von Dagmar Henn
Der Krieg ist ein Nebel, in dem sich die Wahrheit nur schattenhaft sehen lässt und der nur manchmal aufreißt und ein genaueres Bild erkennen lässt. Weshalb man die meisten Meldungen erst einmal mit Vorsicht betrachten muss. Das gilt für die "kleinen" Ereignisse (wer hat wann auf was geschossen) ebenso wie für die "großen" (wo stehen wann welche Truppen).
Allerdings gibt es einiges, das sich doch bestätigen lässt. Wer in den vergangenen Jahren Aufnahmen gesehen hat, wie die Dokumentation von Beschuss für die OSZE erfolgte, weiß das. Wenn irgendein Geschossrest im Boden steckte (und das tun sie meistens), wurde davon ein Foto gemacht, mit einem Kompass und einem größeren Blatt Papier, das die Richtung nach Norden anzeigte. Aus der Art des Geschosses, dem Neigungswinkel, der Reichweite und der Richtung lässt sich zumindest bei ballistischen Geschossen klar reproduzieren, von wo sie abgefeuert wurden. Denn Ballistik ist reine Physik.
Bei alten sowjetischen Rüstungsgütern ist es zudem recht leicht, Informationen zu finden. Nicht nur, wenn zufällig ein Stück Hülse mit der Kennzeichnungsnummer erhalten ist. Man kann die meisten Informationen sogar doppelt finden, in der russischen Wikipedia in der sowjetischen Version, in der deutschen in der der NATO.
Eines der Objekte, die dabei aufgetaucht sind, heißt Totschka-U oder nach NATO-Klassifizierung SS-21 Scarab. Das ist eine taktische ballistische Rakete mit einer Reichweite von bis zu 120 Kilometern, die mit verschiedenen Gefechtsköpfen ausgerüstet werden kann – auch mit nuklearen. Diese Raketen, die in der russischen Armee längst abgelöst wurden, finden sich laut deutscher Wikipedia noch immer im Bestand der ukrainischen Armee, mit 90 Startfahrzeugen (Stand Januar 2020).
Die Totschka-U ist ein ziemlich schwerer Brocken. Die Rakete wiegt zwei Tonnen, sie ist 6,5 Meter lang, hat einen Durchmesser von 65 Zentimetern und trägt einen Gefechtskopf von fast einer halben Tonne Gewicht. Das, was von einer solchen Rakete übrig bleibt, ob sie nun explodiert oder nicht, ist also fast nicht zu übersehen. Und es ist keine Rakete, die man mal eben so aus Versehen abfeuert. Die Startfahrzeuge sind massige Lkw mit drei Achsen; schließlich müssen sie schwer genug sein, auch dann, wenn die Rakete in Abschussposition steht, ja, selbst in dem Moment, in dem sie startet, um nicht zu kippen.
Warum erzähle ich das alles? Am Montag fand in Donezk ein Angriff mit einer Totschka-U statt, dem mindestens 20 Zivilisten zum Opfer fielen. Ich sage das so eindeutig, weil ausreichend Material vorliegt, was für eine Beweisführung benötigt wird. Es gibt mehrere Videoaufnahmen, nicht nur von den Folgen des Angriffs, sondern sogar vom Moment des Angriffs selbst (durch die Kameras einer Bankfiliale) sowie Aufnahmen, die das Ausmaß des betroffenen Gebiets zeigen und sogar zwei Teile der Rakete selbst, einer mit lesbarem Aufdruck 9M79-1 (zugegeben, die 1 ist nicht lesbar, aber es gibt nur eine Version, in der auf die 79 ein Bindestrich folgt, das ist die 79-1). Die Schäden, die die Rakete hinterlassen hat, belegen, welcher Gefechtskopf im Einsatz war. Es gibt sogar eine weitere Aufnahme, auf der der Gefechtskopf mit einigen nicht explodierten Teilen Submunition zu sehen ist. Es handelt sich um den Gefechtskopf mit der Bezeichnung 9N123K. Wer will, kann all das im Internet nachvollziehen.
Jedes der 50 darin enthaltenen Bombletts verteilt 316 Fragmente, die als glühende Tropfen von Metall mit hoher Geschwindigkeit herausgeschossen werden. Jeder einzelne dieser Tropfen hat eine höhere kinetische Energie als eine Gewehrkugel. Hoch genug, um ganze Gliedmaßen abzureißen.
