Klartext: Wem schaden die Sanktionen langfristig mehr?

Die westliche Wertegemeinschaft erneuert und ergänzt ihr üppiges Sanktionspaket gegen Russland praktisch täglich. Versprochen wird die langfristige Applikation, tatsächlich aber ist ein "Ruin Russlands", wie unter anderen die deutsche Außenministerin Baerbock prophezeit, eher unwahrscheinlich.

von Elem Raznochintsky

Das allerwichtigste zuerst: Der Chef der US-amerikanischen Zentralbank, Jerome Powell, hat am 2. März 2022 bei der jährlichen Anhörung des US-Kongresses Folgendes eingestanden:

"Es könnte unbeabsichtigte Auswirkungen haben, wenn Russland aus SWIFT ausgeschlossen wird."

Des Weiteren räumte er etwas ein, das besonders in der deutschen Gesellschaft mit Verblüffung aufgenommen werden könnte, sofern gesendet:

"Es ist schwierig, die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland im Laufe der Zeit zu beurteilen."

Klar gesprochen heißt das, dass der Chef der zurzeit noch mächtigsten Finanzinstitution der Welt einräumt, nicht zu wissen, ob die Russland-Sanktionen den gewünschten Effekt tatsächlich erreichen würden. Nun der Reihenfolge nach.

Mittlerweile haben sogar deutsche Volksvertreter wie Annalena Baerbock und Robert Habeck eingestanden, dass es eine zweite Seite der Medaille bei den Sanktionsmaßnahmen gibt, nämlich eine negative für Deutschland und die ganze EU. Auch deren Regierungskollege aus der FDP, der Bundesfinanzminister Christian Lindner, sprach kürzlich auf der Sondersitzung des Bundestags offen über diese Tatsache:

"Die Sanktionen werden negative Auswirkungen auf uns haben. Aber wir sind bereit, diese negativen Auswirkungen zu tragen, denn sie sind der Preis der Freiheit."

Der heutzutage instrumentalisierte und verzerrte Begriff der "Freiheit" wird sehr flexibel ausgelegt, besonders in den letzten zwei Jahren. Nun – sichtbar für alle – stellt dieser genau das dar, was die Obrigkeit an Deutung für ihn verordnet. Ein unaufrichtiges und pathetisches Zurschaustellen einer Tugend, die nie wirklich da war. Was meint aber Lindner mit diesen "negativen Auswirkungen" genau?

Was die Regierenden in Berlin ihren Bürgern nämlich bisher verschweigen, sind die tatsächlichen Konsequenzen der Sanktionen samt der grundsätzlichen Versuche, Russland mit jeglicher Art der Isolation zu strafen. Erste unabhängige Expertenstimmen, die bereits Anspielungen machen, werden indessen mehr und mehr erhört. Der britische Akademiker und Analytiker Tom Fowdy hat am 3. März 2022 folgende Nachricht getwittert:

"Sowohl China als auch Indien greifen im Handel mit Russland auf ihre eigenen Währungen zurück. Die Gesamtbevölkerung dieser Länder beläuft sich auf 2,7 Milliarden Menschen. [...]"

Der Absolvent der Durham University und University of Oxford schloss seinen Tweet mit einer Frage ab, von der sich die deutsche Führung angesprochen fühlen sollte:

"[...] Sind sich die USA und ihre Verbündeten über die langfristigen strategischen Konsequenzen im Klaren?"

Das zeigt auch die Erfahrung der letzten Jahre. Seit dem Jahr 2014 hatte Russland mittelfristig jeglichen Schaden von auferlegten Sanktionen kompensiert durch eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Partnern jenseits des Wertewestens, allen voran die Volksrepublik China.

Zurück zu der jüngsten Anhörung des Federal Reserve-Präsidenten im US-Kongress. Powell erwähnte dort etwas, das in den wenigsten Zusammenfassungen innerhalb der Berichterstattung erwähnt wurde:

"Im Laufe der Zeit stellt sich die Frage, welche Auswirkungen es auf uns haben wird, wenn sich einige vom Dollar abwenden wollen. Ich glaube nicht, dass man das im Laufe der Zeit spüren würde, und sie müssten ein wirtschaftliches Ökosystem schaffen, in dem es eine bessere Währung gibt, die sie verwenden können. Was wir tun können, ist, den Dollar zur attraktivsten Währung zu machen, indem wir ihn für die Menschen attraktiv machen, um zu investieren. Kurzfristig würde sich das nicht auswirken, aber im Laufe der Zeit würde das unseren Status als Reservewährung verringern."

Wie bereits Fowdy in seinem Tweet kalkuliert, sind 2,7 Milliarden Menschen – darunter 146 Millionen Russen –, die auf den US-Dollar verzichten könnten und sich einem anderen System, einer anderen Reservewährung anvertrauen, mehr als nur "einige".

