von Gert Ewen Ungar
Es sollte eine einmalige Ausnahme bleiben. Zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen durch die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie nahm die EU-Kommission Schulden auf. Im Namen aller EU-Nationalstaaten begab die Kommission gemeinsame Anleihen. Beim Corona-Wiederaufbaufonds ging es um einen Betrag von 750 Milliarden Euro. Die Kommission wollte das Geld an den Märkten "einsammeln" und dann an die Nationalstaaten zur Ankurbelung der Wirtschaft verteilen. Ziel war darüber hinaus, den Umbau der nationalen Ökonomien zur Nachhaltigkeit zu unterstützen. Grünes Wirtschaften, CO₂-Neutralität, die Abkehr von fossilen Brennstoffen, all das sollte mit dem Corona-Wiederaufbauplan gefördert werden. Dazu hatten die EU-Länder der Kommission Finanzierungspläne vorzulegen, die von der Kommission auf ihre Übereinstimmung mit den Nachhaltigkeitszielen bewertet wurden.
Pikant dabei ist nach wie vor, dass die direkte Aufnahme von Schulden an den Kapitalmärkten der EU-Kommission laut Verträgen verboten ist. Gestört hat den offenen Vertragsbruch kaum jemanden. Die Schock-Strategie funktionierte. Es ging in der Folge nur noch um Verteilungsfragen: Welches Land bekommt wie viel? Insbesondere Deutschland lehnte bisher die Vergemeinschaftung von Schulden kategorisch ab. Die Corona-Krise wusste die EU-Kommission jedoch zu nutzen, um den Widerstand zu brechen. Sie begann nicht nur einen Tabubruch, sondern weitete mit diesem Tabubruch gleichzeitig ihre Macht aus, indem sie ihre Staatlichkeit vertiefte und Budget-Kompetenzen auf sich übertrug, die bisher bei den Nationalstaaten lagen. Ursprünglich sollte die EU ausschließlich über die Mitgliedsstaaten finanziert werden, selbst aber über keine eigenständige Finanzierung verfügen. Was die Verteilung der Gelder angeht, so hatte die EU-Kommission das letzte Wort. Das führte jedoch nicht automatisch zu vermehrten Investitionen, wie man vielleicht denken mag. Vielfach widmeten die Nationalstaaten ohnehin geplante Ausgaben in die eigene Wirtschaft einfach um, um an die Gelder der Kommission zu kommen. Die behielt sich ein Einspruchsrecht vor und – wen wundert es – beäugte die Pläne von Polen und Ungarn besonders kritisch. Die Kommission bekam ein neues Instrument zur politischen Einflussnahme und zur Steuerung politischer Prozesse in den Nationalstaaten.
Die Kommission betonte damals, es wäre eine Ausnahme, der Situation geschuldet. Wiederholen sollte sich der Vorgang nicht, die Schulden sollten möglichst zeitnah zurückgezahlt werden.
Schon damals bestanden große Zweifel daran, ob sich die Kommission an ihr Versprechen halten würde. Gerade mal ein Jahr später zeigt die Kommission, dass diese Zweifel berechtigt waren. Auf ihrem Treffen am 18. Mai möchte die EU-Kommission unter dem Titel "Relief and reconstruction of Ukraine" eine weitere Schuldenaufnahme beschließen.
Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg meldet, plant die EU-Kommission erneut gemeinsame Anleihen auszugeben. Dieses Mal haften die EU-Staaten lediglich, das Geld soll aber nicht ihnen, sondern der Ukraine zugutekommen.
Angedacht sind gleich zwei unterschiedliche Instrumente. Zum einen sollen über die gemeinsamen Schulden die laufenden Ausgaben der Ukraine finanziert werden. Die EU-Staaten sollen garantieren, dass die Ukraine, faktisch ein bankrotter Staat, weiterhin Gehälter bezahlen und staatliche Aufgaben wahrnehmen kann. Dafür werden für die nächsten drei Monate bis zu 15 Milliarden Dollar benötigt, die über die Aufnahme von gemeinsamen Schulden der EU-Staaten als Kredit zur Verfügung gestellt werden sollen.
