von Dagmar Henn
Eigentlich müsste das bei Deutschen Erinnerungen wecken. Truppen, die – eingeschlossen – sich in einer aussichtslosen Lage befinden und nicht kapitulieren dürfen. Und es müsste sofort klar sein, was das für das Verhältnis der Militärführung zu den eigenen Soldaten bedeutet.
Aber es findet sich kein einziger Bericht, keine einzige Erwähnung, in der diese Frage auch nur aufgegriffen wird. Die Wirtschaftswoche schreibt zum Beispiel schlicht:
"Die in Mariupol eingeschlossenen ukrainischen Streitkräfte haben ein von Russland gestelltes Ultimatum für eine Kapitulation offenbar verstreichen lassen. Kurz nach Ablauf der vom russischen Verteidigungsministerium bis Sonntag, 12 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit (MESZ) gesetzten Frist lag keine Stellungnahme der ukrainischen Seite vor."
Ja, das sind die Fakten. Aber merkt wirklich niemand etwas?
Ausgerechnet die Berliner Zeitung greift besonders tief in die Kiste ukrainischer Propaganda und verwendet dabei noch falsche Informationen bezüglich des Kessels von Ilowajsk im Jahr 2014, um zu begründen, warum die ukrainischen Truppen angeblich nicht kapitulieren wollten.
"Bereits in der ersten heißen Phase des Krieges im Donbass, hatte Russland den ukrainischen Soldaten nach einer Schlacht in Ilowajsk freies Geleit aus dem Kessel garantiert. Als die ukrainischen Truppen im Konvoi abzogen, wurde jedoch der gesamte Konvoi von russischer Artillerie beschossen. Hunderte ukrainische Soldaten starben."
Lassen wir mal den Punkt außen vor, es habe sich um russische Truppen gehandelt. Das freie Geleit galt für einen Abzug ohne schweres Gerät. Was tatsächlich erfolgte, war ein Ausbruchsversuch mit Panzern.
Es gab damals sogar einen ganzen Dokumentarfilm, "Flucht aus Ilowajsk", den das ZDF aus der Perspektive der ukrainischen Nationalistenbataillone produzierte, der genau dieses kleine, aber entscheidende Detail deutlich illustrierte. Man kann die Panzer nämlich sehen. Und so ist es nun einmal mit solchen Abzugsvereinbarungen. Nirgends auf diesem Planeten, und von keinem denkbaren militärischen Gegenüber, wird eingekesselten Truppen ein Abzug mit schwerem Gerät gewährt werden. Wenn sie mit Handfeuerwaffen abziehen dürfen, ist das großzügig. Ein Versuch, dabei Panzer mitzunehmen, ist ein Bruch der Vereinbarung und führt zur sofortigen Wiederaufnahme der Kampfhandlungen.
Auch die Süddeutsche übernimmt diese gefälschte Version zu Ilowajsk, und übernimmt gleich noch die Heroisierung der Truppen auf dem Asowstal-Gelände:
"In selbst aufgenommenen Videos ukrainischer Marinesoldaten aus der Belagerung, die britische Zeitungen zeigen, heißt es dementsprechend, sie würden und wollten bis zum letzten Blutstropfen kämpfen.(...) Die Kämpfer des Asow-Bataillons, internationale Söldner und die Marinesoldaten, die sich ihnen angeschlossen haben, ernten in der Ukraine zunehmend Bewunderung für ihr Ausharren; sie werden daher mit einem Kriegsmythos aus dem Krieg im Donbass – den 'Cyborgs' im Kampf gegen die 'Orcs' – verglichen."
Nun, beim Kampf um den Donezker Flughafen ging es vor allem um die Möglichkeit, die Stadt Donezk möglichst bequem mit Artillerie beschießen zu können; ein verbrecherisches Ziel, weil es um Wohngebiete ging, aber zumindest noch ein Ziel. Die, die jetzt in Mariupol sitzen, könnten nur noch das eigene Überleben erreichen.
