bekannt waren. Nicht so sehr die Einnahme der beiden Kamyschewachas – auch wenn eines davon den Beinamen "Groß" trägt –, sondern die Befreiung etwa von Dnjepropetrowsk (und komme die Stadt auch ohne den Beinamen "Groß" daher) war es, die von vielen und sofort erwartet wurde.

Und naturgemäß beginnen nun diejenigen, die von ihren eigenen Fantasien getäuscht wurden, zu beklagen: Die russischen Truppen würden sich zu langsam bewegen – und daraus ziehen sie anschließend sofort alle Schlussfolgerungen, die man aus dieser Behauptung theoretisch ziehen kann.

Zum Beispiel, dass der Konflikt in einem weiteren Chasawjurt-Abkommen (mit dem der Erste Tschetschenienkrieg endete und das in Russland als Schande wahrgenommen wurde) enden könnte. Oder dass das russische Militär extrem unentschlossen sei und nicht bereit, bis zum siegreichen Ende zu gehen. Derlei Maden des Zweifels werden natürlich auch von der westlichen und ukrainischen Propaganda den Bürgern Russlands und der Ukraine vermehrt in die Köpfe gesetzt.

Diese Propaganda setzt aktuell auf das Narrativ, gemäß dem es für Moskau an der Zeit sei darüber nachzudenken, wie man mit möglichst wenig Verlusten aus der Lage herauskommt.

Propaganda gegen Realität

Aber warum unterscheiden sich die Ansichten der Experten – nicht nur der russischen, sondern auch der US-amerikanischen oder kanadischen – denn nur so auffallend von der Propaganda? Warum sind all die Experten sich denn nun so einig in ihrer äußersten Skepsis, was die Siegeschancen der Ukraine angeht? Warum erklären sie alle (und nicht nur sie, sondern auch Diplomatie-Urgesteine wie Henry Kissinger), dass Kiew schleunigst den Frieden mit Moskau zu Putins Bedingungen suchen sollte? Dass die Ukraine zumindest die Souveränität über die Krim und die Volksrepubliken Donezk und Lugansk aufgeben sollte?

Mannstärke des ukrainischen Militärs verringern, Gebiete nach und nach befreien

Die Expertenmeinungen gehen mit der Propaganda gerade deshalb auseinander, weil die militärischen und politischen Experten im Gegensatz zu den Propagandisten eines verstehen: Russlands Sondereinsatz verläuft fast, wie er verlaufen soll (und im Übrigen, durchschnittlich gesehen, auch gar nicht so langsam). Zwar kommen einzelne Mängel und Schwierigkeiten zum Vorschein, aber all diese Probleme werden gerade gelöst – sodass das Tempo und die Wirksamkeit der Kampfeinsätze erhöht werden können.

Im Großen und Ganzen verläuft die Sonderoperation auf dem einzig möglichen Weg, der zum Erfolg führen kann: Schwächen der ukrainischen Streitkräfte im Hinblick auf die Mannstärke, gefolgt von stückweiser Befreiung von Territorium. Auf diese Weise wird das Anti-Russland-Projekt mit minimalen Opfern und maximaler Wirksamkeit demontiert.

Der Preis der Fantasien

Der Kreml erklärt das langsame Tempo der Operation mit dem Wunsch, so viele Leben von Zivilisten, also die Bevölkerung der befreiten Gebiete, zu schonen wie nur irgend möglich.

Deshalb hütet sich die russische Armee (und die Milizen der verbündeten Republiken) auch so sehr davor, schwere Artillerie gegen Städte, gegen Wohnhäuser einzusetzen, in denen sich das ukrainische Militär und faschistische Terrormilizen hinter dem lebenden Schutzschild aus einheimischen Menschen so gern verschanzen. (Deshalb hütete sich Russland zu Beginn auch davor, Kasernen anzugreifen, und bietet auch jetzt den ukrainischen Kämpfern bei jeder Gelegenheit an, sich zu ergeben.)

