von Susan Bonath
Essen, Strom und Miete: Die Preise für die Grundbedürfnisse schießen in die Höhe, ein Ende ist nicht in Sicht. Die Löhne, Gehälter und Sozialleistungen halten dabei nicht mit. Immer mehr Menschen haben Probleme, mit ihrem Einkommen über den Monat zu kommen. Kein Wunder: Die Tafeln verzeichnen wachsenden Zulauf und zunehmende Engpässe. Immer weniger Spenden kommen bei ihnen an.
Ihr Dachverband Tafel Deutschland e. V. arbeitet sich an der Oberfläche ab. Er fordert mehr finanzielle Unterstützung vom Staat. Auch ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung und für weitere Steuervorteile für Spender müsse her. Nur dann könne man allen Armen gerecht werden. Doch der Schein von der grenzenlosen Wohltätigkeit der Tafeln trügt. Niemand hat Anspruch auf ihre Hilfe und nicht jeder bekommt sie. Nicht zuletzt helfen sie der Politik dabei, die systemisch bedingten, wachsenden sozialen Verwerfungen zu kaschieren.
Weniger Spenden, mehr Bedürftige
Die Tafeln klagen immer lauter über lange Schlangen und abnehmende Essensspenden. Viele Einrichtungen haben bereits ihr Angebot beschränkt und die Ausgabemenge limitiert. Zum Beispiel nehmen Mainzer Ausgabestellen keine neuen Hilfesuchenden mehr an. Berliner Tafeln sind nach eigener Aussage "am Limit".
In Sachsen gerieten die Tafeln "an ihre Grenzen", in Sachsen-Anhalt würden sie, trotz leerer Regale, "überrannt". Auch in Hamburg reichen die Lebensmittel nicht, Menschen werden fortgeschickt. Ähnlich sieht es vielerorts aus.
Die karitative, von vielen Ehrenamtlichen mitgetragene Tafelbewegung mit ihrem Dachverband, inklusive Presseabteilung, agiert inzwischen fast wie eine Unternehmenskette, mit bundesweit fast 1.000 "Filialen" und noch viel mehr Ausgabestellen. Die Engagierten meinen es zweifelsohne gut. Vereinsvorsitzender Jochen Brühl sprach am 1. Mai zurecht ein gravierendes Problem an: Die Tafeln seien nicht Teil des sozialstaatlichen Systems, monierte er. Doch tatsächlich fungieren sie bereits wie ein solches.
Keine Hilfe für alle
Die Tafeln sind private Wohltätigkeitseinrichtungen, die sich aussuchen können, wem sie etwas geben und wem nicht. So praktizierten einige Einrichtungen auch nach Aufhebung der meisten Corona-Maßnahmen 2- oder 3G-Regeln weiter. In Mönchengladbach etwa sollten nicht gegen Corona Geimpfte draußen bleiben und leer ausgehen. Andere Einrichtungen dienten der Tafel offenbar als Vorbild.
Die Wohltätigkeit hält sich in Grenzen. Wer plötzlich in Not gerät und mit leerem Magen eine Tafel aufsucht, wird meistens Pech haben und nichts bekommen. Denn man muss ein Aufnahmeverfahren durchlaufen. Die Kriterien sind vielerorts streng: Bedürftige müssen wie beim Amt ihr Einkommen nachweisen und ihre Lohnzettel, Renten- oder Hartz-IV-Bescheide vorlegen.
Damit fällt bereits eine wohl relevante Gruppe der Ärmsten von vornherein raus: Obdachlose und Drogenabhängige zum Beispiel, die mit der Bürokratie überfordert sind, oder arbeitssuchende EU-Bürger, die in den ersten fünf Jahren in Deutschland keinen Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland haben. Und Aufnahmestopp bedeutet eben Aufnahmestopp, da kann der Magen noch so leer sein.