Man muss sich die Videos mit den Folgen nicht ansehen. Es gibt sie von mehreren Filmern in ausreichender Menge. Und diese Rakete ging im Zentrum der Stadt nieder, in Sichtweite der Regionalverwaltung; auch das zeigen die Videos. Natürlich war dieses Material nicht sofort verfügbar, also nicht zu dem Zeitpunkt, als die ersten Meldungen über die Nachrichtenagenturen gingen. Aber zwei, drei Stunden danach bestand für jeden die Möglichkeit, die Information zu überprüfen.
Noch zwei Details, ehe ich auf die Berichterstattung eingehe: Erstens lautete die Information aus Donezk, die Rakete sei abgefangen worden und nur teilweise explodiert, und zweitens, die Verwendung solcher Munition in Wohngebieten ist ein Kriegsverbrechen. Letzteres ist eine von niemandem bestreitbare Tatsache.
Die Tagesschau meldete den Vorfall am Montag um 10:58 Uhr mit der Schlagzeile "Separatisten: Tote in Donezk durch Raketentrümmer". Das ist ein kleiner, aber gemeiner Trick. Zum Vergleich eine andere Schlagzeile, einige Stunden später: "Ukraine: Vier Tote bei Angriff auf Trinkwasserstation." Technisch könnte sich die Tagesschau herausreden, sie habe in beiden Fällen die Quelle der Information angegeben und damit eine gleiche Distanz gewahrt. Faktisch wird die zweite Variante von den meisten Lesern als Ortsangabe wahrgenommen, nicht als Bezeichnung einer Quelle. Im weiteren Text heißt es: "In der ostukrainischen Großstadt Donezk sind nach Angeben der prorussischen Separatisten mindestens 20 Menschen durch Trümmer einer ukrainischen Rakete getötet worden." Die weiteren Angaben erfolgen alle in der indirekten Rede, also mit maximal möglicher Distanz: "Unter den Opfern seien Kinder."
Gut, das ist eine frühe Meldung, da kann man das nachvollziehen. Interessant ist, wenn man die Formulierung betrachtet, die bei der anderen Meldung zum Einsatz kommt: "Nach einem Bombenangriff auf eine Pumpstation in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw ist nach Betreiberangaben die Trinkwasserversorgung ausgefallen." Hier könnte sich die Tagesschau darauf berufen, ja "nach Betreiberangaben" geschrieben zu haben, aber der Satz steht im Indikativ und der Betreiber wird erst am Satzende erwähnt. Dies signalisiert, der Bombenangriff sei auf jeden Fall real, selbst wenn der Ausfall der Trinkwasserversorgung nicht stimmen sollte.
Aber sehen wir doch mal, was die Tagesschau macht, als sich die Informationslage längst gebessert hatte, sprich, die Videos bereits zu sehen waren: "Ukraine weist russischen Bericht über Angriff auf Donezk zurück." Aha. Nun, das ist ihr gutes Recht, auch wenn die Videos und Fotos etwas anderes erzählen. Nur, all diese Möglichkeiten der Information interessieren die Tagesschau überhaupt nicht. Den Absatz muss man zur Gänze genießen:
"Die Ukraine weist den Vorwurf des russischen Verteidigungsministeriums zurück, wonach 20 Menschen beim Einschlag einer ukrainischen Rakete in der östlichen Stadt Donezk getötet worden sein. 'Es handelt sich eindeutig um eine russische Rakete oder eine andere Munition', sagte ein ukrainischer Militärsprecher. 'Es ist sinnlos, überhaupt darüber zu reden.' Die prorussischen Separatisten in der Region warfen zuvor der Regierung in Kiew vor, ein Kriegsverbrechen begangen zu haben. Belege legte das russische Verteidigungsministerium nicht vor. Die Angaben lassen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen."
