von Dagmar Henn
Der Bundestag debattiert weiter über Waffen für die Ukraine, und die Journaille moniert derart lautstark die unzureichend pathetische Unterstützung durch Bundeskanzler Olaf Scholz und lobt CDU-Fraktionschef Merz für sein Drängen auf schnellere Lieferungen, dass man fast glauben könnte, es knirscht in der Regierung. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock wiederum wird gelobt dafür, jetzt davon zu sprechen, die Ukraine müsse siegen, und nicht mehr, sie dürfe nicht verlieren.
Werbetechnisch ist das verständlich. Ein Waschmittel, das mit "Wäscht sauber wie nie" beworben wird, wird sich auch besser verkaufen als eines, dessen Losung lautet "Lässt keinen Schmutz mehr übrig", schlicht deshalb, weil die zweite Variante inhaltlich zwar identisch ist, aber eben den Begriff Schmutz und nicht den Begriff Sauberkeit im Gedächtnis verankert. Allerdings sind Fragen von Krieg und Frieden solche des Überlebens und nicht solche der Absatzstatistik von Waschmittelherstellern, und es sollte nicht die Werbewirksamkeit sein, die die Begriffe vorgibt. Und die Formulierung des "Nicht-Verlierens" lässt im Gegensatz zu jener des "Siegens" immerhin noch ein Patt als Option zu.
Beide Formulierungen haben jedoch wenig mit der Realität zu tun. Das, was die Kiewer Meute und ihre Strippenzieher da treiben, erinnert eher an den Mitspieler beim Skat, der einen Grand Hand Ouvert dennoch Karte für Karte ausgespielt sehen will, statt gleich aufzugeben. Nur dass in diesem Fall die unnütze Fortsetzung unzählige Menschenleben kostet, ohne dass sich ein Sinn dieses Irrsinns erschließt. Denn tatsächlich liegt das Blatt seit den ersten Tagen der russischen Militäroperation auf dem Tisch, und es ist kein Stich mehr zu machen, gleich, welche Sprüche die NATO-Vertreter absondern oder welche weiteren Waffen in die Ukraine geschaufelt werden.
Dass die ganze Nummer nicht mehr so greift wie zu Beginn, hat sich inzwischen in Regierungskreisen herumgesprochen. Selbst in den Suchmaschinen ist das Stichwort Ukraine abgestürzt. Baerbock sprach diesbezüglich jüngst von "Fatigue". Bei mir ist dieses fanzösische Fremdwort neben einem anderen abgelegt, "Ennui", und führt über den Umweg von Musils "Mann ohne Eigenschaften" direkt nach Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg; aber so hat Baerbock das gewiss nicht gemeint, das Buch ist viel zu dick und zu kompliziert. Es wäre schon fast interessant, ihren Terminkalender vom Tag dieser Äußerung zu sehen, um herauszufinden, wer dieses Wort in ihrer Nähe verwendet haben kann. Wie auch immer, wenn sie damit Kriegsmüdigkeit meint, dann hat sie sich wieder einmal in der Kategorie vergriffen, die sieht anders aus. Geschichtsbücher verraten das im Zusammenhang mit dem November 1918.
Das ist keine Kriegsmüdigkeit, was sich in dieser Republik langsam zeigt, allerhöchstens ein noch mildes Genervtsein von den politischen und journalistischen Staubsaugervertretern, die einem unbedingt einen Krieg andrehen wollen. Oder ein langsames Erwachen, dass die Sanktionen nichts, aber auch gar nichts mit deutschen Interessen zu tun haben.
Auf jeden Fall liegen Organe wie der Spiegel grob daneben, wenn sie erklären: "Der Kanzler muss also etwas tun, will er wieder in die Offensive gelangen" und als Begründung anführen, die SPD habe bei den letzten beiden Landtagswahlen im Vergleich zu CDU und Grünen verloren. Ein Taschenspielertrick, der über das wirkliche Problem hinwegtäuscht, das im beeindruckenden und wachsenden Block der Nichtwähler besteht. Aber würde man das erwähnen, müsste man sich mit der Frage beschäftigen, warum ein derart hoher Anteil der Bevölkerung inzwischen für keine der Parteien mehr stimmt; und diese Frage durfte schon nach der Bundestagswahl nicht aufgeworfen werden.