Auch wer gar kein Geld mehr in der Tasche hat, bekommt nichts. Denn völlig kostenlos ist die Abgabe einer Tüte gespendeter Lebensmittel nicht. Regional unterschiedlich werden zwei, drei Euro pro Person verlangt, manchmal mehr, Tendenz mit der Inflation steigend.
Konzerne als Wohltäter
Mit den Tafeln sparen spendende Unternehmen auch Entsorgungskosten. Handelsketten, Discounter und Märkte geben Produkte kurz vor dem Ablaufdatum einfach gratis an sie ab, anstatt sie teuer der Müllentsorgung zu überlassen. Im Gegenzug lassen sie sich für den "humanitären Akt" loben.
So präsentieren sich große Konzerne wie Metro, Lidl, Rewe, Mercedes Benz und die Deutsche Vermögensberatung auf der Webseite des Bundesverbandes der Tafeln als "Wohltäter". Auch Edeka, Coca-Cola, Henkel, der ADAC und viele preisen ihre Unterstützung an. Karitative Wohltätigkeit verleiht millionen- oder gar milliardenschwere Unternehmen ein moralisches Antlitz.
Preise steigen immer weiter
Vielfach wird behauptet, Russland und der Ukraine-Krieg seien Schuld an der Inflation. Tatsächlich zog sie bereits im vergangenen Jahr kräftig an, wie das Handelsblatt richtig analysierte. Kapitalverwertungskrisen sind ständige Begleiter der kapitalistischen Wirtschaft, wie bereits die vergangenen Jahrzehnte deutlich zeigen.
Aktuell jedoch schießt die Teuerung für das Lebensnotwendigste durch die Decke. Laut Statistischem Bundesamt zogen die Energiepreise in einem Jahr um mehr als 35 Prozent an, Lebensmittel kosteten im April durchschnittlich fast neun Prozent mehr als im Frühjahr 2021. Und die Preisspirale dreht sich weiter nach oben.
Die Teuerungen treffen freilich auch die Tafeln. Um die Lebensmittel abzuholen, müssen sie tanken, um sie zu kühlen, benötigen die Einrichtungen Strom. Auch Miete für Lagerräume und Heizkosten für Ausgabestellen wird fällig. Mit der Inflation steigt auch der Obolus, den Bedürftige für ihr Essen zahlen.
Real sinkende Grundsicherung
Dem gegenüber stiegen die Sätze für Hartz IV und andere Hilfen der Grundsicherung zuletzt um rund 0,7 Prozent. Ein Alleinstehender bekommt derzeit 449 Euro, drei Euro mehr als im vorigen Jahr. Seit 2019 erhöhte der Gesetzgeber die Bezüge um weniger als sechs Prozent, seit 2004 stiegen sie um etwa 30 Prozent. Partner, Kinder und weitere Haushaltsangehörige erhalten zwischen 60 und 80 Prozent davon.
Von diesem Geld müssen Betroffene alles zahlen, außer Miete und Heizung: Essen, Kleidung, Verkehrsmittel, die kaputte Waschmaschine, Internet, Telefon und die Stromrechnung. Oft werden noch nicht einmal die Kosten der Unterkunft vollständig übernommen. Die sogenannte Wohnkostenlücke, also die Summe, die Betroffene aus ihrem Regelsatz oder Nebeneinkommen aufbringen müssen, weil der Staat sie nicht übernimmt, betrug im Jahr 2020 insgesamt rund eine halbe Milliarde Euro, wie der Sozialwissenschaftler Stefan Sell auf seiner Internetseite ausführte. Für rund 450.000 Haushalte waren das im Mittel 87 Euro monatlich.
Doch die Ärmsten sollen, wie immer, den Gürtel noch enger schnallen. Der Focus stimmte die rund acht Millionen von Sozialleistungen, wie Hartz IV, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter lebenden oder damit aufstockenden Menschen in Deutschland schon mal darauf ein. Sie müssten einfach besser haushalten, dann kämen sie auch mit weniger aus, argumentierte das Blatt mit Berufung auf eine anonyme Familie.