Der erste Satz ist so konstruiert, dass er im Grunde noch weiter geht als die Aussage seitens der Ukraine, die nur behauptet, es sei keine ukrainische Rakete gewesen. Er zieht sogar in Zweifel, dass tatsächlich zwanzig Menschen ums Leben kamen. Andernfalls müsste er lauten: "wonach die 20 in der östlichen Stadt Donezk getöteten Menschen beim Einschlag einer ukrainischen Rakete getötet wurden," oder so ähnlich. Wieder etwas, das streng genommen nicht dasteht, aber beim Leser hervorgerufen wird.
Dann folgt die Behauptung seitens der Ukraine, es sei "eine russische Rakete oder eine andere Munition". Die vorhandenen Überreste widerlegen diese Behauptung. Es ist eine Totschka-U mit einem 9N123K-Gefechtskopf. Statt aber die Erklärung des ukrainischen Militärsprechers anhand des inzwischen vorliegenden Materials auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, wird sogar sein nächster Satz, "Es ist sinnlos, überhaupt darüber zu reden," als wörtliches Zitat ohne jede Distanz wiedergegeben. Und dann: "Die prorussischen Separatisten in der Region warfen zuvor der Regierung in Kiew vor, ein Kriegsverbrechen begangen zu haben." Das klingt sehr vage. Die konkrete Aussage war, dass der Einsatz einer Totschka-U mit Streumunition in Wohngebieten ein Kriegsverbrechen sei. Das ist konkret und zutreffend, während die ARD daraus einen unklaren Vorwurf macht. Und zuletzt: "Belege legte das russische Verteidigungsministerium nicht vor. Die Angaben lassen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen." Sie lassen sich eben doch überprüfen, aber die Tagesschau hat daran kein Interesse und redet sich damit heraus, das russische Verteidigungsministerium habe sie nicht mundgerecht aufbereitet serviert.
Zumindest über die russischen Nachrichtenagenturen gibt es auch reichlich Fotos von diesem Angriff, der einer der schwersten auf die Stadt Donezk in den acht Jahren des Bürgerkriegs ist. Auffällig ist hier: Kein einziges deutsches Medium zeigt auch nur eines dieser Bilder. Das war im Jahr 2014 übrigens genauso. Stattdessen zeigen sie ein Haus in Kiew, das eindeutig von russischer Seite beschossen worden sein soll, obwohl dafür keinerlei Beleg geliefert wird, während der Beleg für Donezk sehr simpel ist: Weder die Donbassmilizen noch die russische Armee besitzen Totschka-U-Raketen. Die einen, weil sie bisher keine erbeutet haben, die anderen, weil sie für neuere Modelle außer Dienst gestellt wurden. Aber keine Bilder der Opfer in Donezk.
Die sehr konkrete Information, man habe diese Rakete abgeschossen und ihre Trümmer seien in der Innenstadt niedergegangen, wird genutzt, um die ganze Information unglaubwürdig zu machen. Denn dass ein Teil der Bombletts dabei explodiert ist, wird unterschlagen. Übrig bleibt (ntv): "Ostukrainische Separatisten erklären, dass sie eine von Ukrainern abgeschossene Rakete über Donezk abgefangen haben. Deren Trümmerteile seien in der Innenstadt niedergegangen. Es gebe Tote und Verletzte. Zur Zahl der Opfer gibt es unterschiedliche Angaben." Logisch, wenn man sich nur Raketentrümmer vorstellt und keine Bombletts, dann klingen die in der Folge berichteten 20 Toten unglaubwürdig, oder? Die hätten ja dann ganz nah beieinander stehen müssen. Tatsächlich reicht die Wirkung der Splitter den Videos zu Folge mindestens hundert Meter die Straße hinunter.
Weiter mit ntv: "Separatisten-Anführer Puschilin sagte im russischen Fernsehen, die abgeschossene Rakete habe Streumunition enthalten. "Wenn sie nicht abgeschossen worden wäre, hätte es noch mehr Opfer gegeben," so Puschilin. Seinen Angaben zu Folge wurden Wartende an einer Bushaltestelle und an einem Automaten von den Raketentrümmern getroffen."
Wie gesagt, ein Teil der Bombletts ist explodiert, aber nicht alle. Das mag die Wirkung eines späten Abschusses, kann aber auch das Resultat einer schlechten Zündung sein; schließlich ist auch der Gefechtskopf über 30 Jahre alt und wurde wahrscheinlich nicht optimal gelagert. Wenn irgendein Teil der Aussage nicht belegbar ist, dann die Frage eines Abschusses.
