Partituren dürfen nicht brennen!

Eine antirussische Hysterie, die über die Welt hereinbricht, wird zum absurden Theater und hat bereits die Sphären von Kunst und Kultur erreicht. Der russische Botschafter in Österreich, Dmitrij Ljubinski, sieht die Entwicklung mit Sorge. Gibt es bald Scheiterhaufen, auf denen erneut Meisterwerke brennen? Diesmal der russischen Literatur, Musik und Kunst?

Ein Appell von Dmitrij Jewgenjewitsch Ljubinski, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Russischen Föderation in Österreich

Eine antirussische Hysterie, die über die Welt hereinbricht, wird zum absurden Theater. Anders lässt sich die Situation kaum beschreiben, wenn beispielsweise eine österreichische Autowerkstatt, die seit Jahrzehnten mit der Botschaft Russlands zusammenarbeitet, von uns ein Garantieschreiben fordert, dass ein spezielles Ersatzteil für die Reparatur unseres Schulbusses nicht auch für die Herstellung von chemischen, biologischen oder atomaren Waffen verwendet werden könnte.

Allerdings hat dieser totale, ich würde sogar sagen dieser totalitäre Trend, Russland zu "canceln" durchaus sogar seine Vorteile. Einige heikle, früher vermiedene Grundsatzfragen werden jetzt scharf gestellt und fordern dringend eine Antwort heraus. Eine dieser Fragen ist die über das komplexe Gefüge der Beziehungen zwischen der großen Politik und dem Feld von Kultur, Kunst, Wissenschaft und Sport. Oder darüber, ob die Künstlerinnen und Künstler, die Wissenschaftler oder die Athletinnen alle ein Recht auf persönliche Meinungen und Ansichten haben dürfen. Und wenn ja, ob sie diese in einer angeblich offenen Gesellschaft frei äußern dürfen, ohne das Risiko einzugehen, durch allmächtige Medien und eine davon beeinflusste Gesellschaft stigmatisiert, bespuckt und beiseite gedrängt zu werden. Was oft auch heißt, letztendlich die Existenzgrundlage für ein normales Leben entzogen zu bekommen.

Tatsächlich stellt sich jetzt heraus: Nein, sie dürfen es nicht. Zumindest dann, wenn sie aus Russland stammen. Diese Behauptung ist leider nicht mehr nur für Polen wahr, dessen Ministerpräsident vor Kurzem öffentlich die Russophobie zu einem neuen gängigen Trend in der ganzen EU erklärte. Sondern bedauerlicherweise gilt sie auch für Österreich, das von uns traditionell als ein Land gilt, wo sich Kulturen und Bräuche überschneiden und manchmal auch miteinander fruchtbringend verschmelzen, wo sich Religionen begegnen, wo auf der Wiener Plattform scheinbar unerbittliche Gegner oft eine gemeinsame Sprache finden konnten. Der Versuch des Auslöschens von allem Russischen, die Ablehnung Russlands in seiner Einzigartigkeit als Zivilisation erfahren keinerlei gehörige Bewertung und Abfuhr seitens dafür mitverantwortlicher Politiker und werden deswegen von den Medien und im Internet mit Begeisterung aufgegriffen und weiter verbreitet. Auch durch direkte Drohungen auch gegen Russischlehrer und Lehrerinnen sowie selbst gegen jene Kinder, die diese Sprache erlernen, geschweige denn sogar gegen russische Diplomaten.

Besonders unpassend sieht solches Verkrampfen in Bezug auf Kunstschaffende aus – gegenüber Künstlern, die im direkten wie im übertragenen Sinn gezwungen oder genötigt werden, manche Art von Manifest des westlichen Mainstreams zu unterzeichnen und ihre Heimat aufzugeben oder zu verleugnen. Oder andernfalls von ihrer Profession abzutreten. Ohne diese Äußerung darf man heute nicht mehr die Bühnen der Wiener Staatsoper, des Musikvereins und Konzerthauses, der Salzburger Festspiele oder auch des alljährlichen Festivals in Grafenegg betreten. Der geforderte Grad der Schroffheit dieser Texte zur Verleugnung kann unterschiedlich sein, der Kern bleibt aber derselbe.