Mickrige Überlebenshilfen
Die Botschaft des Focus erinnert an die Hartz-IV-Speisepläne, die der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (ehemals SPD) 2008 veröffentlicht hatte. Und es lässt auch an den Vorschlag des heutigen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz im selben Jahr denken, die Hartz-IV-Sätze auf 132 Euro zu schrumpfen.
Doch mit der Ampel-Regierung gibt es tatsächlich eine winzige Hilfe für Betroffene, um trotz Teuerung nicht hungern zu müssen. Am Donnerstag beschloss der Bundestag eine Einmalzahlung von 200 Euro für Bezieher von Grundsicherung. Hinzu kommt ein monatlicher Kinderzuschlag von 20 Euro. Für Betroffene ist das der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein: Schon jetzt sind die Hilfen viel zu knapp bemessen.
Ein Beispiel: Für Energie, die Instandhaltung der Wohnung und etwaige Mietzulagen sind insgesamt rund 38 Euro im aktuellen Regelsatz für Alleinstehende enthalten. Unterdessen müssen schon jetzt Einpersonen-Haushalte vielerorts 50 Euro oder mehr im Monat berappen. Zumal hinzukommt, dass sich Arme oftmals keine neuen Haushaltsgeräte leisten können und mit alten "Stromfressern" vorliebnehmen müssen.
Real sinkende Löhne
Die Löhne halten mit dem Preisanstieg schon lange nicht mehr mit. Nachdem sie, gemessen an der Teuerung, schon im ersten Pandemie-Jahr 2020 real gesunken waren, ging der schleichende Abstieg 2021 weiter, wie das Statistische Bundesamt im März offenbarte.
Ein Problem an dieser Statistik ist allerdings die Zusammenfassung aller möglichen Berufsbereiche. Auch hochdotierte Stellen in der Wirtschaft und im Staatsdienst, bei denen die Gehälter stärker gestiegen sind, als etwa im Reinigungs- oder Leiharbeitsgewerbe, sind darin enthalten. Der reale Lohnrückgang dürfte in den klassischen Niedriglohn-Sektoren weitaus drastischer zu Buche schlagen, weil dort die Einkommen grundsätzlich langsamer ansteigen.
Über diverse Ungerechtigkeiten geplanter Minizuschüsse für Berufstätige, etwa gegenüber Rentnern und Studenten, wurde bereits heftig im Bundesrat gestritten. Ein Neun-Euro-Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr hilft Betroffenen nur ein Vierteljahr dabei, günstiger zur Arbeit zu kommen oder Verwandte zu besuchen.
Globale Armutskatastrophe
Und die Tafeln werden vermutlich weiter machen wie bisher: Über wachsende Engpässe, steigende Kosten und zunehmenden Ansturm klagen, vergeblich die Erhöhung von Grundsicherung und Minirenten fordern und viele Bedürftige, wegen fehlender Spenden, Nachweise oder beidem, ohne Hilfe fortschicken, weil es an Essensspenden fehlt oder kein staatlicher Armutsbescheid vorliegt.
Dass die Ampel-Regierung die Hartz-IV-Sätze nächstes Jahr gravierend anheben wird, erscheint eher unwahrscheinlich. Dies wird wiederum den Rückgang des Reallohnniveaus befeuern, den auch die geplante Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro pro Stunde angesichts der Preisentwicklung nicht auffangen kann.
Die Preisentwicklung wird, und das scheint schon jetzt so sicher wie das Amen in der Kirche, zu einer schweren globalen Hungerkatastrophe führen. Den Regierenden und Medienmachern in Deutschland ist das durchaus bewusst, wie unter anderem mahnende Beiträge vom SWR, von n-tv und der Deutschen Welle zeigen. Die meisten Menschen, die davon betroffen sein werden, können weder auf Sozialleistungen noch Tafeln hoffen. Doch wie immer werden davon einige wenige profitieren. Kapitalismus und seine Krisen sind ein Teufelskreislauf.
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