In einem zweiten Schritt sollen die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine geschätzt werden. Auch dieser Betrag von absehbar mehreren hundert Milliarden Dollar soll über eine gemeinsame Schuldenaufnahme der EU-Staaten der Ukraine übertragen werden. Auch dies als Kredit. Im Falle eines Zahlungsausfalls der Ukraine haften dann die Staaten der EU. Dass sich die EU-Kommission mit der Kreditvergabe eine direkte Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten der Ukraine erhofft, ist dabei offenkundig. Die Ukraine, respektive das, was von ihr nach diesem Krieg übrig bleiben wird, wird mit der Annahme der EU-Kredite eine weisungsgebundene Kolonie der EU.
Aber auch auf die EU hat dieser Schritt Rückwirkungen. Es scheint, die EU versteht Solidarität als wirtschaftspolitische Kamikaze-Mission, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine ihre Schulden aus eigener Wirtschaftsleistung begleichen kann, ist verschwindend gering. Die Ukraine wird zum wirtschaftlichen Bremsklotz.
Die Kriegsanleihen werden lediglich die Ukraine an die EU binden, indem die finanzielle Abhängigkeit der Ukraine weiter ausgebaut wird. Schon jetzt sitzt die Ukraine in der Schuldenfalle. Sie ist in einem Ausmaß verschuldet, dass mit einer Rückzahlung kaum gerechnet werden kann. Das Ausfallrisiko ist extrem hoch. Bereits 2015 hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Regeln geändert, um die Ukraine weiter finanzieren zu können. Die Ukraine konnte damals einen Kredit nicht bedienen, den sie von Russland erhalten hat. Nach den Regeln war das Land damit bankrott. Die Änderung ermöglichte dem IWF die Überweisung von weiteren Geldern, obwohl es faktisch einen Zahlungsausfall gab. Trotz dieser Unterstützung stufen die Rating-Agenturen die Ukraine immer weiter herunter, zuletzt Fitch im Februar auf das wenig schmeichelhafte CCC.
Mit der Finanzierung der Folgekosten des Krieges durch vergemeinschaftete Schulden der EU-Länder baut die EU zwar ihren Einfluss in und über die Ukraine weiter aus. Durch den Schritt ist die Ukraine umfassend von der EU abhängig, wobei ihr gleichzeitig jedes Mitspracherecht vorenthalten wird. Das Land verliert weiter an Souveränität. Die vermeintlich freundschaftliche und solidarische Unterstützung der Ukraine durch die EU und die EU-Nationalstaaten ist ein Nessoshemd, das die Ukraine in den Tod als souveräner Staat führen wird.
Aber andererseits ist zu erwarten, dass ein Investment mit der hohen Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls zu entsprechenden Zinsaufschlägen führen wird. Der Glaube an die Verlässlichkeit des Euro, ohnehin schon durch die Sanktionen der EU beschädigt, wird weiter erodieren. Der Euro verfällt insbesondere im Vergleich zum Rubel. Das Einfrieren der russischen Devisen hat das Vertrauen in die Währung erschüttert. Dies stellt den Ausgangspunkt für Russlands Entschluss dar, mit "unfreundlichen Ländern" Gas-Geschäfte nur noch in Rubel zu machen. Sollte die EU zudem ihre Drohung wahr machen und die einbehaltenen Devisen der Ukraine für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen, ist es mit dem Ansehen des Euro in der Welt absehbar dahin. Die Wahrscheinlichkeit, dass es der EU gelingt, diesen Schritt mit moralischer Hybris derart zu verklären, dass andere Länder darin nicht einen plumpen Diebstahl sehen, ist sehr gering. Finanzpolitisch jedenfalls ist die EU-Kommission bereit, aus Machtgier und einer bizarren Idee von Solidarität sich nach und nach ihr eigenes Grab zu schaufeln. Was aber den Bürgern der EU als Hoffnungsschimmer bleibt, ist, auf Ungarns Einspruch zu hoffen.
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