Selbstverständlich musste sich Powell vorsichtig ausdrücken, um die Investoren und Gläubiger weltweit nicht zu verwirren oder zu verunsichern. Aber besonders für den Mann, der die Leitposition innerhalb der einflussreichsten Zentralbank der Welt innehat, deuten diese Art Zugeständnisse auf große tektonische Verschiebungen hin, nicht nur in der wirtschaftlichen Weltordnung. Die Struktur der hegemonialen Macht auf der Welt an sich wird, teilweise sehr erbarmungslos – besonders für den Westen – vonstattengehen.  Der Beginn der bisherigen Ordnung, unter US-amerikanischer Verwaltung und Kontrolle, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (siehe Bretton Woods-Konferenz aus dem Jahr 1944), zu verorten.

Was ist SWIFT?

SWIFT ist ein System der Übermittlung archivierter, verifizierter Nachrichten zwischen Banken. Diese geben praktisch Auskunft darüber, was genau mit dem Geld auf all den Konten innerhalb der SWIFT-Struktur geschah, geschieht und geschehen soll.

Eine große politische Frage war, ob Russland vom System SWIFT abgetrennt werden solle, oder nicht? Letztlich einigte man sich, dass es geschehen solle. Seit dem Jahr 2001 hat Washington Lesezugriff und somit Einsicht in alle Transaktionen, alle Benachrichtigungen, die über SWIFT weltweit getätigt werden. Allen anderen SWIFT-Teilnehmern bleibt dieser Zugang verwehrt. Würde man Russland aus diesem finanziellen Kommunikationssystem ausschließen, würde auch die exklusive Einsicht der US-Behörden enden.

Russland und sogar noch vollendeter, China, haben alternative Kommunikationssysteme geschaffen, die die Nutzung von SWIFT sogar obsolet für sie machen könnten. Peking entwickelte CIPS ("Cross-Border Inter-Bank Payments System"), wohingegen Moskau SPFS (zu Deutsch: "System zur Übermittlung von Finanzmitteilungen") betreibt und weiterentwickelt. Die Arbeit an einer Integration beider Systeme ist bereits im vollen Gange. Das russische SPFS wird bisher nur im Inland benutzt. Am chinesischen CIPS-System dagegen nehmen bereits über 1280 Banken in 103 Ländern weltweit teil, darunter auch seit Mitte Februar die britische Standard Chartered Bank. Allein letztes Jahr wurden 12,68 Billionen US-Dollar über das CIPS-System bearbeitet.

Es ist essenziell den selektiven Opportunismus von Berlin, London, Brüssel zu verstehen. Nicht alle russische Banken wurden mit der SWIFT-Verbannung getadelt. Die Gazprombank, zum Beispiel, wurde verschont, sonst hätte der Wertewesten das russische Erdgas nicht mehr bezahlen können.

Was sind diese "negativen Auswirkungen" konkret? Flugzeuge im Limbo

Es bedarf konkreter Beispiele, um die beispiellose Selbstverstümmelung der EU-Wirtschaft zu veranschaulichen. Die Europäische Union hat im Rahmen des Sanktionspakets gegen Russland die Leasing-Firmen, die den Russen ihre Airbus-Flugzeuge bereitstellt, aufgefordert, alle Flugmaschinen bis zum 28. März 2022 aus der Russischen Föderation hinauszuschaffen. Die Rede ist von insgesamt 520 Flugzeugen. Der Präsident einer dieser Firmen (IBA Aviation) – mit Sitz in Großbritannien – Phil Seymour, hat der New York Times gegenüber das Dilemma folgendermaßen lamentiert:

"Wir sprechen hier von Hunderten von Flugzeugen, die ausgeflogen werden müssen. Wo in der Welt können sie [die Flugzeuge] hingehen? Werden sie [die russische Führung] mitspielen? Wird es einen Erlass von oben geben, der ihnen die Zusammenarbeit untersagt?"

Da es sich um Vertragsabbrüche seitens der Leasing-Firmen handelt, ist Russland nicht verpflichtet sich selbst um die Rückführung der Flugzeuge zu kümmern.

Selbst wenn dieser verschwenderische Logistik-Akt angegangen werden könnte, müssten die entsandten, westlichen Firmenmitarbeiter spätestens vor Ort in Russland realisieren, dass der gesperrte russische, ukrainische sowie weißrussische Luftraum jegliche weiteren Schritte unmöglich macht. Russland wäre bereit, die Leasing-Zahlung fortzusetzen, wenn diese Vertragsbrüche rückgängig gemacht würden,  jedoch wurde das SWIFT-System vorsorglich abgeschnitten.