Aber das Lesen von Texten erzeugt Bilder im Kopf des Lesers, und diese Bilder lassen sich manipulieren. Wenn man in diesem Fall von Trümmern spricht und nicht von Schrapnellen oder Splittern, dann haben die erzeugten Bilder mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun. Wobei der Vorwurf nicht Puschilin zu machen ist; er hält sich nur an die russische Gewohnheit, mit den technischen Details genau zu sein. Es ist die Verwendung dieser Details im Text, die sie in ihr Gegenteil verkehrt und aus der Genauigkeit, die die Glaubwürdigkeit der Aussage erhöhen soll, etwas macht, das ihre Glaubwürdigkeit vermindert.
Abgerundet wird die Berichterstattung bei ntv dann mit folgendem Absatz: "Russland hat der Ukraine immer wieder vorgeworfen, absichtlich Zivilisten und Wohngebiete im Donbass anzugreifen. Moskau behauptet, in Kiew hätten 'Nazis' die Kontrolle, die einen 'Genozid' an der russischen Minderheit in der Ostukraine verübten. Dafür gibt es keine Belege."
Da lehnt sich ntv weit aus dem Fenster, mit der Behauptung, weder für den Beschuss von Wohngebieten durch die ukrainische Armee noch für Nazis in Kiew oder einen Genozid im Donbass gebe es Belege. Für den Beschuss von Wohngebieten ist schon der Angriff vom Montag ein Beleg, aber es gibt viele weitere, die gut archiviert bei der OSZE liegen. Acht Jahre lang. Aber lassen wir die Faktenlage mal beiseite und betrachten, welche Funktion dieser Absatz für diesen Text erfüllt. Nachdem durch den Trick mit den Raketentrümmern schon der Vorfall selbst in Zweifel gezogen wurde, wird dadurch, dass er mit anderen Punkten kombiniert wird, die allesamt hier im Westen seit acht Jahren leidenschaftlich beschwiegen wurden, der letzte Rest Glaubwürdigkeit zerstört. Ntv schafft es sogar ohne Verwendung des ukrainischen Dementis, die gesamte Nachricht gegen den Donbass zu wenden.
Über die Opfer des Angriffs in Donezk wird auch in den kommenden Tagen nichts weiter bekannt werden. Keine Namen, keine Biografien, keine Bilder, keine trauernden Angehörigen. Keine Tränen vor der Kamera. Keine Kommentatoren, die sich empören, wie schrecklich dieser Krieg sei. Keine Abgeordneten, die Solidarität beschwören. Die Berichterstattung, die ich aufgegriffen habe, ist die, die überhaupt stattfindet. Für viele bundesdeutsche Medien wird es diesen Angriff nie gegeben haben. Obwohl es sich tatsächlich um ein Kriegsverbrechen handelt, eines in einer acht Jahre anhaltenden Reihe solcher Verbrechen, wird es als solches in Deutschland nie wahrgenommen werden. Obwohl in diesem Fall, ganz im Gegensatz zu dem ausgiebig und mit einem enormen Quantum an Gefühl dargestellten vermeintlichen Angriff auf eine Entbindungsklinik in Mariupol, nicht nur Bilder von Opfern existieren, sondern Videos, die eine Einschätzung des betroffenen Bereichs erlauben und auch die Angriffswaffe eindeutig identifiziert und zugeordnet werden kann.
Selten ist der Sachverhalt so klar wie bei diesem Beschuss. Schon allein, weil sich der Verlauf der Frontlinien täglich ändert, nur an dieser Stelle vor Donezk und Lugansk schon seit Jahren gleich ist. Es gibt also viele Fälle, in denen Irrtümer möglich oder gar unvermeidlich sind. Aber nicht bei dem Verbrechen, das am Montag an den Bewohnern der Stadt Donezk begangen wurde. Da ist der Sachverhalt klar. Dass die deutschen Medien ihn mit allen Mitteln in Nebel zu hüllen suchen, belegt nur ein weiteres Mal, dass sie Partei sind. Wie sie es immer waren, seit 2014.
Mehr zum Thema - Donbass – Das war auch nach deutschem Recht ein Genozid