Kommentar von Geworg Mirsajan
"Wir werden die entsprechenden Schlüsse ziehen und unsere Angriffsmittel einsetzen – derer wir durchaus genug haben – , um die Ziele anzugreifen, die wir bislang noch nicht angreifen."
Mit diesen Worten kommentierte Wladimir Putin die Aussichten der Lageentwicklung für den Fall, dass die USA der Ukraine Langstreckenraketen für die bereits vom Pentagon zugesagten HIMARS-Mehrfachraketenwerfer liefern – Raketen also, die es der Ukraine ermöglichen würden, Städte in der Russischen Föderation anzugreifen. Und warum hat er so kommentiert? Einzig weil die Russische Föderation eine Lieferung dieser Raketen als Überschreitung einer roten Linie betrachtet.
Die feinen roten Linien bei Stellvertreterkriegen im Atomwaffenzeitalter
Der springende Punkt ist, dass es sich bei Russlands Sondereinsatz in der Ukraine größtenteils um einen klassischen US-amerikanisch-russischen Krieg an der Peripherie handelt: Dies war ein gängiges Format während des ersten Kalten Krieges, als die UdSSR und die Vereinigten Staaten, die nicht auf eine unmittelbare militärische Konfrontation miteinander vorbereitet waren (aus Unwillen, einen Atomkrieg anzuzetteln), Konflikte auf dem Gebiet von Drittländern austrugen. Dabei aber waren sich beide Supermächte darüber im Klaren, dass sie eine Reihe von Regeln einhalten mussten, damit auch ein solcher Konflikt nicht doch noch in eine unmittelbare militärische Konfrontation ausartet: Gedachte, aber nicht formalisierte rote Linien, die nicht überschritten werden durften – ansonsten drohten harte Reaktionen und die Entstehung einer Eskalationsspirale. Einfach ausgedrückt: Der Vietnam- und auch der Afghanistankonflikt hätten sich beim Überschreiten dieser gedachten roten Linien zu einem vollwertigen Dritten Weltkrieg ausweiten können.
Im aktuellen Konflikt in der Ukraine aber gibt es zwei (ebenfalls gedachte) Arten von roten Linien. Die erste wurde von der Russischen Föderation einseitig für Kiew festgelegt: Moskau machte deutlich, dass es sich nicht um einen Krieg handelt, sondern um eine militärische Sonderoperation. Diese beschränkt sich auf das Erfüllen klarer Aufgaben – und diese erstrecken sich beispielsweise nicht darauf, der gegnerischen Infrastruktur kritische Schäden beizubringen oder gegnerische Entscheidungszentren auszuschalten, was in einem klassischen Krieg jeweils obligatorisch wäre. Aus diesem Grund, und aus diesem Grund allein, hat die Russische Föderation zum Beispiel die Gebäude der ukrainischen Präsidialverwaltung, der Werchowna Rada und des Generalstabs des Militärs noch nicht mit Kalibr-Marschflugkörpern "kalibriert". Verstößt Kiew jedoch gegen die von Russland für seinen militärischen Sondereinsatz verhängten Regeln – zum Beispiel durch Versuche, in Russlands eigenes Staatsgebiet etwa in den Gebieten Belgorod, Kursk oder Brjansk einzudringen –, dann wird Russland Elemente der klassischen Kriegsführung in den Sondereinsatz einbringen. Und dies wäre auch dann der Fall, wenn die Ukraine versuchen würde, russische Städte mit Waffen zu beschießen, deren Reichweite über die der Raketenartillerie oder der Gefechtsfeldrakete Totschka-U hinausgeht, und/oder Transnistrien anzugreifen.
Im Großen und Ganzen hält sich auch Selenskij, der an jeder Ecke nach Schutz vor der "russischen Aggression" schreit, sich ja durchaus an die ihm vorgegebenen Regeln. Ja, er versucht zwar, sie irgendwie an den Ecken anzunagen, um so die russische Entschlossenheit bei kleinen Verstößen zu testen (etwa wenn ukrainische Artillerie russische Dörfer beschießt), aber er hält sie dann doch ein. Nicht, weil er sich an die Regeln halten will, sondern weil er verstanden hat, dass es sich nicht lohnt, Bidens sprichwörtlicher Lokomotive voraus – und kopfüber in die Hölle – zu eilen. Denn bis vor kurzem haben ja auch die Vereinigten Staaten, an denen sich die ukrainische Führung in vielerlei Hinsicht orientiert, diese roten Linien im Großen und Ganzen respektiert – so, wie es sich einer Großmacht in einem Krieg an der Peripherie eben geziemt. Insbesondere haben die USA der Ukraine nicht die Arten von Waffen geliefert, die den Verlauf der Feindseligkeiten verändern, den russischen Streitkräften ernsthaften Schaden zufügen oder der Ukraine Angriffe tief im russischen Staatsgebiet ermöglichen könnten. Und natürlich wurden auch keine US-Truppen an die ukrainische Front geschickt.