Nun, Aufgabe des Spiegel ist nicht, den wahren Zustand der Republik zu reflektieren. Momentan ist er eher damit beschäftigt, die nächste Sanktionskampagne anzuleiern, diesmal gegen China, damit endgültig gar nichts mehr übrig bleibt an deutscher Industrie. Viele deutsche Politiker sekundieren ihm dabei brav, und selbst der Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie gab dem Deutschlandfunk ein Interview, bei dem man den Eindruck hatte, er habe es auf dem Bauche kriechend gegeben. Nachdem jeder Einspruch gegen die Sanktionen gegen Russland vergeblich war, scheinen die Industrievertreter sich mit dem beschlossenen Untergang abgefunden zu haben.
Olaf Scholz jedenfalls bekam ein Fleißbildchen für seine Ankündigung noch weiterer Waffenlieferungen, und sogar der amtlich bestallte Kiewer Injurienverteiler Andrei Melnyk äußerte sich zufrieden (was wieder einmal die Frage aufwirft, von wem er sein zweites Gehalt erhält). Man sollte allerdings nicht ernsthaft glauben, die deutsche Politik sähe sich veranlasst, ukrainischen Bettelprinzen oder polnischen Ministern nach dem Maul zu handeln, nur weil diese gerade die besonders innige Gunst des Washingtoner Sumpfes genießen. Hackordnung bleibt Hackordnung, und Zwerge bleiben Zwerge.
Den wirklichen Grund für das ganze Theater muss man also an einem anderen Ort suchen. Es ist weder der Wunsch, sich Zuneigung in Kiew oder Warschau zu erwerben, noch jener, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen; Letzteres ist weniger wahrscheinlich als ein Lottosechser, und es dürfte im Umfeld der Regierung noch einige Leute geben, die das längst erkannt haben, aber eben nicht sagen.
Scholz gibt allerdings einen Hinweis, wenn man die Liste der Rüstungsgüter betrachtet, die neuerdings geliefert werden sollen. Ich spoilere mal ein wenig und sage IRIS-T. Der Wikipedia-Artikel zu dieser Rakete ist übrigens ausgesprochen interessant, weil er sich liest wie direkt in der Werbeabteilung des Herstellers Diehl geschrieben. Aber dafür muss man jetzt etwas weiter ausholen.
Das, was Friedrich Merz als "Ringtausch" so lächerlich macht, ist witzigerweise das Einzige, was militärisch zumindest in die Nähe des Sinnhaften gerät: die Lieferung des in den NATO-Ländern noch vorhandenen alten sowjetischen Geräts. Es hat den gewaltigen Vorteil, tatsächlich bruchlos einsatzfähig zu sein, weil es bereits vertraut ist und keinen zusätzlichen Ausbildungsbedarf auslöst (der seine eigenen Widerhaken hat, wie am Beispiel der Lieferung deutscher Haubitzen zu sehen war); allerdings wurden bereits während des Donbasskrieges die Kiewer Truppen mehr oder weniger offen damit versorgt, sodass nach acht Jahren, in denen ordentliche Mengen davon verschrottet wurden oder den Besitzer wechselten, nicht mehr allzu viel davon auf NATO-Gebiet übrig ist. Das ist der eine Punkt.
Der andere ist aber der interessante. Nehmen wir einmal an, das ganze Geschwätz, die Ukraine müsse siegen, diene vor allem dem Zweck, dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen, dass man jetzt eben neuere Waffen liefert. Wenn man die Wahrheit sagen würde, dass das meiste Material verschrottet wird und die umgebenden Ukrainer gewissermaßen als Dreingabe geopfert werden, wollte schließlich niemand liefern. Es gibt aber ein Interesse zu liefern, das überhaupt nichts mit der Frage zu tun hat, ob die Kiewer Truppen morgen oder übermorgen die längst fällige Kapitulation vollziehen. Und da kommt IRIS-T ins Spiel.