Zurück zur Berliner Zeitung. "Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte wiederholt erklärt, alles für eine Rettung der strategisch wichtigen Stadt tun zu wollen. Zugleich warnte er Russland davor, im Fall einer Tötung der ukrainischen Kämpfer die Verhandlungen für eine Beendigung des Krieges aufzukündigen." Und kein Satz, wie eigenartig das ist?
Warum rettet Selenskij seine eigenen Soldaten nicht? Das wäre möglich. Er müsste nur den Befehl zur Aufgabe erteilen. Und wie kann es sein, dass hier in Deutschland zwar berichtet wird, dass diesen Truppen auf dem Gelände des Stahlwerks nicht nur die Munition, sondern auch das Wasser ausgeht, aber nicht einmal der Gedanke auftaucht, dass in einer solchen Situation Aufgabe die vernünftige Handlung ist?
Militärisch sind diese Truppen nutzlos. Sie können die Stadt nicht zurückerobern, sie können nicht einmal mehr erfolgreich ausbrechen, sie sitzen in unterirdischen Anlagen und warten auf das Ende. Sie können nicht einmal mehr genug Kräfte binden, um die anstehende Offensive im Donbass zu verzögern. Es macht allerhöchstens propagandistischen Sinn, sie zu opfern. Das allerdings ist zutiefst zynisch. Die eigenen Truppen nutzlos zu verheizen, nur um dann erklären zu können, wie heldenhaft sie bis zum letzten Blutstropfen gekämpft hätten? Um nichts?
In vielen Punkten erinnert die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine (jetzt noch deutlicher als in den acht Jahren des ukrainischen Bürgerkriegs) an einen alten Sketch von Didi Hallervorden über Fußball. Wenn man über Fußball berichten will, sollte man die Regeln verstehen. Und um zu bewerten, wie eine Mannschaft spielt, sollte man ein paar Spiele gesehen haben. Aber eine Kenntnis der Regeln erschwert in diesem Fall die Emotionalisierung. Man kann sich das so vorstellen, wie eine Fußballmannschaft der Kreisklasse, die gegen einen Bundesligaverein spielt, vor einem in Bezug auf die Regeln des Spiels völlig ahnungslosen Publikum, dem dann erzählt wird, wie gemein die Bundesligamannschaft ist, weil sie den Ball nicht an die Kreisligaspieler abgibt.
Es tut mir leid, wenn diese Metapher manchem jetzt zynisch erscheint, aber anders lässt sich nicht erklären, wo das Problem liegt. Krieg ist ein rationales Unterfangen, mit benennbaren Zielen und üblicherweise der Bestrebung, diese Ziele unter möglichst sparsamer Verwendung der vorhandenen Mittel zu erreichen, insbesondere des Mittels Personal. Es gibt langwierige Ausbildungen, die keinen anderen Zweck verfolgen, als genau diese möglichst sparsame Verwendung zu erreichen. Und es gibt bekanntermaßen rechtliche Regeln, die vorgeben, was erlaubt ist und was nicht, die nicht immer eingehalten werden, weil die Logik der Planung im Widerspruch zum Chaos des Ablaufs steht (schließlich gibt es immer ein Gegenüber mit eigenen Planungen und Zielen, das die Erreichung der eigenen immer verhindern will), deren Einhaltung aber zumindest nach Kräften angestrebt werden soll.
Dieses "möglichst sparsam" gibt es in unterschiedlichen Varianten. Die US-Strategie, das konnte man im Irak beispielsweise hervorragend beobachten, zielt darauf ab, möglichst keine eigenen Truppen aufs Spiel zu setzen und dafür den Tod einer unbegrenzten Zahl von Zivilisten in Kauf zu nehmen. Dann gibt es – in Bezug auf die eigenen Truppen, nicht in Bezug auf Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung – das andere Extrem, das sich bei der Naziwehrmacht spätestens in Stalingrad beobachten ließ: eine völlige Missachtung auch den eigenen Truppen gegenüber, denen selbst in aussichtsloser Lage untersagt wurde, aufzugeben. Obwohl die Rote Armee mitnichten einem Spiegelbild des Generalplans Ost folgte, der die Auslöschung der sowjetischen Bevölkerung vorsah, sondern immer wieder versuchte, eingekesselte deutsche Einheiten zum Aufgeben zu bewegen.