Und hierfür liegt der Grund nicht nur in humanitärer Logik, sondern auch in Staatsräson: Tatsache ist, dass Russland in der Ukraine eben nicht irgendwelche fremden Gebiete mit einer fremden Bevölkerung besetzt (wie es die USA im Irak und in Afghanistan taten, als sie die dortigen Städte dem Erdboden gleichmachten und keine Rücksicht auf die Araber oder Paschtunen nahmen, die ihnen fremd waren). Sondern Russland befreit Gebiete, in denen eine russische, wenn auch teilweise zombifizierte Bevölkerung heimisch ist – mindestens brüderliche Bevölkerung.

Und nach der Sonderoperation wird es notwendig sein, diese Gebiete und Menschen wieder in einen mit Russland gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum zu integrieren. Aber diese Integration wird zwingend mit der geistigen Befreiung dieser Menschen einhergehen müssen – was zusammen ein komplexes System von wirtschaftlichen, Bildungs-, sozialen und vielen anderen Maßnahmen ergibt. Doch das wird eine viel schwierigere Aufgabe sein als die bloß physische Befreiung. Und je weniger Menschen – je weniger Kinder, Eltern und Geliebte, Verwandte, Freunde, Kollegen und Angehörige – während des Sondereinsatzes leiden, je weniger von ihnen ihr Zuhause verlieren, desto leichter wird die Integration sein.

Nicht mit der Zahl, mit Können siegen

Der Wunsch, Integrationsprobleme zu vermeiden, ist jedoch nur ein Grund für den langsamen Fortschritt der Operation. Ein weiterer Grund ist die Notwendigkeit, das eigene Militärpersonal zu schonen. Viele Kriegsberichterstatter und Experten machen darauf aufmerksam, dass das Aufgebot der russischen Streitkräfte und der Milizen der verbündeten Volksrepubliken den kiewtreuen Truppen an der Front sogar zahlenmäßig unterlegen sind.

Und das kommt nur dadurch zustande, dass die Ukraine bereits mehrere Wellen der Mobilisierung durchführte – wohingegen Russland dies nicht ein einziges Mal getan hat. Doch ohne eine wenigstens teilweise Mobilmachung kann auch davon keine Rede sein, mehrere massive und gleichzeitige Offensivwellen im Süden und Osten der Ukraine einzuleiten.

Wer Beschleunigung will: Selber mobilmachen

Und nun die Frage für diejenigen, die solche Wellen sehen wollen: Welchen Preis sind sie denn bereit zu zahlen, damit ihre Fantasien Wirklichkeit werden? Schließlich gibt die ukrainische Armee uns das beste Beispiel dafür, dass die Beteiligung frischmobilisierter Männer an Kampfhandlungen einen der Faktoren darstellt, die zu dramatischem Anstieg der Verluste führen. Sind denn die russischen Turbo-Patrioten (oder auch ihre Gleichgesinnten im Ausland) bereit, die Einnahme etwa von Charkow in einem Monat auf konventionellem Wege zu beobachten – und um den Preis schwerer Verluste? Auf diese Art lässt die Operation sich natürlich radikal beschleunigen – dies könnte jedoch zu einem dramatischen Anstieg der Verluste sowohl aufseiten des russischen Militärs als auch aufseiten der zukünftigen Verbündeten Russlands, vielleicht auch irgendwann russischer Mitbürger, führen.

Um es mit den Worten des Genossen Saachow zu sagen:

"Bloß nicht übereilen!"

Wichtig ist, die Ukraine

"zu heilen und der Gesellschaft einen vollwertigen Menschen zurückzugeben"

– und zwar mit minimalen Opfern seitens besagter Gesellschaft selbst.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienenbei der Business-Zeitung Wsgljad.

Geworg Mirsajan ist Politikwissenschaftler, Journalist und außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation.

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