Viel Erbarmen zeigt man dabei jedoch angeblich mit jenen begabten Künstlern, Musikerinnen, Schauspielern, die in der Hoffnung auf die Aufrechterhaltung einer (wie es sich herausstellt flüchtigen und äußerst launischen) Anerkennung in ganz Europa und in der Welt jetzt gegen ihr eigenes Gewissen handeln. Für echte Persönlichkeiten, die ihrem Talent ergeben sind, würde das bedeuten, eigene Prinzipien preiszugeben und folglich ihre wahre kreative Freiheit sowie sich selbst zu verlieren und letztendlich in Vergessenheit zu geraten. Es ist wohl bekannt, dass Verräter auf immer fremd und ewig gestrig bleiben. Überall und für alle. Ich bin mir sicher, dass dies die Mehrheit verstehen kann.

Die Fragen "Wie stehen Sie dem Kreml gegenüber?" und "Sind Sie bereit, die Politik Russlands eindeutig zu verurteilen?" (sehr milde formuliert) können in absehbarer Zeit – aus meiner Sicht – im Westen bald in allen möglichen Fragenbogen erscheinen, wenn es bisher noch nicht der Fall ist. Es genügte ja in den letzten Jahren schon, die russische Krim zu besuchen, um endgültig auf eine "schwarze Liste" in einer Reihe von Ländern zu geraten.

Und wenn bereits heute vor dem Hintergrund der Geschehnisse in der Ukraine alles Russische verbannt wird, wäre es wohl gewiss auch angemessen, ausgehend vom Prinzip der Gegenseitigkeit, andere tiefgreifende Fragen zu stellen. Beispielsweise über die Haltung Österreichs gegenüber dem Artikel 9 des Staatsvertrages von 1955 – der nämlich die Verhinderung aller nazistischen und militaristischen Tätigkeit und Propaganda in Österreich betrifft. Oder wie sieht es mit den Ansichten zum Holocaust auch bezüglich der durch Nazis besetzten sowjetischen Gebiete aus? Und wie lautet in diesem Kontext die Einschätzung von grausamen Taten wie das Verbrennen von Menschen in Odessa am 2. Mai 2014? Oder von Gewaltakten der nationalistischen Bataillone "Ajdar" und "Donbass" in der Ukraine in den Jahren seit 2014 bis 2022 und der "Asow"-Kämpfer, die jetzt gerade seit Kurzem in Mariupol Zivilisten misshandeln? Für uns – glauben Sie mir – sind all das keine Medien-Geschichten, sondern reale Leiden unserer Menschen, deren Schmerz wir mit ganzem Herzen fühlen. Ich betone: unserer Menschen.

Ich bin mir nicht sicher, ob man diese Büchse der Pandora noch weiter öffnen und in diese Sackgasse fahren sollte. Denn dies führt zu einem vollständigen Zusammenbruch anstelle von Annäherung, zu einer Konfrontation statt zu gegenseitigem Verständnis. Es ist ein Weg ins Nirgendwo. Ich hoffe wirklich, dass vernünftige Menschen und Politiker im Westen dieselbe Meinung vertreten. Oder wir laufen Gefahr, erneut Scheiterhaufen auf Plätzen mancher europäischen Hauptstädte zu sehen, auf denen erneut – diesmal Meisterwerke der russischen Literatur, Musik und Kunst – in Flammen aufgehen werden. Ich bin aber zutiefst überzeugt, dass im 21. Jahrhundert Manuskripte und Partituren russischer Klassiker nicht verbrennen werden, nicht verbrannt werden dürfen. Deswegen möchte ich jene Kulturmanager, die Größen wie Tschaikowski und Schostakowitsch aus ihrem Programm streichen, nur um sie durch – vielleicht auch gute – ukrainische Komponisten zu ersetzten, an Folgendes erinnern: Im November 1941 beantworteten während der Belagerung Leningrads durch Truppen Nazi-Deutschlands die frierenden Musiker der Philharmonie das Heulen der Granaten mit Beethovens 9. Symphonie, und diese Konzerte dauerten all die schrecklichen Jahre.

Und als Letztes an alle, die noch Zweifel haben: Russland ist eine Großmacht mit ihrem großen und multinationalen Volk, mit einer großen Geschichte und Kultur. Und darauf sind und bleiben wir mit gutem Recht stolz!

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