Die Lieferung alter Waffen ist für Rüstungshersteller nur insoweit interessant, als diese irgendwie ersetzt werden müssen; was bei einem Teil des Gelieferten nicht einmal der Fall ist (bei den von Merz so gewünschten Marder- und Leopard-1-Panzern beispielsweise, die längst ausgemustert sind). Nun wurde gerade im gesamten NATO-Gebiet der Rüstungsindustrie der rote Teppich ausgerollt und ein Selbstbedienungsbuffet ausgerichtet; da will natürlich niemand zu kurz kommen.
Um bei dieser Rüstungsbonanza aber ein Stück abzubekommen, muss das Produkt beworben werden, und die beste Werbung lautet realer Einsatz. Dabei ist es völlig irrelevant, ob die Ukraine damit auch nur die Niederlage hinauszögern kann; wichtig ist, dass das Ding abgeschossen wird und seinen Nutzen nachweist. Mit den Javelins hat das nicht so richtig funktioniert, das, was von beiden Seiten in der Ukraine über dieses Produkt zu hören ist, fällt eher in die Kategorie Antiwerbung. Diehl jedenfalls scheint sich sicher zu sein, durch eine ukrainische Werberunde Vorteile zu erzielen.
Die Adresse, an die sich diese Werbung richtet, sind selbstverständlich all die anderen NATO-Staaten, die jetzt ebenfalls viel Geld für militärisches Material auf den Tisch legen sollen. Warum sollten es immer nur US-Hersteller sein, die dabei ihren Schnitt machen? Man wäre gern Mäuschen gewesen bei den Treffen, auf denen Diehl antechambriert hat. Jedenfalls waren diese Mühen erfolgreich, Scholz erklärt, man liefere jetzt IRIS-T an die Ukraine, und der Hersteller darf sich freuen.
Und ja, mit dieser Entscheidung hat auch Scholz die letzte Zurückhaltung aufgegeben; nachdem das kaum an den militärischen Erfolgsaussichten Kiews liegen kann, gleich, wie oft künftig noch das Mantra vom "Sieg der Ukraine" durch den Äther gejagt wird, könnte das auch einer Art Torschlusspanik geschuldet sein: Wenn die deutsche Rüstungsindustrie noch ein Stück vom Kuchen haben will, muss sie sich beeilen, denn wenn Kiew erst kapituliert hat, ist Essig mit der Möglichkeit der praktischen Erprobung.
Natürlich ist da ein gewisses Risiko mit inbegriffen; schließlich ist es eben nicht die deutsche Politik, die entscheidet, wann etwas die Schwelle zur Beteiligung überschreitet, sondern dummerweise die russische. Das ganz konkrete, physische Risiko tragen aber gottlob die Ukrainer. Und nachdem sie bisher brave Versuchskaninchen waren und sich auch bei den USA nett für Geschütze bedankt haben, die geortet werden, sobald sie ihr GPS anschalten, und nachdem sicher ist, dass das Spiel bis zum letzten Blatt oder eben bis zum letzten Ukrainer fortgesetzt wird, solange Wladimir Selenskij etwas zu melden hat, warum sollte man nicht versuchen, zumindest daraus noch etwas Honig zu saugen, wenn schon die Sanktionen so bitter sind? Diehl jedenfalls müht sich gerade, als einsamer Leuchtturm gewesener deutscher Industrie übrig zu bleiben.
Das deutsche Publikum wird solange mit der Arie von der siegenden Ukraine unterhalten, und dabei spielt es keine wirkliche Rolle, ob Scholz sie in der Moll-Version singt. Das geht weiter, bis dann doch die Wirklichkeit nicht mehr verdrängt werden kann oder bis die Deutschen des Wirtschaftskriegs müde sind. Oder bis nicht nur der Bär, sondern auch der Drache zurückbeißt. Dann allerdings bliebe wirklich kein Auge mehr trocken.
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