von Jewgeni Norin
Wenige Tage nach dem Abzug russischer Truppen aus der Kleinstadt Butscha in der Nähe von Kiew berichteten vorrückende ukrainische Behörden, dort zahllose Leichen von Zivilisten vorgefunden zu haben. Was in Butscha geschah, wird im Westen jetzt mit dem Massaker von Srebrenica verglichen – der Stadt im Balkan, die zum Symbol des Krieges in Jugoslawien wurde. Bei der Bewertung der Ereignisse in Butscha sollte man allerdings Folgendes beachten.
Zivile Todesfälle sind zweifellos immer eine Tragödie und müssen angemessen untersucht werden. Die Rebellion im Donbass und die nun daraus resultierende militärische Intervention seitens Russlands kann man als einen der blutigsten bewaffneten Konflikte im postsowjetischen Raum bezeichnen. Die großflächige Zerstörung von Mariupol während der russischen Offensive, eine Gruppe russischer Kriegsgefangener, die von Ukrainern vor laufenden Kameras erschossen wurden, und ein Raketenangriff auf Wohngebiete von Donezk durch die Kiewer Truppen sind nur einige der Gräueltaten, die dieser Krieg bisher hervorgebracht hat. Butscha ist eine weitere auf dieser Liste.
In der Zeit vom 25. Februar bis Mitte März, als russische Truppen diese Kleinstadt kontrollierten, kam es zu heftigen Kämpfen. Doch Ende März zogen die Russen ab, und die Ukrainer drangen in die Stadt ein, gefolgt von Journalisten französischer Staatsmedien. Sie fanden Dutzende von toten Zivilisten, von denen einige laut Journalisten seit Tagen oder sogar Wochen unbestattet dort lagen. Was in Butscha passiert ist, ist zweifellos eine schreckliche Tragödie. Erwähnenswert ist auch, dass sowohl Russland als auch die Ukraine eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates zu den Geschehnissen in der Stadt beantragt haben. Was dort geschah, beschreiben die beiden Länder jedoch gegensätzlich. Über die Ereignisse in Butscha kann derzeit noch wenig mit Gewissheit gesagt werden. Aber eines ist klar – diese Tragödie erfordert eine angemessene Untersuchung.
Einige Beobachtungen können jedoch bereits gemacht werden. Die meisten dieser Menschen müssen durch Artilleriebeschuss getötet worden sein. Es gibt mehrere Faktoren, die diese Theorie stützen. Der offensichtlichste Beweis ist, dass einige der Leichen neben Kratern, die wie Einschläge von Granaten aussehen, gefunden wurden, wie in verschiedenen Videoaufnahmen zu sehen ist. Die Kämpfe fanden direkt auf den Straßen von Butscha statt. Am 27. Februar wurde ein großer russischer Militärkonvoi auf der Woksalnaja-Straße von ukrainischer Artillerie getroffen. Der Beschuss durch das ukrainische Militär hörte auch nach der Eroberung der Stadt durch russische Truppen nicht auf.
Es muss erwähnt werden, dass beide Streitkräfte hauptsächlich konventionelle Rohr- und Raketenartillerie-Systeme verwenden, die herkömmliche hochexplosive Granaten mit geringer Zielgenauigkeit abfeuern. Wenn sie in besiedelten Gebieten eingesetzt werden, können sie leicht Unbeteiligte töten, selbst wenn diese weit vom eigentlichen Ziel entfernt sind.
Auf der anderen Seite manövrierten ständig gepanzerte Fahrzeuge durch die Straßen von Butscha, was leider zu Opfern unter Zivilisten führen kann, auch wenn die Truppen dies nicht beabsichtigen. Die Sicht aus dem Inneren eines gepanzerten Fahrzeugs ist sehr eingeschränkt, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Zivilfahrzeuge bei scharfen Manövern überfahren und zerquetscht werden, sehr hoch. Lokale Milizeinheiten benutzten regelmäßig zivile Transportmittel, einschließlich Krankenwagen, was zu einem charakteristischen Merkmal von Kampfhandlungen in der Ukraine geworden ist. Dies führt oft dazu, dass das Militär auf verdächtige zivile Fahrzeuge schießt.
Außerdem waren bei mindestens einer der auf der Straße gefundenen Leichen die Hände mit einem weißen Tuch auf den Rücken gefesselt. Seltsamerweise hat dieser besondere Umstand eine vernünftige Erklärung – es ist üblich, die Hände einer Leiche für den Abtransport zusammenzubinden, damit sie nicht lose runterhängen. Die Hände getöteter Rebellenkämpfer, die im Mai 2014 in ein Leichenschauhaus in Donezk gebracht wurden, wurden auf die gleiche Weise gebunden. Auch damals gab es Spekulationen über die Hinrichtung der Männer.
Und schließlich muss erwähnt werden, dass es in jedem Krieg immer zu Plünderungen kommt, die nicht ideologisch angetrieben sind. Die massenhafte Verteilung von Waffen unter der lokalen Bevölkerung hat kriminelle Gruppen gestärkt, was durch die Tatsache bestätigt wird, dass viele der an Tatorten festgenommenen marodierenden Banditen schwer bewaffnet waren.
Die Menschen, deren Leichen in Butscha gefunden wurden, wurden höchstwahrscheinlich zu verschiedenen Zeiten und infolge verschiedener Vorfälle getötet, was übrigens die seltsame Gleichgültigkeit gegenüber der Tragödie in den lokalen sozialen Medien erklärt – im Gegensatz zu den Reaktionen in der angelsächsischen Presse.
Dieser Artikel soll niemanden anklagen oder entlasten. Der Autor möchte den Leser jedoch daran erinnern, dass es immer einer unvoreingenommenen Untersuchung bedarf – vorzugsweise einer internationalen –, um einen Schlussstrich unter eine ernste Angelegenheit wie diese zu ziehen. Solche Tragödien können nicht verhindert werden, wenn zwei Armeen in einem urbanisierten, dicht besiedelten Gebiet kämpfen, in dem viele Zivilisten anwesend sind.
Im Moment wissen wir über Butscha nur mit Sicherheit, dass es sich um eine schreckliche Kriegstragödie handelt. Die Opfer müssen betrauert und derer muss gedacht werden; die Kampfhandlungen müssen so schnell wie möglich durch Friedensgespräche zu einem Ende kommen. Spezifische Episoden ziviler Todesfälle müssen angemessen untersucht werden, um die Umstände jeder Tragödie ist zu klären.
Es ist nur natürlich, dass man beim Anblick einer entstellten Leiche von Emotionen überwältigt wird. Doch vergessen wir nicht, dass jede Geschichte dieser Art auch militärische Propaganda in Gang setzt. Besonders in der heutigen Ära der sozialen Medien, in der solche Kampagnen die globale Meinung in nur wenigen Stunden manipulieren können. Wir müssen aufpassen, dass wir uns dadurch nicht täuschen lassen.
Jewgeni Norin ist ein russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.
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