Um zu erkennen, wann von der "geschäftsmäßigen" Logik des Krieges abgewichen wird, muss man sie zumindest ansatzweise kennen. Über die Jahrhunderte hinweg war eine Aufgabe in aussichtsloser Lage der Normalfall, und keineswegs ehrenrührig. Es wird in einem Krieg von Soldaten zwar verlangt, ihr Leben zu riskieren, aber nicht, es vollkommen sinnlos wegzuwerfen. Jeder Blinde mit einem Krückstock kann sehen, dass diese ukrainischen Truppen auf dem Asowstal-Gelände nichts mehr erreichen können. Also wäre Kapitulation die logische Konsequenz. Wenn wir annehmen, das Ziel der ukrainischen Kriegsführung läge tatsächlich in der Bewahrung der ukrainischen Staatlichkeit, dann wäre eine solche Aufgabe sinnvoll. Schließlich bleiben die eigenen Truppen dadurch am Leben und selbst, wenn sie nicht ausgetauscht werden können, gibt es schließlich Familien, die auf sie warten. Und letztlich sollte Richtschnur von Regierungspolitik doch die Verantwortung den Menschen gegenüber sein.
Wie Selenskij auf den Asowstal-Kessel reagiert hat, muss man nicht mutmaßen. Die Tatsache, dass sich die Truppen dort nicht vor Ablauf des Ultimatums ergeben haben, ist Beleg genug: Sie haben keinen Befehl zur Aufgabe erhalten. Das ist ein Vorgeschmack auf das, wie er sich in Bezug auf den bereits gebildeten Kessel vor Donezk verhalten wird. Dort geht es dann nicht mehr um zwei- bis dreitausend Mann; dort geht es um Zehntausende.
Wie reagiert Selenskij? "Die Zerstörung unserer Leute in Mariupol – was sie jetzt machen – kann das Ende für jedes Format von Verhandlungen bedeuten." Sobald man etwas auf Distanz geht, wird schnell klar, wie verrückt diese Reaktion ist. Die Seite, die gerade dabei ist, zu verlieren, und tagtäglich nach Hilfe schreit, droht mit dem Abbruch von Verhandlungen? Der Irrsinn dieser Reaktion kann nur verdeckt werden, indem man die Tatsachen durch Aufladung verzerrt. Das Selenskij-Zitat stammt aus der Berichterstattung des ZDF, das im selben Bericht erklärt, der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums drohe den ukrainischen Soldaten, weil er sagte: "im Fall einer Gegenwehr werden sie alle vernichtet."
Das ist jedoch keine Drohung, sondern eine Feststellung einer Tatsache. Es gab ein Angebot zur Kapitulation, und eine Erläuterung dessen, was im Falle einer Nichtannahme erfolgen würde. Das ist aber mitnichten besondere russische Bösartigkeit, sondern schlicht das, was in einer solchen Situation in einem Krieg passiert. In jedem Krieg, an jedem Ort, mit jedem denkbaren Beteiligten. Truppen, die eingekreist sind, und die keinerlei Hoffnung darauf haben, entsetzt zu werden, können aufgeben oder untergehen.