Werfersysteme von den USA – und Gefechtsfeldraketen von "Verbündeten"
Seit jüngstem aber ist diese Herangehensweise im Begriff, sich zu verändern – denn im Pentagon hat man erkannt, dass man den Krieg verliert. Dank der richtig gewählten Taktik, die ukrainischen Reserven zu zermürben und Kiew die Fähigkeit zur Führung von Kampfhandlungen zu entziehen, ist es Moskau gelungen, dem ukrainischen Militär einen bedeutenden Teil seines militärischen Potenzials zu entziehen. Und zwar in einem so großen Umfang, dass Kiew begonnen hat, die Löcher in den Fronten mittels eines untrainierten und nicht besonders motivierten Volkssturms zu stopfen – der übrigens in bester ukrainischer Tradition auch schon begonnen hat, tränenreiche Videos von der Front zu veröffentlichen, was die ohnehin schon niedrige Moral anderer potenzieller Kämpfer noch weiter senkt. Das jedoch brachte den Plan der USA, die russische Sonderoperation so lange wie möglich in die Länge zu ziehen (um Russlands Gesellschaft und Wirtschaft zu zermürben), in die Gefahr, vereitelt zu werden. Doch genau hier haben die US-amerikanischen Eliten just eben die Verantwortungslosigkeit an den Tag gelegt, die sie von den US-Politikern früherer Epochen unterscheidet: Sie haben beschlossen, rote Linien zu überschreiten. Insbesondere haben sie damit begonnen, Kiew solche Mehrfachraketenwerfer zu übergeben, die, wenn man ihre Mehrfachwerferpakete abnimmt und stattdessen ballistische Gefechtsfeldraketen des Typs ATACMS lädt (alles von der Bedienung im Gefechtsbetrieb zu erledigen), für Angriffe über Hunderte von Kilometern hinweg eingesetzt werden können.
Ja, bisher blieb es nur bei den Mehrfachraketenwerfern mit normalen Raketengeschossen – also ohne die ballistischen Gefechtsfeldraketen. Doch diese können auch von anderen Staaten geliefert werden, denen die USA derartige Raketen zur Verfügung gestellt haben. Und hier darf sich Washington ja nicht täuschen: In dieser Lage wird die Ausrede "Wir haben nichts damit zu tun!" die USA nicht vor einer Eskalation bewahren, falls Gefechtsfeldraketen aus US-Herstellung auf russische Städte oder Infrastrukturobjekte fliegen.
(Die mit den Mehrfachraketenwerfern HIMARS und MLRS kompatiblen ballistischen Gefechtsfeldraketen ATACMS von Lockheed Martin sind in den Beständen von sechs bis neun Staaten neben den USA selbst zu finden. Von diesen bestellten eine Reihe von NATO-Mitgliedern – Rumänien und Polen im Jahr 2019, Rumänien nochmals im Jahr 2021, Australien und abermals Polen im Jahr 2022 – die Version M57. Die Reichweite dieser Rakete von 270 bis 310 Kilometern überschreitet die der ukrainischen Totschka-U mehr als um das Doppelte. Anm. d. Red.)
Natürlich verspricht Washington, dass keine roten Linien überschritten werden. Natürlich schwört man dort hoch und heilig, dass die ukrainischen Behörden versprochen haben, keine russischen Städte anzugreifen. Doch diese Herangehensweise ist fehl am Platze: Hier sollten sich die US-Amerikaner dann doch lieber an Deutschland orientieren. Nach Angaben des Spiegel zögert Berlin die Lieferung von Panzern an Kiew hinaus – und das hat den Grund, dass man dort eben kein Vertrauen in die Bereitschaft von Präsident Selenskij hat, die roten Linien einzuhalten. Also einfacher ausgedrückt: Berlin hat kein Vertrauen in die Versprechen, dass seine Panzer nicht dazu verwendet werden sollen, in eine Grenzregion der Russischen Föderation einzudringen. Denn Berlin lässt sich dabei nicht von Worten, ja nicht einmal von schriftlichen Garantien leiten – erst recht nicht seitens der Ukraine, die sich in den letzten acht Jahren durchaus darin geübt hat, ihren Verpflichtungen nicht nachzukommen, selbst wenn diese durch eine Erklärung des UN-Sicherheitsrats geheiligt wurden. Lieber konzentriert sich Berlin beim Treffen solcher Entscheidungen auf die Möglichkeiten, die es Kiew damit jeweils bietet, oder eben nicht bietet – auf Möglichkeiten, für die Berlin sich im Zweifelsfall vor Wladimir Putin wird verantworten müssen. Berlin – und eben nicht nur Selenskij für seinen theoretischen Angriffsbeschluss, der die rote Linie überschreiten würde.
Der entscheidende Punkt ist natürlich die Art der jeweiligen russischen Reaktion selbst. Rote Linien halten nicht dank dem Wort eines Menschen, sondern ihr Bestehen ruht auf dem Prinzip des garantierten Schadens. Der potenzielle Zuwiderhandelnde muss sich die Folgen seines Verstoßes klar vorstellen können – und dazu müssen ihm die Folgen auch mal vorgeführt werden. So wie Moskau die Folgen schon einmal vorführte, als die Kasernen auf dem Militärübungsgelände Jaworowskoje bei Lwow, das voll mit ausländischen Söldnern war, mit russischen Raketen dem Erdboden gleichgemacht wurden. Und nun hat Wladimir Putin also angekündigt, dass auf die Lieferung von Gefechtsfeldraketen (falls diese Raketen russische Städte treffen) mit Sicherheit eine Antwort folgen wird. Doch da ist mehr: Der russische Präsident gab in seiner üblichen Art nicht an, welche Einrichtungen die Ziele der angedrohten Vergeltungsschläge sein würden – und auch nicht auf dem Gebiet welchen Landes.
Übersetzt aus dem Russischen.
Geworg Mirsajan ist Politikwissenschaftler, Journalist und außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation.
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