Der EU-verschuldete Werteverlust bei diesen westlichen Firmen ist enorm. Bei der vermeintlich hier gründlich durchdachten Sanktionsstrategie gegen Russland, beläuft er sich derzeit auf circa 12 Milliarden US-Dollar. Wohlgemerkt, die US-Amerikaner liefern weiter ihre Boeing-Maschinen nach Russland und können nach dem erfolgreichen Abwürgen ihrer europäischen Konkurrenten bei Airbus davon ausgehen, die absoluten Marktführer zu werden.

Weitere, konkrete "negative Auswirkungen": Fehlender Dünger für das Agrarwesen

Wie der Experte Dr. Olaf Zinke in einem Fachartikel auf agrarheute.com analysiert, stellen Russland und Weißrussland gemeinsam 40 Prozent des globalen Kalidünger-Handels dar. Die größten Absatzmärkte für diesen Anteil sind Brasilien — und das ist wichtig — die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika.

Wieder ist also der Hauptleidtragende der sanktionierende Westen. Nicht etwa Brasilien, da Präsident Bolsonaro sich unmissverständlich wider eine Sanktionsbeteiligung seines Landes gegen Moskau ausgesprochen hat. Anschließend zitiert Dr. Olaf Zinke einen Marktanalysten aus der chinesischen Global Times

''Es gibt eine starke Korrelation zwischen dem heimischen Preis für Kali-Düngemittel und dem internationalen Markt, angesichts der Tatsache, dass etwa 50 Prozent von Chinas Kalibedarf importiert werden muss.''

Sieben Millionen Tonnen Kali-Düngemittel werden pro Jahr von China importiert. Im Vorjahr sollen die Chinesen ungefähr 2,25 Millionen Tonnen russischen Dünger gekauft haben: Hierbei handelt es sich um 30 Prozent des Gesamtdüngers, der nach China importiert wurde. Würde der Westen also tatsächlich seine Sanktionen gegenüber Russland längerfristig aufrechterhalten wollen, müsste mit einem deutlichen Volumenanstieg des Düngerhandels zwischen China und Russland zu rechnen sein.

Unaufhaltsame Kraft und unbewegliches Objekt

Abschließend reicht die Gegenüberstellung von konkreten ökonomischen Zahlen, um zu sehen, wohin die weltwirtschaftliche Entwicklung geht. Da sind die Sanktionen gegen Russland tatsächlich nur einer von mehreren Katalysatoren.

Für das Jahr 2020 belief sich das Handelsvolumen zwischen Russland und der EU auf 192,4 Milliarden US-Dollar. Zwischen den USA und Russland waren es 23,8 Milliarden US-Dollar. Beide Volumen zeigen seit dem eine grundsätzliche Tendenz nach unten auf. Trotzdem gilt: Bei einer permanenten Abschaltung des SWIFT-Systems würde die EU verhältnismäßig den achtfachen, wirtschaftlichen Schaden hinnehmen müssen im Vergleich zu den USA.

Anfang November 2021 lag die Rendite 10-jähriger chinesischer Staatsanleihen bei 2,94 Prozent, wobei Chinas jährliche Inflationsrate im Januar 2022 0,9 Prozent betrug. Während für denselben Zeitpunkt die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen bei 1,56 Prozent lag und die US-Inflationsrate hochschoss auf 7,5 Prozent. Die Diskrepanz bei den beiden Konkurrenten ist verheerend und China schneidet in diesem Vergleich haushoch positiv ab.

Zum Vergleich: Die Inflationsrate der Deutschen erreichte im Februar 2022 5,1 Prozent (die gesamte Eurozone: 5,8 Prozent). Russland musste dagegen Anfang 2022 sogar eine Inflationsrate von 8,73 Prozent hinnehmen.

Wird demnach Russland und seine Währung, der Rubel, mittelfristig Erschütterungen aufgrund der Sanktionen erfahren? Sicherlich, aber das werden eher Wehen sein, die zu der Geburt einer neuen, eurasischen Wirtschaftsordnung führen werden, abseits des US-Dollar-Systems, angeführt von China.

Wenn aber deutsche Volksvertreter betreffend der Russland-Sanktionen lediglich von ''negativen'' Nebenwirkungen für Deutschland sprechen, wäre es viel ehrlicher, stattdessen von ''katastrophalen'' Konsequenzen zu reden, die der eigenen Bevölkerung absehbar lange noch verschwiegen werden. Nichts weniger, als der rabiate Kollaps des US-Dollar-Systems steht bevor, und dieser wird die Eurozone mit in die Schlucht ziehen.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Mehr zum Thema - Die EU ist als friedenspolitisches Projekt gescheitert