Wäre das Ziel der Regierung Selenskij eine Erhaltung eines Maximums an ukrainischer Staatlichkeit, sie hätte bereits vor Wochen aufgeben müssen. In dem Moment, in dem die entscheidenden Kommandostrukturen zerstört und die eigenen Truppen in kleine Portionen aufgeteilt waren. Weil schon in diesem Moment eine wirkliche Gegenoffensive nicht mehr möglich war. Und je weiter eine absehbare Niederlage hinausgezögert wird, desto schlechter ist die Verhandlungsposition und desto größer sind die Schäden. Noch ein Punkt, der nicht benannt wird. Nicht nur, dass die westlichen "Freunde" der Ukraine sich nicht im mindesten bemühen, die Kämpfe zu beenden, ehe die ukrainischen Truppen aufgerieben werden; sie setzen geradezu auf einen langjährigen Guerillakrieg nach einer Niederlage der regulären Armee, der noch weniger übrig lassen dürfte. Das käme zwar dem Ziel entgegen, Russland so weit irgend möglich zu schwächen. Aber ist das im Sinne der ukrainischen Bevölkerung? Wirklich?
Stattdessen wird ein Präsident, der seine eigenen Truppen erbarmungslos preisgibt, zum Helden stilisiert. Als wäre der "heldenhafte Untergang" die normale, selbstverständliche Art der Kriegsführung und nicht etwas, das jeden Deutschen daran erinnern sollte, wie Hitler einst General Paulus in Stalingrad verbot, zu kapitulieren, und die wenigen deutschen Überlebenden ihr Leben der Tatsache verdankten, dass Paulus diesen Befehl letztlich doch ignorierte.
Dabei meldet die russische Armee regelmäßig auch, wie viele Gefangene es gibt, und allein diese Meldung ist eine Art Lebensversicherung für die Gefangenen. Und so gern auf westlicher Seite behauptet wird, Videos mit den Gefangenen seien ein Verstoß gegen die Genfer Konvention (was nicht stimmt, wenn sie zugestimmt haben, und die Motivation, dem zuzustimmen, ist hoch), sie sind ein Beleg dafür, dass diesen Gefangenen nichts geschieht.
Auf der anderen Seite gibt es diese von ukrainischer Seite verbreiteten Videos von Morden an Gefangenen. Und es gibt seitens des russischen Verteidigungsministeriums sehr beunruhigende Meldungen, dass ein bereits vereinbarter Austausch von Gefangenen (auch das ein in Kriegen völlig normaler Akt) mehrmals von ukrainischer Seite aufgekündigt worden sei. Da ein solcher Austausch üblicherweise auf Grundlage von Namenslisten erfolgt, ist ein denkbarer Grund für eine solche Absage, dass diese Gefangenen nicht mehr am Leben sind.
Während des Donbasskrieges war das mehrmals der Fall. Selbst Amnesty International hatte das im Jahr 2015, wenn auch eher hinten herum, dokumentiert. In einem Bericht aus dem Mai 2015 wird Wasilij Budik – in Wirklichkeit ein enger Freund des damaligen Chefs des Rechten Sektors und selbst Gründer des nationalistischen Bataillons "Donbass" – als Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums vorgestellt, und dann steht dort, er "sagte Amnesty International, die Separatisten hätten eine Liste von etwa 1.000 Personen präsentiert, die sie gegen die Gefangenen, die sie hielten, austauschen wollten, die später auf weniger als 200 reduziert wurde, da, seiner Aussage nach, die Leute auf der ursprünglichen Liste nicht existierten oder schon vor Beginn des Konflikts in ukrainischen Gefängnissen saßen." Es bedarf keiner besonderen Fantasie, um das "nicht existieren" zu übersetzen.
Aber auch das ist etwas, das im Westen nicht wahrgenommen werden darf. Jede Form von Distanz, von Nüchternheit, stört beim Aufbau der emotionalen Kulisse. Und die Eingeschlossenen in Mariupol sind das sakrale Opfer, das gebracht wird, um außerhalb der Ukraine die Gefühle für die westlichen Kriegsziele einzuspannen. Weshalb ein Staatschef, der seine eigenen Truppen untergehen lässt, ohne dadurch den mindesten Nutzen für seinen eigenen Staat oder seine eigene Bevölkerung zu erreichen, der sie vielmehr genauso wenig respektiert wie den Gegner, nicht in Frage gestellt werden darf. Selbst dann nicht, wenn die historische Parallele ins Auge springen müsste.
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